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Wenn der Charakter intelligenter ist als man selbst...

Begonnen von heroine, 07. Juni 2014, 15:23:23

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heroine

Hallo,

ich hab gesucht, aber nichts gefunden. Ich hoffe nichts übersehen zu haben.

Intelligenz ist ja etwas, was man seinen Protagonisten, seinen Antagonisten und auch sonst gelegentlich Charakteren mitgibt. Aber wie setzt man das um? Wie beschreibt man ein gnadenloses Genie, das einen selbst in den Schatten stellt? Ich persönlich finde es furchtbar, wenn immer wieder Charaktere als wahnsinnig intelligent beschrieben/dargestellt werden und ich mir selber denke, dass er einfach nicht über die Kapazitäten des Autors hinwegkommt. Es reicht ja nicht in jeder Beschreibung dazuzuschreiben, dass er wirklich sehr intelligent ist und andere Charaktere darüber reden zu lassen wie intelligent er doch ist. Das ist ähnlich wie bei Beschreibungen von schönen Charakteren, man kann einen Charakter nicht pauschal immer als schön beschreiben, wenn die Eigenschaften dem Leser schlicht nicht schön vorkommen. Genauso ist es ja auch mit der Intelligenz.

Man kann jetzt einfach sagen, man lässt keinen Charakter klüger sein als man es selbst ist, aber wenn man von sich als durchschnittlich ausgeht, dann fehlen einem durch diese Annahme ja ein paar interessante Persönlichkeiten und Figuren. Andererseits wird es schwer sich in die Denkprozesse und Wahrnehmungen von jemandem hineinzuversetzen, der einfach sehr viel klüger ist, bzw. auch einfach nur andere intellektuelle Fähigkeiten hat. Das kann schon damit anfangen sich als Sprachuntalent in ein Sprachtalent hineinzuversetzen. Zugegeben umgekehrt einen wirklich nicht hellen Charakter zu begreifen mag auch nicht ganz so leicht sein, aber das stelle ich mir schon machbarer vor.

Dann gibt es natürlich noch die Abgrenzung zwischen Intelligenz und Bildung. Ein Charakter kann sehr gebildet sein, aber nur durchschnittlich intelligent und umgekehrt hochintelligent, aber absolut ungebildet?

Welche Stilmittel gibt es? Wie kann man sich in superintelligente Genies hineinversetzen? Braucht man solche Figuren überhaupt? Wann kommen sie zum Einsatz? Was sind die absolut ungeschickte Intelligenzumsetzungen, die einfach nicht wirken? Wann habt ihr das Gefühl, dass ein Charakter doofer ist, als der Autor es gerne hätte?

Also gut, das sind jetzt irgendwie ziemlich viele Fragen rund um das Thema Intelligenz bei fiktiven Personen, ich bin wirklich dankbar für jede Art von Input dazu.

Kadeius

Hallo heroine,

das ist natürlich mal wieder alles Ansichtssache, aber ich kann dir Eines versprechen: Auch wenn es kein Allheilmittel gibt, gibt es doch "intelligent wirkende" Charaktere; das kann sich in verschiedenen Facetten äußern. Ausgehend von einem modernen psychologischen Modell in der die Intelligenz in acht große Bereiche aufgeteilt wird (technische, sozial-empathische, körperlich-kinästhetische, musisch-künstlerische, sozial-analytische, kohärente, konsequenzrelevante (bei diesen beiden bin ich mir bzgl. des Begriffs unsicher), logisch-mathematische, planend-rationale) und dem ich am ehesten zugewandt bin, kann ich dir ein paar Tipps geben, da ich mich im Studium auch mit IQ-Ermittlung und Intelligenzforschung beschäftigt habe (es reicht für Klugscheißen mit etwas mehr als Halbwissen  :rofl:).

ZitatWelche Stilmittel gibt es?
Stilmittel oder Wortfiguren oder Tropen fallen mir keine bestimmten ein, das ist Sache des Schreibstils, aber du kannst den Charakter von anderen abheben, indem du ihn auf Dinge achten lässt, die nicht "selbstverständlich" sind. Es liegt daran, wie er seine Umgebung wahrnimmt, wie er auf Personen reagiert, was du ihn wann sagen lässt. Eine Person, die zum Beispiel analysiert und logisch schließt, was für sie im Augenblick relevant sein könnte, verwendet seine Gedanken darauf, Konsequenzen und Verhalten abzuschätzen und zu analysieren.
Du kannst die Figur auch "klugscheißen" lassen, aber dann darf es nicht allzu lächerlich wirken. Eine Figur kann belesen sein, einen Einfall haben, den sie anderen entweder mitteilt oder sie hinterher wissen lässt, dass er die ganze Zeit über bereits eine bessere Idee hatte. Ich habe selbst einen hochintelligenten Charakter und er denkt an vieles gleichzeitig, kann meist die Konsequenzen seines Handels einschätzen und er verbindet vieles miteinander, um zu neuen Schlüssen zu kommen.

