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Alles zur Perspektive

Begonnen von Lastalda, 01. Januar 1970, 01:00:00

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Debbie

#165
@Kaeptn:

Ja, solche Fälle, wie du beschreibst, gibt es zuhauf. In HP gibt es ein paar solcher "Fokalisierungs-Wechsel". Und in Thomas Manns Tristan.

In der klassischen Perspektivaufteilung ist für solche Dinge tatsächlich kein Platz. Dort ist es strengstens verboten, zwischen der Personalen und der Auktorialen zu wechseln. Im Literaturwissenschaftsstudium haben wir allerdings gelernt, nicht in "Perspektiven" sondern in "Fokalisierung" zu denken und zu analysieren. Ich denke, die Erzähltheorie nach Genette ist noch nicht überall Standard, macht aber tatsächlich, gerade bei der Fokalisierung, oftmals mehr Sinn - v. a. wenn man Texte analysieren muss. Denn diese kleinen Perspektivwechsel gibt es in ungemein vielen Werken; auch wenn sie meist unbemerkt bleiben. Da gibt es ein ganzes Buch dazu, aber ich denke bei Wikipedia ist es ganz gut zusammengefasst.

http://de.wikipedia.org/wiki/Fokalisierung

Nach Genette, ist deine Erzählweise also möglich - dennoch finde ich es (als Leser) besonders wichtig, den Wechsel von der Internen in die Nullfokalisierung nur spärlich und in bedeutenden Ausnahmefällen zu verwenden. Z.B. bei einer Art "Foreshadowing" am Ende eines wichtigen Kapitels. Für Banalitäten, wie die Sache mit der blutenden Hand, würde ich keinen Wechsel einsetzen. Und ich würde dann auch ein "Nichtbemerken" nicht aus Sicht der Figur schildern - das beißt sich für mein Gefühl irgendwie.

Zitat von: Sprotte am 11. Oktober 2012, 16:55:57
Ich stimme Malinche zu. Ich kreide es ebenfalls an. "Tim bemerkte nicht, wie sein Feind sich hinter ihm anschlich." Geht für mich nicht.

Für mich auch nicht. Aber das wäre für mich in Ordnung: "Tim zog sein Schwert aus dem leblosen Körper, der zu seinen Füßen lag, während sich der sichere Tod unbemerkt von hinten näherte." oder: "Tim zog sein Schwert aus dem leblosen Körper, der zu seinen Füßen lag. Siegesschreie hallten durch die Katakomben. Niemand bemerkte den sicheren Tod, der sich lautlos (oder unsichtbar) von hinten näherte." (Als Kapitelende wohlgemerkt, innerhalb eines ansonsten intern fokalisierten Textes, würde ich es nicht anwenden.)





Kaeptn

#166
Danke für die vielen Wortmeldungen. Fokalisierung, meine Güte, noch nie gehört... muss mir das jetzt peinlich sein ;) Vielen Dank, werde es mal studieren.

Jedenfalls bin ich ja nicht verbohrt, werde nach den hier geäusserten Meinungen also demütig die Änderungsvorschläge meiner Lektorin abwarten und dann mal schauen, was wir daraus machen.

Sprotte

Ein Beispiel für so einen Perspektivbruch hab ich noch.

ZitatSie starrte ihn an. Man sah ihm an, daß er Sport trieb.
Wo ich nur fragte: Wer ist "man"? Sieht sie es ihm nicht an?

Debbie

#168
ZitatSie starrte ihn an. Man sah ihm an, daß er Sport trieb.

"Man" schließt die Prota ja mit ein - und soll gleichzeitig verallgemeinernd wirken (im Sinne von "jeder kann es sehen"), und so bedeuten, dass es "offensichtlich" ist. Als Perspektivwechsel oder -bruch würde ich das nicht bezeichnen. Eventuell wäre es vielleicht als rhetorisches Stilmittel zu betrachten:

http://de.wikipedia.org/wiki/Pluralis_Modestiae

Mogylein

Ich bin aktuell in der Überlegung, welche Perspektive ich für mein nächstes (diesjähriges NaNo-)Projekt wählen möchte. Ich habe sehr lange in einer sehr personalen, an einen Charakter gebundenen Perspektive gearbeitet (die letzten... fünf Jahre?) doch diesmal stehe ich vor einem Problem: Ich will dem Leser mehr Information geben als meiner Protagonistin.
Es geht um das "Geheimnis", die Motive der mitreisenden, zweiten Hauptfigur, welches der Leser erfahren möglichst mit einer aktiv geschriebenen Rückblende erfahren soll.
Zwei getrennte Perspektiven für zwei Menschen, die eigentlich 80% der Zeit zusammen reisen finde ich aber verwirrend.

