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Soll und muss ein Autor in seinem Genre lesen?

Begonnen von Moni, 05. September 2008, 14:10:11

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Sooky

Hm... interessantes Thema...

Also zum Spass kann natürlich jeder das schreiben was er/sie will.
Jedoch habe ich das Gefühl, man könne eigentlich gar nicht etwas schreiben, ohne etwas ähnliches gelesen zu haben. Es gibt Leute, die ihr Leben lang nur die Bücher lesen, die sie in der Schule lesen müssen (und manchmal nicht einmal die). Glaubt ihr, die können auch nur eine kurze Geschichte über ihren Alltag schreiben? Vielleicht, aber wenn, dann sicher nichts, das es wert ist, es zu veröffentlichen.
Aber das ist wohl zu generell gesagt, denn jeder, der seriös mit dem Schreiben anfängt, hat sicher viel (oder zumindest annähernd viel) gelesen. Ob das das Genre ist, in dem er/sie auch schreibt ist für mich jedoch nicht unwichtig. Denn, selbst wenn man Klappentexte gelesen hat... ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass das, was man im Klappentext sieht, nur selten wirklich so verstanden wird wie in der Geschichte. Das für mich ausschlaggebendste Beispiel ist Terry Pratchett: Ich habe mir die Bücher ganz anders vorgestellt. Ich war gar nicht so begeistert, jedoch habe ich aus Probe mal ein Buch gekauft - ich habe am Ende den Kopf über den Klappentext geschüttelt, so ein falsches Bild hat er mir gebracht. (das Buch ist noch einer meiner Lieblingsbücher)
Andererseits muss ich zugeben, dass ich früher immer genau über sowas geschrieben habe, worüber ich mir nie ein Buch kaufen würde. Man findet besonders in den Anfängen der Schreibkarriere die Sachen, die man selber geschrieben hat, viel interessanter, weil man selbst sein Herzblut drin hat und es nicht "einfach welche Charaktere aus fremden Köpfen" sind.
Ich denke, dass man auch ein wenig nötig hat, zuerst abzukupfern. Ich zeichne auch leidenschaftlich und ich glaube, ein wenig kann man es so vergleichen: Ich habe seit Kindheit gerne mit Buntstiften gezeichnet. Im Internet habe ich immer wieder Bilder mit Computergrafik oder Copics gesehen, was mich nicht sehr motiviert hat. Dann sah ich die ersten wirklich guten Buntstiftcolorationen. Da habe ich angefangen, wirklich fast identisch wie diese Zeichnerin zu zeichnen. Ihre aktuellen Bilder haben immer meine beeinflusst. Und daraus habe ich dann meinen eigenen Stil gemeisselt.
Beim Schreiben war es ähnlich - ich habe früher fast nur gelesen und die Werke, die ich gelesen habe, haben immer meinen Schreibstil beeinflusst. Erst dadurch habe ich meinen eigenen Stil entwickeln können.

Ansonsten bin ich gleicher Meinung wie Falckensteyn: Lesen ist einfach inspirierend und man kann dabei nur gewinnen, selbst von schlechten (im eigenen Auge, verständlicherweise ;) )Werken.

Wobei man nicht behaupten kann, dass jeder, der Wöchentlich ein Buch verschlingt, auch gut schreiben kann. ;)

felis

Was mich ein wenig traurig stimmt, ist dass das hier so rüber kommt, als wäre (Fantasy) lesen eine öde Pflicht.
Ich lese immer noch, weils mir Spaß macht.  ;)
@Taroleas, deine Auswahl an "Fantasy" war valles andere als repräsentativ. Wie willst du sagen ,du hat keinen Spaß dran, wenn du weite Bereiche des Genres gar nicht kennst?

Nebenbei bemerkt - Die Klassiker unseres Genres sind nicht Tolkien und Co sondern:
-Das Gilgamessch-Epos
-Illias und Odyssee
-Das Niebelungenlied
-Die Artussage
;D









Tanrien

Ich selbst lese recht viel Fantasy. Allerdings lese ich es, weil es mir Spaß macht, ich es gerne tue, und nicht, weil ich Fantasy (auch) schreibe. Ich denke, man sollte nicht aus Prinzip sein Genre nicht lesen. Wenn es einem aber keinen Spaß macht, dann sehe ich nicht, wie es wirklich sinnvoll sein soll, sich durch gewisse Bücher, auch, wenn sie Fantasy-Kanon sind, nur wegen ihres Genres zu quälen und dadurch nachher vielleicht eine Abneigung gegen das Genre zu entwickeln. Das erscheint mit eher kontraproduktiv.