ZitatWie kann man sich in superintelligente Genies hineinversetzen? Braucht man solche Figuren überhaupt? Wann kommen sie zum Einsatz?
Solche Figuren sind immer interessant, weil sie sich von anderen abheben. Es ist spannend, zu erfahren, wie er/sie dazu gekommen ist, kommt der Charakter aus einer guten Bildungsschicht, hat er sich das selbst erarbeitet, gab es besondere Umstände, die ihm die Eigenschaften eingebracht haben? Man kann sich nur schwer in superintelligente Genies hineinversetzen, aber es gibt gute Vorlagen, schau dir beispielsweise das Vorgehen und das Planen eines guten Serienkillers oder Psychopathen an. Schau dir Sherlock Holmes an, nimm dir vielleicht sogar Sheldon Cooper aus der Sitcom "The Big Bang Theory" zum Vorbild - schau auf deren Verhalten und setze dich mit ihrem Vorgehen auseinander. Vielleicht findest du Inspiration, vielleicht sogar eine Art Ebenbild eines Charakters, den du mal gern beschreiben würdest.
Sie kommen zum Einsatz, wenn es der Plot erfordert und man einen genialen Plan braucht, der für das Genie natürlich nur ein durchschnittlicher ist. Sie kommen zum Einsatz, wenn man sie mal gar nicht braucht und einfach einen schönen Gegensatz darstellen will. Sie kommen zum Einsatz, wenn es heißt, anderen ihre eigene Intelligenz zu demonstrieren und die gegnerische zu demontieren. Kurzum: Sie kommen zum Einsatz, wenn du es für richtig hältst, du brauchst nur eine Begründung, wie dieser Charakter da hineingeraten ist, das wäre schön für den Leser, denn der fragte sich sonst allzu bald, was ein so hochintelligenter Charakter in einem "unpassenden Setting" macht.

ZitatWas sind absolut ungeschickte Intelligenzumsetzungen, die einfach nicht wirken? Wann habt ihr das Gefühl, dass ein Charakter doofer ist, als der Autor es gerne hätte?

Wie oben schon angeklungen sein dürfte: Pseudo-Intelligenz beim Klugscheißen mit Halbwissen wirkt lächerlich, kann aber ein nettes Stilmittel sein. Der Charakter muss nicht immer seinen Senf dazugeben, manchmal reicht es, den Leser irgendwie wissen zu lassen: Der Charakter weiß Bescheid, behält es aber für sich, und das aus ganz diversen/persönlichen Gründen. Tolle Beispiele sind Varys, Petyr Baelish und Tyrion Lannister aus "A Song of Ice and Fire". Sie lassen andere wissen, wie es um ihren Einfluss bestellt ist und stellen ihre Künste gern zur Schau, aber eben nur so viel, wie es erfordert (Tyrion übertreibt es gern mal, aber das gehört zum Charakter). Es gibt natürlich noch andere gelungene Beispiele, aber ich möchte zu weit ausholen. Fakt ist: Weniger ist manchmal mehr, lächerlich ist, wenn du krampfhaft versuchst, jemanden intelligent wirken zu lassen und das immer und immer wieder. Das ist nicht nur langweilig und redundant, sondern es kann lächerlich wirken und anstrengen.
Hüte dich vor allem vor "Wissen". Nur weil jemand viel weiß, ist er weder weise noch intelligent. Andersherum mag es oft eine Begleiterscheinung sein, aber über Wissen jemanden als intelligent zu definieren, halte ich persönlich schlicht für daneben. Ansonsten gibt es da kaum Fehlgriffe, möchte ich meinen.
Ein Charakter ist doof, wenn er sich entsprechend verhält. Er versteht Anspielungen nicht, Witze auf seine / andere Kosten, fragt sich oft offensichtliche Dinge - kurz: er sieht, aber nimmt nicht wahr. Hüte dich davor, ansonsten war's das erstmal von mir.

Ich hoffe ich konnte dir ein wenig behilflich sein.  ;)

Issun

Hallo heroine,

Das ist wirklich ein interessantes Thema.  :)

Über genau dieses Problem zerbreche ich mir oft den Kopf. Ich habe selbst einen durchschnittlichen IQ, fände es aber todlangweilig, auf Protagonisten mit demselben Intelligenzniveau festgelegt zu sein. Mein Prota ist geplant als eine Art militärisches Genie. Da kommt erschwerend hinzu, dass ich von Militärischem wenig Ahnung habe. Ich beschäftige mich höchstens mit den historischen Aspekten.

