Ich gehe mal etwas weiter zurück, bis zu Shakespeare nämlich.
Bei Shakespeare ist es nämlich sehr, sehr ungewöhnlich, daß ein Stück mit dem Auftritt der Hauptfigur beginnt, hier zwei Beispiele:
- Macbeth: Drei Hexen kochen Suppe
- Hamlet: Die Wachen sehen einen Geist
Die Liste läßt sich fortsetzen, wobei man natürlich bedenken muß, daß nicht jedes Stück eine einzelne konkrete Hauptfigur hat. Auf der anderen Seite kenne ich nur ein Gegenbeispiel, bei dem das Stück damit beginnt, daß der Protagonist auftritt: Richard III nämlich - und das war Shakespeare Erstling.
Auch seine Nachäffer (Schiller und Consorten) beginnen für gewöhnlich nicht mit der Hauptfigur. Eher mit dem Schurken.
Es kommt auf die Pewrspektive an: Wer ein ganzes Buch aus Perspektive der Hauptfigur schreibt, hat sie zwangsläufig von anfang an auf der Bühne. Aber selbst da bieten sich Prologe an: In der Spinnwebstadt gibt es genau zwei Sequenzen, in denen Mowsal nicht anwest. Prolog und Epilog, nämlich.
Das soll jetzt nicht heißen, daß man ein Buch niemals mit Held anfangen lassen darf, o beware! Aber es gibt keinen Zwang, was das betrifft.
Wie habe ich es denn ansonsten so gemacht? Mal überlegen:
- Eine Flöte aus Eis beginnt mit Keil dem Barden, der unter einem Baum sitzt und flötet. Er ist definitiv eine Hauptperson. Das Buch hat keinen Prolog.
- Fenoriels Augen hat einen Prolog aus Perspektive des bösen Zauberers Conmorren, in dem die spätere Heldin, Fenoriel, als Säugling auftritt. Aber ich glaube nicht, daß man das als Präsenz zählen kann
- Alle bisherigen Bände des Elomaran-Zyklus beginnen mit Prologen, in deren Mittelpunkt die Hauptpersonen stehen
- Klagende Flamme beginnt mit einer Legende um die Erschaffung der Menschen
- Seelenfeuer, mein neuestes Projekt, beginnt mit Dao, dem Protagonisten (und zugleich einer der wenigen, der in diesem Buch überhaupt einen Namen besitzt)
- Kein Alarm im Weltall, die Science-Fiction-Parodie, schleudert uns direkt mit dem ersten Satz ins Zentrum des Geschehens
Ergo:
Ich beginne offenbar häufiger mit Auftreten der Hauptfigur als nicht. Aber da ich sehr rigide an meinen Perspektiven klebe und diese nur ungern an Nebenfiguren vergeude, ist das nicht weiter verwunderlich.
Man muß natürlich bedenken, daß man, wenn man ohne Held anfängt, mit den Erwartungen der Leser spielt: Denn die versuchen natürlich gleich auf Seite Eins, in der gegebenen Auswahl den Helden ausfindig zu machen. Und nebensächlicher diese Anfangsszene ist, und je länger, desto eher fühlt sich der Leser am Ende verschaukelt. Einer der Gründe, warum ich aufgehört habe, The Wheel of Time zu lesen, waren die endlosen Prologe, die so rein gar nicht die Handlung weiterführten.
Mit den Lesern spielen ist okay, das macht ein Buch spannend. Aber der Leser muß bereit sein, mitzuspielen. Und dafür gibt es Grenzen.