Die angeführen möglichen Probleme, die bei einem auftreten könnten, sind sicherlich am einfachsten zu lösen, indem man sein Genre liest. Aber wie schon mehrmals erwähnt, gibt's ja auch Fantasy-Sekundärliteratur, andere Genre, etc. Das ist anstrengender, aber sicher auch eine Lösung.

Lavendel

Zitat von: Tanrien am 06. September 2008, 23:21:33
Aber wie schon mehrmals erwähnt, gibt's ja auch Fantasy-Sekundärliteratur, andere Genre, etc. Das ist anstrengender, aber sicher auch eine Lösung.

Ich glaube, dass Sekundärliteratur den Horizont sehr erweitern kann, aber sich ausschließlich darauf zu verlassen, dass andere Leute ein Genre schon richtig überblickt, analysiert und bewertet haben werden, ist mehr oder weniger ein Trugschluss. Verständnis für ein Genre und seine 'Mechanismen' kann man nur entwickeln, wenn man auch weiß, wie das Ganze in der Praxis aussieht. Und das eigene Urteil ist einiges Wert.

Schriftsteller kommen nicht zum Roman, wie Jungfrau zum Kinde. Die hübsche Petra wird keinen Heiland gebären, nur weil sie nicht aufgeklärt wurde und so nicht weiß, was sie getan hat, als sie dieses seltsame Erlebnis mit Klaus hatte.
Blödes Beispiel, ich weiß.

Sicher kann man Fantasy schreiben, ohne je Fantasy gelesen zu haben, aber wie kommt man dazu ein Genre zu schreiben, das man selbst nicht lesen möchte? Würde das nicht heißen, die eigenen Geschichten nicht lesen zu wollen?

Aidan

#49
Nun, ich habe es mir nicht ausgesucht, dass mich ein Vampir überfiel. Seine Geschichte war plötzlich einfach in meinem Kopf. Ich war gerade dabei zu wischen und habe sicher nicht sehr geistreich geguckt, als ich die klassische Vampir-beißt-Mädchen-Szene vor Augen hatte. Ging ziemlich heftig ab bei den Beiden. Ich weiß nicht wieso gerade ich diese Idee hatte. Und ich bekomme Nick nicht mehr los und ich will ihn schreiben, weil ich glaube, dass er gut werden kann.

Wobei ich den Eindruck habe, dass Nick eher eine Symbolfigur ist. Und es ist sicher sehr viel Gesellschaftskritik in ihm.

Vielleicht gibt es Vampirgeschichten, die ich mögen würde, aber was ich bisher davon mitbekommen habe, hat mich davon abgehalten auch nur eine in die Hand zu nehmen. Ich würde also meine eigene Geschichte nicht gelesen haben, wenn sie mir im Bücherregal begegnet wäre. Nun werde ich Vampirgeschichten lesen (müssen). Vielleicht komme ich ja doch noch auf den Geschmack.

Hm, ich weiß nicht. Wie kommt ihr denn zu euren Geschichten? Bei mir sind sie einfach da. Meist träume ich sie und wache mit ihnen auf. Ich suche sie nicht, sie kommen zu mir. Von daher - klar, es ist nur die Idee und nicht der Roman, aber ich habe mir nicht ausgesucht, dass die Hälfte meiner Ideen Fantasy sind. Ich freue mich drüber, ich lese es gerne, aber ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden. Genauso wenig zu einer der anderen Geschichte, die ich gerne schreiben möchte.

Oder wie sagte Nick, als ich mich weigern wollte, mich mit ihm zu beschäftigen: "Ich habe dich ausgesucht und bin zu dir gekommen, weil ich weiß, dass du meine Geschichte schreiben kannst. Heul nicht rum und wehre dich, sondern sieh es als eine Ehre und Herausforderung, die du zu bewältigen hast. Und ich werde dich immer wieder an mich erinnern, bis wir fertig sind." Blödmann. (Sorry, musste gerade mal gesagt werden.)
"Wenn du fliegen willst reicht es nicht, die Flügel auszubreiten. Du musst auch die Ketten lösen, die dich am Boden halten!"

,,NEVER loose your song! Play it. Sing it. But never stop it, because someone else is listening."