Ich habe also einerseits das Problem, dass ich kein Genie bin, andererseits bin ich auch nicht militärisch versiert. Ich gehöre aber definitiv zu der Gruppe, die gerne über Dinge schreibt, die außerhalb des eigenen Erfahrungsbereiches liegen. Nun ist mein Prota schon in einigen Kurzgeschichten aufgetreten. Ich habe zwar nur relativ spärliche Erfahrung damit, wie er bei den Lesern ankommt, aber ich glaube, dass sein Auftreten zumindest in Situationen, in denen er sein Wissen und Können nicht anwenden musste, einigermaßen überzeugend war. Szenen, in denen eine Figur ihr Genie unter Beweis stellen muss, sind natürlich noch eine Spur brisanter.

Meiner Erfahrung nach kann Folgendes dazu beitragen, dass eine Figur intelligenter wirkt als ihr Schöpfer:

- Recherche: Je mehr, desto besser. Gib deiner Figur das Fachwissen, das sie braucht, um als Experte auf ihrem Gebiet auftreten zu können. Das sollte so weit gehen (unvorstellbar für mich, aber in der Theorie ist es so), dass ein Fachmann, der das Buch liest, nichts daran auszusetzen hat. Die Recherche fällt aber dann wohl mehr in den Bereich: Wie gebe ich der Figur einen hohen Bildungsgrad/Fachkenntnisse.

- Die übrigen Figuren sollten stillschweigend akzeptieren, dass dieser eine Charakter genial ist. Das heißt nicht, dass sie seine Urteile nie anzweifeln sollten, aber sie werden es wohl seltener tun als bei einer Figur, die ständig danebenhaut. Das kenne ich von einer Freundin von mir, die einen sehr hohen IQ hat. Ihr Wort hat (meist) mehr Überzeugungskraft im Freundeskreis als das anderer. Mich würde die Einstellung anderer Charaktere zum Genie als Leser mehr überzeugen, als wenn ständig gesagt wird, dass eine Figur brillant ist.

Manche Leute haben ein fotografisches Gedächtnis. Ich finde, das ist etwas, was man völlig unabhängig vom eigenen IQ überzeugend darstellen kann: Die Figur erinnert sich an Details, die anderen Figuren entgangen oder entfallen ist. Vielleicht kann sie Orte beschreiben, an denen sie vor vielen Jahren gewesen ist, als würde sie diese Orte gerade vor sich sehen.

Das sind jetzt die ersten Punkte, die mir dazu einfallen. Ich weiß nicht, ob dir etwas davon hilft. Vielleicht habe ich später noch andere Ideen.

LG Issun  :)

Coppelia

Ich kenne das Problem. Im Moment habe ich es gerade wieder. Es ist wirklich nicht ganz einfach.

Ich glaube, erst einmal musst du genau die Motivation und den Charakter deiner Figur kennen und wissen, auf welchem Gebiet sie so intelligent ist. Da gibt es ja ganz verschiedene Begabungen. Auf anderen Gebieten ist diese Figur vielleicht gar nicht so sehr der Überflieger. Dann recherchiere ich oder überlege mir, was typisch für jemanden ist, der auf diesem bestimmten Gebiet so begabt ist. Wie nimmt diese Person die Welt wahr, was ist typisch für ihre Perspektive? Wer ein genialer Maler ist, hat sicher einen Sinn für Farben und Formen, die ihm in Alltag begegnen, ein Mathegenie mag über Zahlen und Rätsel stolpern ...

Mein Lukial zum Beispiel ist sehr sprachbegabt, sehr viel sprachbegabter als ich. Um aus Lukials Perspektive zu schreiben, habe ich viel Cicero gelesen und mich von seinen wunderbaren Texten anregen lassen. Ich denke trotzdem, dass Lukial sprachbegabter ist, als ich es auszudrücken vermag, aber so schlimm ist das nicht, er ist ja nur eine fiktive Figur, und außer mir ist es eigentlich jedem egal, ob ich ihm gerecht werde oder nicht.
Anders sieht es meiner Meinung nach mit realen Figuren aus. Um mich zu trauen, aus Ciceros Perspektive zu schreiben, habe ich ihn sehr jung gemacht, damit er noch nicht so viel Erfahrung hat (und ich traue mich noch immer nicht). Aus Einsteins Perspektive zu schreiben, würde ich mich wohl in 100 Jahren nicht trauen. Aber andererseits ist das auch eine tolle Sache, wenn man mutig ist - wer möchte nicht mal in Einsteins Kopf schauen?

canis lupus niger

Wenn man einem Charakter Eigenschften verleihen möchte, die man selber (in dem Ausmaß) nicht besitzt, und die Du entsprechend auch nicht aus Deiner eigenen Anschauung beschreiben kannst, könnte es vielleicht helfen, über echte Hochbegabte und Genies zu recherchieren. Es gibt unzählige Anekdoten über berühmte Genies. Es gibt Bücher und Artikel über Hochbegabte, zum Beispiel über die Probleme hochbegabter Kinder in der Schule. Da werden auch Beispiele genannt, wie sich Hochbegabung äußern und im sozialen Umfeld auswirken kann (zum Beispiel geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich). Da findest Du sicher nette Situationen, die Du (auf Deinen betreffenden Charakter umgemünzt) in Deine Geschichte einbauen kannst. Ich denke, wenn Du von Deiner realen "Vorlage" ausreichend abweichst, ist das rechtlich und moralisch unproblematisch.

Aidan

Du könntest auch Ratgebern für hochbegabte Menschen lesen, darin kann man viel über die Denkmuster erfahren. Anne Heintze "Außergewöhnlich normal" beschäftigt sich mit typischen Problemen und deren Ursache. Hochbegabung kann mit einer ordentlichen Portion Alltagsuntauglichkeit einhergehen. (Mein Onkel war ein genialer Architekt, extrem begabt, aber konnte keinen einzigen Nagel vernünftig in die Wand hauen oder gar mit einer Bohrmaschine umgehen.) Du könntest dich auch mit Hochbegabten oder deren Angehörigen unterhalten, wobei es wirklich viele verschieden Intelligenzformen gibt.

Wissen ist kein Zeichen von Intelligenz, es ist mehr eine andere Auffassungsgabe, eine andere Denkstruktur, eine andere Verarbeitung der Informationen und Lösungsansätze. Hochintelligente können ungebildet sein, aber werden vielleicht eher noch - auch durch den Wissendrang - überproportional mehr aufgeschnappt haben, als andere, die in der gleichen Umgebung aufgewachsen sind.
"Wenn du fliegen willst reicht es nicht, die Flügel auszubreiten. Du musst auch die Ketten lösen, die dich am Boden halten!"

,,NEVER loose your song! Play it. Sing it. But never stop it, because someone else is listening."

et cetera

Ich finde sehr intelligente Charaktere auch schwer zu schreiben. Und ich meine damit keine Hochbegabten und Genies, sondern einfach Leute, die eine schnellere Auffassungsgabe haben als man selber. Es geht ja nicht nur darum, dass diese Charaktere ihre Intelligenz zwischendurch zum Besten geben dürfen, sondern dass sie den Plot entscheidend prägen. Ein intelligenter Mensch wird eine Verschwörung viel schneller durchschauen, er wird eher einen Ausweg aus einer scheinbar auswegslosen Situation sehen.
Und das sind Punkte, mit denen ich auch kämpfe. Ist der Charakter wirklich so gut, brauche ich mit vielen Geheimnissen erst gar nicht anzufangen, weil er sie sofort durchschaut. Oder noch schlimmer: Ich schreibe eine Lösung für eine dieser schier auswegslosen Situationen, die aber dem intelligenten Charakter nicht gerecht wird, weil dieser das mit mehr Finesse geschafft hätte.

Churke

Ich finde das jetzt nicht sooo schwierig. Aber ob es hilft, irgendwelche genialen Vorbilder durch Recherche erfassen zu wollen? Nach dem Motto wir legen das Gehirn in Formalin und suchen die geniale Stelle?

Der Punkt ist, dass für ein Genie kinderleicht ist, was dem Normalbegabten den Kopf rauchen lässt:
http://www.youtube.com/watch?v=-ciFTP_KRy4

Ein weiteres Beispiel ist Isaac Newton. Über tausend Jahre lang haben Generationen von Gelehrten Euklid studiert. Newton las sich ein und entdeckte die Differentialrechnung. Die kannte Archimedes allerdings auch schon...  ;)

Wie diese Leute dann "privat" sind, ist eine andere Frage. Sie können exzentrisch sein, Partylöwen (Leonardo da Vinci), Spekulanten (Newton), depressiv (Michelangelo), Egomanen (Wagner) - oder einfach nur unauffällig.

Das ist eigentlich in jeder Disziplin so, selbst in der Politik - wobei in der Politik häufig das Problem des Dunning-Kruger-Effekts besteht: http://de.wikipedia.org/wiki/Dunning-Kruger - auch Machiavelli wies darauf hin, dass ein schlechter Herrscher gemeinhin schlecht beraten ist, weil ihm die Fähigkeiten fehlen, einen guten Rat von einem schlechten zu unterscheiden.