Julia

#50
Zitat von: Winterkind am 07. September 2008, 00:25:06
Nun, ich habe es mir nicht ausgesucht, dass mich ein Vampir überfiel. Seine Geschichte war plötzlich einfach in meinem Kopf. Ich war gerade dabei zu wischen und habe sicher nicht sehr geistreich geguckt, als ich die klassische Vampir-beißt-Mädchen-Szene vor Augen hatte. Ging ziemlich heftig ab bei den Beiden. Ich weiß nicht wieso gerade ich diese Idee hatte. Und ich bekomme Nick nicht mehr los und ich will ihn schreiben, weil ich glaube, dass er gut werden kann.

So ähnlich ging es mir bei meinem Roman, mit dem Unterschied, das Eo wohl nicht beißen, sondern eher treten würde  ;D.
Eigentlich war ich damals gerade dabei, meinen Historischen Roman-Ökokrimi-Watership Down-Verschnitt endlich mal zu einem Ende zu bringen (jaja, auch so ein Crossover-Teil  ::)) - statt dessen hatte ich plötzlich etwas ganz anderes vor Augen ... und zwar ausgerechnet die Story für ein Jugendbuch (von dem ich übrigens immer noch nicht genau weiß, in welches Genre es gehört. Ökothriller trifft es vermutlich am Besten (danke nochmals für den Tipp, Wölfin!)).

Na ja, wo die Inspiration hinfällt ... ;)

Kerimaya

Zitat von: Die Wölfin am 06. September 2008, 12:16:22
Was jetzt nur am Rand mit dem Thema zu tun hat, mich aber immer wieder wundert, ist die Ansicht, es gäbe nur Mainstream und Massenbrei.
Ehrlich gesagt bin ich immer wieder verblüfft, welche Innovationen die letzten Jahre in die Fantasy geschwemmt haben! Vielleicht fällt das in der winzigen Buchhandlung hier am Ort besonders auf, weil Fantasy und Jugendfantasy Seite an Seite stehen, aber auch wenn ich für die Bücherei bestelle, freue ich mich, was ich für die Leser ins Regal stellen kann.

Da mischt sich Historik aller Epochen mit Fantasy (Ju Honisch, Naomi Novik, im Herbst dann Drachenklingen), da spielen Piraten mit (Hardebusch), gibt es Steampunk, SF, Horror, Urban Fantasy ... kaum ein Crossover, an das sich die Verlage derzeit nicht wagen. Selbst die Vampire waren letztes Jahr noch neu und sind erst seit diesem Jahr "langweilig-romantischer Mainstream", habe ich das Gefühl.
Und gerade deshalb ist es wichtig, den Markt zu kennen, queerbeet durch Fantasy und andere Genres zu lesen, zu sehen, welche Muster es bereits gibt und welche gut ankommen. Warum nicht ein gut laufendes Muster nehmen und eine neue Idee aufsetzen? Machen Viele. Statt romantischer Vampire kommen dann die Werwölfe, Feen, Faune, Dschinnen ...


Machen sie schon. Auf der Feencon hat Natalja Schmidt von der Agentur Schmidt und Abrahams das Thema Urban Fantasy angesprochen und meinte, dass der Trend schon langsam wieder einen Schritt nach unten machen würde.

Taske

#52
Guten Morgen,

Zitat von: Lomax am 06. September 2008, 17:46:52
Zu den Begrifflichkeiten: Als Fortentwicklung der Sprache würde ich eher Veränderungen vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen und ähnliches bezeichnen - also den diachronen Wandel auf verschiedenen linguistischen Ebenen ...,

*wischtsichdietraktorölverschmiertenhändeanseinemkariertenflannelhemdab*

Äh ... ja, genau!:o)

Zitat von: Lomax am 06. September 2008, 17:46:52Was diese Fortentwicklung betrifft, bin ich dann eindeutig Evolutionist. Tatsächlich gibt es eine Enwicklungslinie von der Ilias über die Göttliche Komödie und Goethe bis zur modernen Literatur. Die bisherigen literarischen Werke bestimmen den Ist-Zustand des "literarischen Organismus", die jeweilige Zeit, in der Literatur stattfindet, bestimmen die Selektionsfaktoren, die auf diesen Organismus einwirken - und aus beidem zusammen entwickeln sich jeweils die nächsten, aktuellen Formen, die Literatur annimmt.
  Ob Faust ohne die Ilias denkbar wäre ... das ist schwer zu sagen. Denn nicht in jedem konkreten Werk müssen grundsätzlich alle konkreten Vorgänger ihren "genetischen" Niederschlag gefunden haben.
  Aber prinzipiell ist das genau die Art, wie Literatur sich entwickelt: Über viele Zwischenschritte und wechselseitige Beeinflussung zum aktuellen Stand. Von der Ilias über Goethe bis heute. Die Zweige am Stammbaum laufen auseinander und vereinen sich wieder, aber sie sind doch verwachsen und nicht nur ein großes Beet mit vielen Blumen, die je nach Lust und Laune und aktuellem Wetter aus toter Erde sprießen. Kein Faust ohne seine Vorgänger, keine Göttliche Komödie ohne deren Vorgänger - wie auch immer die Entwicklungslinien für die Einzelwerke konkret aussehen mögen.