Zitat von: et cetera am 08. Juni 2014, 08:06:21
Ich finde sehr intelligente Charaktere auch schwer zu schreiben. Und ich meine damit keine Hochbegabten und Genies, sondern einfach Leute, die eine schnellere Auffassungsgabe haben als man selber.
Der Haken ist natürlich, dass man das plotmäßig aufarbeiten muss - womit wir wieder beim Dunning-Kruger-Effekt wären. Als Autor muss man sich genau überlegen, was die Figur kann und wie man das ausarbeiten/verbauen will.

Aber auch Genies können ganz böse ins Klo greifen. Newton hielt es für unmöglich, eine Uhr zu konstruieren, die auf See genau geht.

Zitat von: heroine am 07. Juni 2014, 15:23:23
Dann gibt es natürlich noch die Abgrenzung zwischen Intelligenz und Bildung. Ein Charakter kann sehr gebildet sein, aber nur durchschnittlich intelligent und umgekehrt hochintelligent, aber absolut ungebildet?
Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Bildung pflegt diese Fähigkeit zu schulen, also die Intelligenz zu steigern, und natürlich setzt Bildung auch eine gewisse Grundintelligenz voraus.
Das bedeutet aber nicht, dass der Ungebildeter ein tumber Trampel sein muss. Theoderich war Analphabet (also Bildungsniveau null), aber das hielt ihn nicht davon ab, ein großer und weiser Herrscher zu sein. Bei den alten Germanen galt Bildung als Fehlerziehung, aber dessen ungeachtet haben sie sich meist ziemlich clever angestellt.

Sanjani

Ich hatte v. a. in meiner Jugend relativ viel Kontakt zu hochbegabten jungen Menschen. Außerdem habe ich mich auch später noch gern mit diesem Thema beschäftigt. Ich finde Ratgeber keine schlechte Idee, weil man da u. a. sehen kann, was denen Probleme bereiten kann und auch, wie unterschiedlich sich Hochbegabung zeigen kann. Mein persönlicher Favorit auf diesem Gebiet ist "Jenseits der Norm - Hochbegabt und hoch sensibel" von Andrea Brackmann. Da werden auch viele Fälle beschrieben und das Buch ist insgesamt sehr anschaulich gestaltet.

Meine Erfahrung ist, dass die meisten hochbegabten Menschen eigentlich relativ normal sind. Sie haben oft spezielle Interessengebiete, wo sie sich sehr gut auskennen, aber im Großen und Ganzen sind es Leute wie du und ich. Aber - und jetzt kommt das große Aber :) - gerade beim Schreiben muss man sich ja gut überlegen, wieso man einen Charakter konzipiert, der hoch intelligent ist. Warum kann der nicht normal intelligent sein? Und da geht es dann doch häufig um Dinge, die den normal intelligenten verborgen bleiben würden oder deren Lösung sich ihnen erst nach längerem Grübeln erschließen könnte. Mein Lieblingsbeispiel im Fernsehen ist ja Dr. Reid aus Criminal Minds. Es gibt wirklich hoch Begabte, die sind so wie er, aber er ist schon auch ziemlich nerdig gemacht, finde ich (für alle, die ihn kennen), und er ist ja im bereich emotionale und soziale Kompetenz eher unterentwickelt, wenn man so möchte. Dies ist aber m. E. ein Aspekt, der auch weiß Gott nicht auf alle hoch intelligenten Menschen zutrifft. Auf einige sicherlich, aber auf viele eben auch nicht. Es kommt also sicherlich auch darauf an, was für einen Typ Mensch man konzipieren möchte. Und wenn man sagt, ok, der soll eine bessere Auffassungsgabe o. ä. haben, dann muss man wirklich auch Situationen konzipieren, wo sich die Intelligenz zeigt. Bei Criminal Minds gibt es z. B. einige Folgen, wo Reid irgendwelche Muster erkennt, die ich total abstrus finde und wo ich nie drauf gekommen wäre. Aber das ist sicherlich auch das Problem, dass einem da was einfällt, das auch wirklich so schwierig zu erkennen oder zu lösen ist, das auch die meisten Leser staunen und erst beim zweiten oder dritten Hinsehen erkennen würden. Man darf ja nicht vergessen, dass nur ungefähr jeder hundertste Mensch hochbegabt ist, d. h. theoretisch, dass auch nur jeder 100ste Leser die Lösung einfach finden darf - ganz plakativ gesagt -, und das ist schon ziemlich schwierig, finde ich.

Wenn man aber sagt, ok, man möchte einfach jemand recht intelligenten konstruieren, der sich ein wenig von den anderen abhebt, dann kann man da m. E. nicht so wahnsinnig viel falsch machen, weil die meisten eben doch so ähnlich sind wie wir normalos auch :)

Meine Beschäftigung mit Intelligenz ist schon eine Weile her, aber der IQ-Test-Standard ist momentan ja immer noch der Wechsler-Intelligenz-Test, und der unterscheidet zwischen bildungsabhängigen und unabhängigen Intelligenzen. Natürlich sind die nicht völlig voneinander unabhängig, aber gerade Aspekte der Informationsverarbeitung im Gehirn, z. B. Reaktionsgeschwindigkeiten oder Mustererkennung sind angeboren und nur bedingt trainierbar, und werden mit zunehmendem Alter schlechter.

Ein anderer m. E. wichtiger Aspekt ist die Umgebung, in welcher die Person groß wird. Wenn jemand mit hoher Intelligenz in einem armen Bauerndorf groß wird, dann wird der wahrscheinlich trotzdem keine höhere Bildung bekommen als die anderen Kinder in dem Dorf, und er wird ebenso wahrscheinlich Bauer werden wie seine Eltern auch, während bei uns Hochbegabung z. B. in der Schule entdeckt und das Kind entsprechend gefördert werden kann, sofern nötig bzw. gewünscht. In früheren Zeiten werden es Hochbegabte deshalb eher schwerer gehabt haben, mit ihrem Genie zu glänzen, je nachdem, von welcher Abstammung sie waren, Frauen oder Männer usw. je nachdem, was es halt für Einschränkungen gab, die überwunden werden mussten. Und ich mutmaße, dass die angeborenen Aspekte von Intelligenz da vermutlich eher zum Tragen kamen als die erworbenen.

Das mal mein Senf zum Thema.

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Guddy

#9
Naja, es geht ja auch darum, es dem Leser begreiflich zu machen. Daher würde ich darauf achten, wie er sich ausdrückt. Ich meine nicht, dass er mit Fremdwörtern um sich werfen soll, sondern dass er... einfach nicht dumm klingt. Dann, dass er relativ gebildet ist und Dinge/Fremdwörter nicht nachfragen muss. Natürlich geht Intelligenz nicht automatisch mit Bildung einher, doch es geht ja auch nur darum, dass es beim Leser ankommt. Und Bildung wirkt eben intelligenter. Meiner Meinung nach braucht man da keine Studien über Hochbegabte zu walzen, denn die ganzen Feinheiten und Untergruppen etc. tun da nicht unbedingt was zur Sache, da sie eh nicht so ankommen werden.

Geht es denn um einen speziellen Charakter?

Sunflower

Was ich mal gelesen habe zu dem Thema, ist das: Deine Figur soll intelligent auftreten. Sie bringt "spontan" die schlausten Antworten, reagiert unerwartet und verkörpert einfach die Hochbegabung, die du quasi für sie erdacht hast. Das Gute ist: Wenn du schreibst, musst du das ja nicht so schnell und spontan machen, wie deine Figur später reagiert. Für eine bestimmte Aussage kannst du dir sogar Tage Zeit lassen und am Ende wird es immer noch erscheinen, als ließe deine Figur z.B. spontan einen schlauen Spruch fallen.
Natürlich ist es alles andere als leicht. Ausführliche Charakterinterviews helfen da. Es gibt eine ganze Menge Artikel im Netz, die das Leben von Hochbegabten beschreiben, auch aus der Sicht von Hochbegabten. Im Endeffekt sind Hochbegabte auch nur Menschen. Sie haben die gleichen Probleme, die gleichen Ängste. Sie sind intelligenter, ja. Vielleicht verstehen sie komplexe Zusammenhänge schneller, kommen auf andere Schlüsse als ein "Normalbegabter", wobei das ja auch immer so eine Sache ist. Es gibt ja auch verschiedene Ausprägungen von Hochbegabungen. Außerdem kommt es darauf an, wie "hochbegabt" jemand ist. Ob er einfach intelligenter ist. Wie viel intelligenter er ist. Ob sein IQ bei 130 oder bei 180 liegt, kann schon ein großer Unterschied sein.
Ansonsten schreibt Sanjani ziemlich genau das, was ich auch denke.

Wie du sagst, gibt es natürlich noch einen Unterschied, ob jemand gebildet oder intelligent ist. Das sind zwei Paar Schuhe. Wobei sie auch irgendwo zusammenhängen. Jemand, der eher intelligent ist, interessiert sich wahrscheinlich auch eher für Literatur, Kunst, Geschichte und alles, was "Bildung" ausmacht. Er merkt sich vielleicht auch mehr und kann noch Jahre später etwas abrufen, was er irgendwo mal gehört hat. Aber weder sind alle Hochbegabten gebildet noch alle Gebildeten hochbegabt.