Das klingt wirklich sehr fundiert. Bist Du Germanist?

Dennoch denke ich, dass das was Du schreibst so nicht ganz richtig ist. Natürlich lassen sich für die von Dir formulierte "Evolutionstheorie" zahlreiche "Beispiele" finden. Mit ein bisschen gutem Willen lässt sich so auch (die im übrigen sehr talentierte) Charlotte Roche zu einer legitimen Erbin von Ernst Jünger machen.

Und doch gibt es immer wieder Autoren und Werke, bei denen es schwerfällt auf "Vorläufer" zu verweisen. Von wem wurde ein Franz Kafka "inspiriert", von wem ein Georg Trakl? Von Tieck, von Eichendorff von Droste-Hülshoff? Wohl eher nicht, oder?

Was ich damit sagen will: Meiner Meinung nach kann ein "großes" (was immer man darunter verstehen mag) literarisches Werk selbst dann geschrieben werden, ohne dass der betreffende Autor davor auch nur EIN EINZIGES
Buch gelesen hat.

Viele Grüße

Taske

Lavendel

#53
Zitat von: Taske am 07. September 2008, 07:08:11
Was ich damit sagen will: Meiner Meinung nach kann ein "großes" (was immer man darunter verstehen mag) literarisches Werk selbst dann geschrieben werden, ohne dass der betreffende Autor davor auch nur EIN EINZIGES
Buch gelesen hat.

Hm, ach ja? Das musst du mir erstmal beweisen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kafka einige Bücher gelesen hat. Auch wenn das vielleicht deine Illusion zerstört, Kafka war wie jeder andere Mensch Einflüssen ausgesetzt, die ihn geprägt haben - auch literarischen. Wenn man eine expressionistische Geschichte in einer naturwissenschaftlich oder juristisch kühlen Sprache schreibt, dann setzt sich der Autor zu Beginn des 20. Jahhunderts durch seine Sprache in Kombination mit seinen Thematiken von den übrigen Expressionisten ab und schreibt etwas eigenes, das trotzdem nie ganz losgelöst von seiner literarischen Umwelt gesehen werden kann.

Ein absolut genuines literarisches Werk zu schaffen ist nicht möglich, will heißen, hätte Tolkien 200 Jahre früher gelebt, hätte der Herr der Ringe so nie geschrieben werden können - nicht nur wegen sozialer Gegebenheiten, sondern auch aufgrund noch nicht gegebener literarischer Entwicklungen. Autoren  stehen in Beziehung zu der Welt, in der sie leben und lesen, und niemand kann sich davon lossagen.

Ich denke, dass es wohl möglich sein sollte, ein gutes Buch in einem Genre zu schreiben, das man nicht ausgiebig liest. Hauptsache, man liest überhaut - aber tatsächlich ist es nicht verkehrt, sich mit einem Genre zu beschäftigen, das man schreiben will, dann fällt es auch gleich leichter, sich selbst und sein Schaffen einzuschätzen und einzuordnen.

Taske

#54
Hallo Lavendel,

Zitat von: Lavendel am 07. September 2008, 09:25:25
Hm, ach ja? Das musst du mir erstmal beweisen.

Das kann ich nicht. Ebensowenig wie Du das Gegenteil beweisen kannst.

Zitat von: Lavendel am 07. September 2008, 09:25:25Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kafka einige Bücher gelesen hat. Auch wenn das vielleicht deine Illusion zerstört, Kafka war wie jeder andere Mensch Einflüssen ausgesetzt, die ihn geprägt haben - auch literarischen. Wenn man eine expressionistische Geschichte in einer naturwissenschaftlich oder juristisch kühlen Sprache schreibt, dann setzt sich der Autor zu Beginn des 20. Jahhunderts durch seine Sprache in Kombination mit seinen Thematiken von den übrigen Expressionisten ab und schreibt etwas eigenes, das trotzdem nie ganz losgelöst von seiner literarischen Umwelt gesehen werden kann.

Hier liegt ein Mißverständnis vor. Natürlich hat Kafka Bücher gelesen. Um das in seinem Kopf kreisende Universum zu Papier zu bringen, hätte er das aber m.E. nicht zwingend tun müssen.
Nur weil man ihn (und im Übrigen auch Trakl) in die Schublade der "Expressionisten" steckt, heißt das nicht, dass er damit von einer bestimmten "Schule" abhängig war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kafka sich nie hingesetzt und zu sich gesagt hat: "So, ich schreib jetzt mal was expressionistisches".

Zitat von: Lavendel am 07. September 2008, 09:25:25Ein absolut genuines literarisches Werk zu schaffen ist nicht möglich ...

Es muss möglich sein, weil ... sonst das allerallererste Werk schließlich nie geschrieben worden wäre. ;)

Viele Grüße

Taske

Lavendel

Zitat von: Taske am 07. September 2008, 10:29:24


Es muss möglich sein, weil ... sonst das allerallererste Werk schließlich nie geschrieben worden wäre. ;)


An für sich ist der Gedanke natürlich nachvollziehbar. Irgendjemand muss ja die ganze Sache gestartet haben. Aber die ersten schriftlich festgehaltenen Geschichten sind Niederschriften von zuvor mündlich weitergegebenen Sagen und Mythen aus einer Zeit vor der Schrift. Es ist unmöglich irgendwo einen klaren Anfang zu definieren. Man kann höchstens Vermutungen darüber anstellen, wann Menschen begannen, Geschichten zu erzählen. Es gibt nicht eine erste Person, die plötzlich auf die Idee kam eine Geschichte zu schreiben, ohne dass sie vorher mit vielen Geschichten in Kontakt gekommen wäre. Irgendwann fingen die Leute an, Bilder an Höhlenwände zu malen, und ganz langsam, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, wurden aus Bildern Symbole für Worte und für einzelne Laute. Und irgenwann fingen Menschen an, das unvergänglich zu machen, was vorher vergänglich war. Diese Geschichten sind nicht einfach so ausgedacht, sie kommen irgendwo her. Aus einer langen Tradition und aus einer bestimmten Kultur, für die sie besondere Bedeutung hatten.

Zitat von: Taske am 07. September 2008, 10:29:24

Natürlich hat Kafka Bücher gelesen. Um das in seinem Kopf kreisende Universum zu Papier zu bringen, hätte er das aber m.E. nicht zwingend tun müssen.
Nur weil man ihn (und im Übrigen auch Trakl) in die Schublade der "Expressionisten" steckt, heißt das nicht, dass er damit von einer bestimmten "Schule" abhängig war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kafka sich nie hingesetzt und zu sich gesagt hat: "So, ich schreib jetzt mal was expressionistisches".
Es ist sehr gut möglich, dass er das nie getan hat. Der Punkt ist aber nicht, in welche Schublade man Künstler 100 Jahre nach ihrer Schaffensphase steckt. Jeder Mensch wird von der Gesellschaft und der Kultur, in der er lebt beeinflusst. Beispielsweise spielt in vielen von Kafkas Werken die Beklemmung angesichts einer undurchsichtigen Macht, die das Leben eines Individuums bestimmt, eine große Rolle. Man könnte sagen, dass diese Beklemmung oder Angst charakteristisch ist für die Moderne, da durch zunehmende Urbanisierung und Bürokratisierung das Gefühl entstand, ein einzelner Mensch sei sozusagen nichts weiter, als ein winziges Rädchen in der großen Maschine, einem System, dem er hilflos ausgeliefert war, das Gefühl, einfach ein gesichtsloser Teil einer Masse zu werden, die sich in den großen Städten drängte. Dieser Topos zieht sich nicht nur durch Literatur und Kunst, sondern auch durch andere Teile des gesellschaftlichen Lebens. Auch Kafka nahm diesen Zusammenhang sicherlich wahr, wenn vielleicht auch unbewusst, so wie die meisten Leute, aber so fließt ein zeitgenössisches Thema in seine Literatur ein. Geschichten entstehen nicht aus Luft und Einsamkeit, sondern aus den Dingen, die uns beschäftigen und die uns wichtig sind. Was uns wichtig ist, hängt auch davon ab wo, wie und wann wir leben.