Sehr intelligente Figuren wirken vielleicht manchmal etwas weltfremd, abgehoben - wie Sherlock Holmes z.B., der ja schon aufgeführt wurde. Dadurch, dass sie Zusammenhänge viel schneller erkennen als andere, wirken ihre Gedankensprünge auf Außenstehende manchmal ziemlich .... seltsam. Aber das ist auch nicht bei allen Hochbegabten so. Wie gesagt, im Endeffekt sind das auch nur Menschen und es kommt auch darauf an, wie "hochbegabt" jemand nun ist.
"Why make anything if you don't believe it could be great?"
- Gabrielle Zevin: Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow

Churke

Zitat von: Sanjani am 08. Juni 2014, 13:34:18
während bei uns Hochbegabung z. B. in der Schule entdeckt und das Kind entsprechend gefördert werden kann, sofern nötig bzw. gewünscht.
Entdeckt?
Gefördert?
SCHULE?
:rofl:

Der Direktor des humanistischen Gymnasiums zu Ernst Bloch http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Bloch: "Was? Philosophie wollen Sie studieren? Dazu sind Sie doch viel zu dumm!"

Sorry, aber das konnte ich mir nicht verkneifen. Hochbegabte stellen nach wie vor einen Gutteil der Schulversager und das ganze Geschwurbel um die Elitenförderung ändert nichts daran, dass die Lehrer noch genauso schlecht sind wie sie schon immer waren. Vielleicht sind sie heute sogar noch schlechter, weil es früher noch keine Schulreformer gab.

Sanjani

Zitat von: Churke am 08. Juni 2014, 19:09:44
Hochbegabte stellen nach wie vor einen Gutteil der Schulversager und das ganze Geschwurbel um die Elitenförderung ändert nichts daran, dass die Lehrer noch genauso schlecht sind wie sie schon immer waren.

Deshalb steht da ja auch "werden kann" und nicht wird. Und stell dir vor, es gibt Schulen, wo dem Thema Beachtung geschenkt wird. Viele sind es nicht, aber ein paar gibt's. Es gibt sogar ein paar wenige gute Lehrer. Außerdem ging es mir auch nicht speziell um Schulen, sondern darum, dass es Möglichkeiten gibt. Heutzutage kann ein hoch begabtes Kind sogar selber ins Internet gehen und entsprechende Infos finden usw. Das kann ein Kind aus einem Nomadenvolk vermutlich nicht so ohne Weiteres oder ein Kind, das in einer fiktiven historischen Welt groß wird.

VG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

canis lupus niger

Die Förderung von anormal Begabten in unserem Bildungssystem mag gut oder schlecht sein, aber das war ja eigentlich nicht das Thema dieser Diskussion. Mein Hinweis auf die entsprechende Fachliteratur und das Infomaterial kam nur deswegen, weil man meiner Erfahrung nach dort reale Beispiele für Verhalten von Hochbegabten, bzw. sehr Intelligenten findet. Gerade die manchmal geringe "Alltagstauglichkeit" ist in solchen Quellen beschrieben, weil es hochintelligenten Menschen schwer fallen kann, ihr Denken so weit herunterzuschrauben, dass sie eine Bedienungsanleitung auf Anhieb verstehen.

Hochintelligente Schüler haben oft schlechte Noten, weil sie den Lösungsweg für eine Aufgabe nicht darstellen (können). Wenn man in der Mathe-Arbeit die Aufgabe nach kurzem Überlegen im Kopf gelöst hat, empfindet man es als sinnlose Zeitverschwendung, den Rechenweg noch einmal in aller Ausführlichkeit schriftlich darzulegen. Das kann den Schüler aber die halbe Punktzahl kosten, so dass er statt einer 1 nur eine 3 oder sogar 4 bekommt. Ein mir persönlich bekannter Teenager steht wissensmäßig in allen Schulfächern auf 1, bekommt aber in vielen Fächern "nur" eine 2, weil sie sich nie meldet. Der Grund: die Fragen der Lehrer sind ihr meist zu blöd. Es lohnt sich einfach nicht, sich zu melden, um sie zu beantworten. Deshalb steht sie leider mündlich bestenfalls auf 3. Wenn sie "zwangsweise" drangenommen wird, kann sie nämlich alles richtig beantworten.