Man kann neue Wege einschlagen, aber niemand wird von einem Geistesblitz durchfahren, der ihn oder sie mit etwas völlig neuem auf die Bühne der Weltgeschichte treten lässt. Wie in der Evolution (wo wir den Begriff doch schon mal hatten ;)) treten neue Arten eben nicht plötzlich mit einem 'Plopp' auf. Sieh es mal so, wenn jemand mit Walter Scotts Ivanhoe unter dem Arm ins zwölfte Jahrhundert spazierte und den Roman einem der großen Literaten der Zeit in die Hand drücken würde - gesetzt den Fall, man hätte Ivanhoe vorher so übersetzt, dass der große Literat in der Lage wäre, den Text zu lesen - der gute Mann wüsste mit großer Wahrscheinlichkeit nichts mit dem Roman anzufangen, weil ihm allein die Form der Erzählung vollkommen fremd wäre. Würde jemand also etwas völlig Neues  erschaffen(wobei völlig neu auf das Beispiel ja nicht einmal ganz zutrifft, denn immerhin gab es auch im 12. Jahrhundert schon Bücher und Geschichten), gesetzt den Fall, das wäre möglich, dann hätte der Rest der Welt vermutlich erstmal rein gar nichts davon. Sicher, viele große Ideen wurden anfangs verlacht. Aber auch wenn die großen Ideen von einer/m Vorreiterin einer bestimmten Zeit kommen, sie erschienen der betreffenden Person nicht völlig aus dem Nichts.

Jede Idee hat ihre Geschichte, auch wenn man diese Geschichte nicht kennt. Auch unsere eigenen Ideen kommen uns nicht einfach so, obwohl es uns vielleicht manchmal so vorkommt. Unbewusst ist ein sehr tiefer Tümpel, und das Gehirn ist eine wahre Wundermaschine - wenn man es denn als Maschine bezeichnen kann.

Es geht jetzt ein bisschen vom Thema weg, das gebe ich zu, und ich habe irgendwie das Gefühl, wir haben eine ähnliche Diskussion schon mal geführt ...

Julia

#56
Ich glaube, so langsam verschwimmt die Grenze zwischen "Roman" und "Sachbuch" ...

Wenn man "nur" ein Sachbuch schreiben möchte (in dem es um die Weitergabe von harten Fakten geht), muss man sicherlich nicht alle (oder auch nur die meisten) Sachbücher zu diesem Thema gelesen haben (obwohl es auch hier sicherlich von Vorteil sein kann). Hauptsache, der Autor besitzt ein fundiertes Wissen und bringt es zu Papier. Oder, wie mein Mann immer sagt: "Die Sprache ist mir egal, ich will nur den Inhalt".
Natürlich können auch Sachbücher künstlerisch wertvoll, didaktisch ausgefeilt, oder was auch immer sein - zwingend notwendig ist es für den Transport von Informationen aber nicht.

Sobald man aber als Autor in den Bereich "Roman" einsteigt, kommt zusätzlich eine künstlerische Komponente hinzu, während die reine Information (mehr oder weniger) in den Hintergrund tritt. Diese künstlerische Komponente  setzt aber voraus, dass der Autor die Grundlagen seines Handwerks gelernt hat. Er muss wissen, wie man seine Leser anspricht, wie man sie mit der Geschichte fesselt - sonst wäre der Text halt nur eine langweilige Ansammlung unterschiedlicher Szenen.
Beim Schreiben ist es ähnlich wie bei Reden: Jeder von uns kann erzählen, was er gestern gemacht hat, aber bei den wenigsten hört es sich auch "richtig" spannend an (oder lustig, traurig ...). Und bei den ganz großen Rhetoriker kommt dann neben der "Redekunst" auch noch eine enorme Portion Charisma hinzu (bei den Büchern wäre es dann vermutlich dieses je-ne-sais-quoi, dass aus einem guten Buch ein herausragendes macht).

Aber egal, was für einen Roman man nun schreibt (ob nun einen herausragenden oder "nur" einen guten  ;)) - man muss wissen, wie die Schriftsprache "funktioniert", schon allein deshalb, weil beim Schreiben verschiedene Ausdrucksweisen fehlen, die beim Sprechen das "einander verstehen" erleichtern: Gestik, Mimik, Körpersprache, Tonfall, Satzmelodien, Sprechpausen ...
Wenn man dann auch noch in einem bestimmten Genre schreiben will, muss man zusätzlich wissen, wie dieses Genre "funktioniert", und was es kennzeichnet. Dafür (oder dagegen?  ;D ) hilft nur halt nur lesen.
Natürlich kann man sich jedem Thema auch ganz intuitiv nähern - nur leider haben die meisten Leser keine intuitive, sondern eine ganz klar umgrenzte Erwartungshaltung, was sie lesen möchten.

Von daher ist man als Autor eben wieder bei der Frage: für wen schreibe ich eigentlich?