Es ist nach meiner persönlichen Erfahrung (um Himmels Willen nicht als, sondern mit Hochbegabten) das größte Problem sehr intelligenter Menschen, mit normal denkenden Mitmenschen normal, d.h. höflich und respektvoll umzugehen. Normalbegabte wirken auf Hochbegabte manchmal wie Dummköpfe, weil ihre Maßstäbe einfach verschieden sind. Es ist dann ein Schritt zur persönlichen Reife (und zur sozialen Kompartibilität), die eigenen Maßstäbe anzupassen. manche Hochbegabte erreichen diese Fähigkeit nie. ::).
Jedenfalls kann es passieren, dass überdurchschnittlich Intelligente sich von völlig ernst gemeinten Aussagen verkohlt fühlen, weil sie denken, dass eine so "blöde" Aussage nicht ernst gemeint sein kann. Kinder und auch weniger tolerante erwachsene Intelligente werden oft ungeduldig, weil sie nicht verstehen, dass man ihren Gedankengängen wirklich nicht folgen kann. Manche werden insgesamt mürrisch und unfreundlich, weil alle anderen einfach nur blöd sind. Sensible Seelen unter den Hochbegabten dagegen halten sich selber für Freaks, versuchen sich anzupassen und zurückzunehmen, teils bis zur völligen Selbstverleugnung. Das findet sich besonders bei konservativ erzogenen kleinen Mädchen.

Im positiven Fall erlebt ein hochintelligenter Mensch es sicherlich als Offenbarung, auf einen anderen Menschen zu stoßen, der ebenso schnell denkt wie er selber. In einer Diskussion könnten die beiden (oder mehrere) Intelligenteren in einer Art Brainstorming die anderen Gesprächsteilnehmer quasi "abhängen", einander mit ihren Gesprächsbeiträgen ergänzen oder sogar überholen, so dass sie ihre Sätze gar nicht mehr beenden, weil der Andere den Sinn schon erfasst hat. Die anderen Gesprächsteilnehmer könnten schließlich frustriert nur noch von einem zum anderen gucken und kein Wort mehr verstehen. Oder eine Frage wird in den Raum gestellt, ein zu lösendes Problem, und der Intelligente lächelt, weil ihm eine Lösung eingefallen ist. Vielleicht tauscht er einen Blick mit dem Fragesteller oder einem/dem anderen Intelligenten, und sie grinsen einander an, weil sie beide die Lösung wissen, während alle anderen noch rätseln oder diskutieren.

Meine Tochter war im Kindergarten als diejenige bekannt, die sich immer so komplizierte Spielregeln ausdachte, die sich (außer ihr) niemand merken konnte, einschließlich der Erzieherinnen. Sie war frustriert, weil keiner sich auf ihre Erweiterungen der Regeln oder auf ihre selbst ausgedachten Spiele einlassen wollte. und die anderen Kinder waren frustriert, weil sie sich dumm vorkamen. Hochintelligente Menschen sind oft frustriert, weil sie sich von Idioten umgeben fühlen. je nach Charakter werden sie dann mürrisch, herablassend, aggressiv oder -im Gegenteil- desinteressiert. Das kann soweit gehen, dass sie wirken wie Autisten. Das kann auch dazu führen, dass sie für überheblich gehalten oder sogar gemobbt werden, denn die ebenfalls frustrierte Umwelt mag sich ja auch nicht gerne dumm fühlen.       

Coppelia

Ich kann dazu noch sagen: In Pädagogik an der Uni habe ich gelernt, dass die meisten Hochbegabten die Probleme, die hier beschrieben werden, angeblich nicht haben. Aus diesem Grund werde ihre Begabung mitunter auch nicht erkannt. Hoher IQ und niedrige soziale Intelligenz oder Anpassungsschwierigkeiten gehen nicht automatisch miteinander einher. Es fallen wohl nur eher diejenigen Personen auf, bei denen das so ist (die anderen Personen gelten dann vielleicht einfach nur als einigermaßen talentiert und fleißig). Im Gegenteil, Hochbegabte sollen im Durchschnitt deutlich mehr Vorteile als Nachteile durch ihre Begabung haben. (Ein anderes Kapitel ist natürlich der quasi unvermeidliche Ärger der Mitschüler über die Ungerechtigkeit, dass jemand die Leistungen, für die sie arbeiten müssen, spielend schafft.)
Das zumindest habe ich vor einigen Jahren in Sozialpädagogik gelernt - als Wissenschaftlerin kann ich ja nichts glauben, was ich nicht selbst erforscht habe, aber ich fand es recht überzeugend.

Ich glaube also nicht, dass man gezwungen ist, eine hochintelligente Person mit den klischeehaften Schwächen darzustellen. Schwächen wird sie selbstverständlich haben, wie jede Person. Sie kann aber genauso gut durchschauen, wie soziale Prozesse ablaufen, und sich so verhalten, wie es die jeweilige Situation erfordert. Ihre hohe Intelligenz ist dann dem Umfeld wahrscheinlich nicht klar, und vielleicht nicht einmal der Person selbst.