Liebe Grüße,

Julia

P.S.: Ein absolut "genuines" literarisches Werk zu schreiben, halte ich ebenfalls für nicht möglich. Es gab auch kein "erstes" literarisches Werk, sondern nur eine langsame Entwicklung in diese Richtung (über hunderte von Jahren, wie Lavendel schon sagte).
Eín wenig ähnelt das Ganze damit der Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Evolutionsbiologisch lautet die Antwort: der Archaeopteryx. Und erst irgendwann später begann man das Tier, dass aus einem der gelegten Eier schlüpfte, eben "Huhn" zu nennen.

Lomax

#57
Zitat von: Taske am 07. September 2008, 07:08:11Und doch gibt es immer wieder Autoren und Werke, bei denen es schwerfällt auf "Vorläufer" zu verweisen. Von wem wurde ein Franz Kafka "inspiriert", von wem ein Georg Trakl?
Nein, wirklich schwer fällt es nicht. Es gibt tatsächlich literaturwissenschaftliche Aufsätze, in denen der Einfluss anderer Literaten beispielsweise auf Kafkas Werk diskutiert wird. So findet man bei Kafka explizite Anklänge an Goethe, an jüdische Schrifttraditionen, an Flaubert, Kierkegaard und viele andere. Ein Teil dieser literarischen Einflüsse muss noch nicht mal von der Literaturwissenschaft extrahiert werden, sondern wurde von Kafka selbst in Briefen genannt, und zum Teil auch explizit auf einzelne Werke bezogen. Die Textarbeit dazu sprengt ein wenig den Rahmen des Threads - aber vermutlich dürfte man den ein oder anderen Aufsatz dazu sogar im Internet finden.
  "Beweise" sind das natürlich nicht - auch Zitate anderer Autoren in Kafkas Werken oder gar seine eigenen Briefe sind streng genommen ja kein "Beweis" - denn womöglich wollte Kafka mit seinen literarischen Bezügen ja nur prahlen, ohne die Werke gelesen zu haben ;) Beweise gibt es nur innerhalb geschlossener Systeme wie der Mathematik. Anderswo muss man sich mit "Belegen" zufrieden geben; die aber schon so stark sind, dass man einiges mehr aufbieten müsste als ein "könnte", um eine Gegenposition zu unterfüttern.
Zitat von: Taske am 07. September 2008, 10:29:24Es muss möglich sein, weil ... sonst das allerallererste Werk schließlich nie geschrieben worden wäre.
Hm, nach meiner oben gewählten biologischen Analogie würde ich diese Aussage nun übersetzen als "Es muss ja möglich sein, dass ein Mensch spontan aus dem Nichts entsteht, weil ja auch die erste lebende Zelle irgendwann mal ohne Vorgänger entstanden ist" ...
Nein, ehrlich gesagt überzeugt mich der Gedankengang nicht :hmmm:

Taske

Hallo Lavendel, hallo Lomax,

Zitat von: Lavendel am 07. September 2008, 11:36:01
Es gibt nicht eine erste Person, die plötzlich auf die Idee kam eine Geschichte zu schreiben, ohne dass sie vorher mit vielen Geschichten in Kontakt gekommen wäre. Irgendwann fingen die Leute an, Bilder an Höhlenwände zu malen, und ganz langsam, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, wurden aus Bildern Symbole für Worte und für einzelne Laute. Und irgenwann fingen Menschen an, das unvergänglich zu machen, was vorher vergänglich war. Diese Geschichten sind nicht einfach so ausgedacht, sie kommen irgendwo her. Aus einer langen Tradition und aus einer bestimmten Kultur, für die sie besondere Bedeutung hatten.

Und da frage ich: Warum soll das heute nicht mehr möglich sein? Warum soll ein Mensch nicht dazu in der Lage sein allein aus seinem persönlichen Erleben heraus, aus den Eindrücken die ihn prägen ein (gutes) Buch zu schreiben?

Welche essentielle, nicht zu ersetzende Informationen liefern ihm die Bücher anderer Autoren? Informationen die ihm das "wahre Leben" nicht liefern kann, meine ich?

Versteh mich bitte nicht falsch: Ich persönlich lese viel. Daneben bin ich der Ansicht, dass es ein Gewinn für mich ist, wenn ich das Buch eines guten Autoren lese. Ich sage nur: Eine größere Leuchte als ich es bin, braucht weder "Vorbilder" noch andere Formen der "literarischen Inspiration" um ein lesenswertes Buch zu schreiben.
[/quote]

Zitat von: Lomax am 07. September 2008, 12:08:41
Nein, wirklich schwer fällt es nicht. Es gibt tatsächlich literaturwissenschaftliche Aufsätze, in denen der Einfluss anderer Literaten beispielsweise auf Kafkas Werk diskutiert wird. So findet man bei Kafka explizite Anklänge an Goethe, an jüdische Schrifttraditionen, an Flaubert, Kierkegaard und viele andere. Ein Teil dieser literarischen Einflüsse muss noch nicht mal von der Literaturwissenschaft extrahiert werden, sondern wurde von Kafka selbst in Briefen genannt, und zum Teil auch explizit auf einzelne Werke bezogen.

*lach* Da hast Du mich zugegebenermaßen kalt erwischt. Offen gestanden kenne ich nur Kafkas Bücher (Ausnahme: Amerika) und bin mit dem Menschen Kafka nur sehr oberflächlich vertraut.
Natürlich vertraue ich den von Dir hier angegebenen Informationen und wenn Du sagst, dass Kafka selbst auf "Vorbilder" verwiesen hat, dann hat das sicher seine Richtigkeit.

Nur: Meiner Meinung nach hätte Kafka diese Vorbilder nicht notwendigerweise gebraucht. Vielleicht ist das, was ich sagen wollte durch meine Antwort auf Lavendel ein bisschen deutlicher geworden.

Zitat von: Lomax am 07. September 2008, 12:08:41Hm, nach meiner oben gewählten biologischen Analogie würde ich diese Aussage nun übersetzen als "Es muss ja möglich sein, dass ein Mensch spontan aus dem Nichts entsteht, weil ja auch die erste lebende Zelle irgendwann mal ohne Vorgänger entstanden ist" ...
Nein, ehrlich gesagt überzeugt mich der Gedankengang nicht :hmmm:

Der war auch durchaus scherzhaft gemeint. :)

Viele Grüße

Taske

Lavendel

Zitat von: Taske am 07. September 2008, 15:45:18
Und da frage ich: Warum soll das heute nicht mehr möglich sein? Warum soll ein Mensch nicht dazu in der Lage sein allein aus seinem persönlichen Erleben heraus, aus den Eindrücken die ihn prägen ein (gutes) Buch zu schreiben?
Schreiben muss man lernen. Erzählen will gekonnt sein. So talentiert jemand auch sein mag, das Sprichwort 'Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen' trifft hier durchaus zu.

Zitat von: Taske am 07. September 2008, 15:45:18
Welche essentielle, nicht zu ersetzende Informationen liefern ihm die Bücher anderer Autoren? Informationen die ihm das "wahre Leben" nicht liefern kann, meine ich?
Leider ist Schreiben nicht bloß beschreiben. Ein Roman (ich setze jetzt mal voraus, dass wir über Romane sprechen) spiegelt nicht das 'wahre Leben' wider. Er ist kein Abbild der Realität, und er folgt gewissen grundlegenden Regeln, die ein Mensch nicht erlernen kann, wenn er sie nicht kennt.

Zitat von: Taske am 07. September 2008, 15:45:18
Ich sage nur: Eine größere Leuchte als ich es bin, braucht weder "Vorbilder" noch andere Formen der "literarischen Inspiration" um ein lesenswertes Buch zu schreiben.
Ich lasse das jetzt mal dahingestellt. Wir können ja jetzt ewig nein/doch schreien. Das bringt dir nichts und mir nichts. Warum ich glaube, dass das nicht möglich ist, ob die Bezugspunkte nun bewusst oder unbewusst sind, habe ich ja schon erklärt.

Zitat von: Taske am 07. September 2008, 15:45:18
Nur: Meiner Meinung nach hätte Kafka diese Vorbilder nicht notwendigerweise gebraucht.
Gebraucht für was? Um das Werk, das er geschrieben hat, so zu schreiben, wie er es getan hat? Doch, das vermutlich schon, denn hätte er die entsprechende Literatur nicht gelesen, wäre alles sicher etwas anders ausgefallen. Was passiert wäre, hätte er nichts gelesen, kann niemand sagen. Wir sind ja keine Hellseher. Wenn irgendwann mal jemand auftaucht, der sein Leben in einem von der Außenwelt abgeschlossenen Tal verbracht hat und eines Tages mit einem Manuskript in der Hand durch die Berge in die Zivilisation kommt, von der er noch nie etwas gehört oder gesehen hat, und wenn er sein Buch letztenendes gelesen und geschätzt wird, dann sprechen wir uns gerne wieder.

Solange sage ich zum eigentlichen Thema dieses Threats mal Folgendes: Es kann sehr hilfreich sein, sich beim Lesen nicht nur auf ein Genre zu beschränken, denn genau so kommt man ab und an auf sehr erfrischende Ideen.