Was denkt ihr, ist die schlauste Variante? Einmalig in die andere Perspektive reinrutschen? Eine auktorialere Erzählweise (scheint mir in den letzten Jahren sehr verpöhnt)? Oder ganz auf meinen Wissensvorsprung vom Leser verzichten und die Informationen irgendwie anders unterbringen?
   "Weeks of Writing can save you hours of plotting."
- abgewandeltes Programmiersprichwort

Churke

Zitat von: Mogylein am 18. Oktober 2012, 12:46:00
Zwei getrennte Perspektiven für zwei Menschen, die eigentlich 80% der Zeit zusammen reisen finde ich aber verwirrend.

Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass es darauf ankommt, wie stark sich die beiden Perspektivträger und ihre Motive und Ziele unterscheiden.
Beispiel: Ein Pastor reist zusammen mit einem Raubmörder, der sich fest vorgenommen hat, den arglosen Pfaffen vor dem Ziel aufzuschlitzen.

Was mir allerdings arge Bauschmerzen bereiten würde, wäre, eine "normale" Perspektive und eine begleitende, rückblendenlastige Perspektive zu haben. Das ist ein formaler und innerer Bruch.

pink_paulchen

Zitat von: Mogylein am 18. Oktober 2012, 12:46:00
Eine auktorialere Erzählweise (scheint mir in den letzten Jahren sehr verpöhnt)?
Also ich bin gerade fast durch mit dem "Albtraumreich des Edward Moon". Dort gibt es einen auktorialen Erzähler und das wird als Stilmittel kunstvoll verwendet. Ich habe an einigen Stellen laut gelacht und fand diese Erzählmethode wirklich grandios. Einen Eindruck was ich meine, bekommst du in dieser Rezension:
http://literatopia.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1594:das-albtraumreich-des-edward-moon-jonathan-barnes&catid=62:fantasy&Itemid=98
Ich hätte total Lust sowas zu schreiben, wenn ich gerade anfangen würde. Vielleicht passt etwas in der Art auch für dich...

Mogylein

Zitat von: Churke am 18. Oktober 2012, 13:03:13
Was mir allerdings arge Bauschmerzen bereiten würde, wäre, eine "normale" Perspektive und eine begleitende, rückblendenlastige Perspektive zu haben. Das ist ein formaler und innerer Bruch.

Wenn ich die Perspektive auf zwei aufteilen würde, wäregäbe es nur an einer Stelle eine Rückblende. Vielleicht noch etwas der-Vergangenheit-hinterhertrauern oder leicht angedeutete Erinnerungen bei bestimmten Schauplätzen, aber rückblendenlastig wäre sie nicht.
Rückblendenlastig wäre sie allein dann, wenn ich nur ein Mal auf die Perspektive meines Zweithelden zurückgreifen würde, denn dann wären 100% seiner Perspektive Rückblenden.

@pink_paulchen
Die Idee finde ich toll und ich würde so etwas auch gerne einmal schreiben, aber aufgrund der Ernsthaftigkeit des Plots - und auch meiner noch sehr ausbaufähigen Fähigkeiten - würde ich das erstmal auf ein späteres Projekt schieben.
Danke dir auf jeden Fall für deinen Vorschlag.
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Lemonie

Ich denke, zwei Perspektiven sind da durchaus möglich, das mach ich auch manchmal (obwohl die Charaktere die meiste Zeit zusammen sind).

Wenn du die zweite Perpsektive vor allem wegen der Informationen brauchst, kannst du ja ihren Anteil verringern, das heißt, den großen Teil Prota, und zwischendurch immer mal ein Kapitel 2. Person... allerdings ohne die Perspektive auf die Informationen zu reduzieren, ich würde dann als Leser auch erwarten, dass eine neuer Perspektivträger auch "frischen Wind" reinbringt...

Debbie

#174
Wieviel Zeit die Protas da miteinander verbringen finde ich eher irrelevant - ich bin der gleichen Meinung wie Churke: Wenn die Charaktere unterschiedlich und ihre Erzählerstimmen authentisch genug sind, geht das ohne Probleme. Dann finde ich es sogar spannend, wenn man von ein und demselben Vorfall zwei verschiedene Sichtweisen geliefert bekommt ... Das lässt soviel Platz für "starke" Charakterisierung - was ich persönlich besonders schätze - und kann, wenn die Motive beider Seiten gut dargestellt werden und zur Identifikation einladen, den Leser in einen Zwiespielt bringen. Eine ganz eigene, subtilere Art von Spannung  :vibes:

Geht das mit der Identifikation aber schief, kann das desaströse Folgen haben. Im schlimmsten Fall wartet der Leser am Ende nur noch auf die Szenen, in der aus Sicht von Charakter X erzählt wird, weil er auf dessen Triumphieren hofft und die Gründe von Charakter Y überhaupt nicht nachvollziehen kann - oder noch schlimmer, sie ihm egal sind  :o

Ich finde aber durchaus, dass du ein Kapitel dazwischen schieben kannst, in dem du die Geschehnisse z. B. aus der Neutralen (evtl. auch aus der Auktorialen) erzählst (http://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/NeutraleErzaehlperspektive), sodass dem Leser zwar die Fakten präsentiert werden, er aber das Ganze entweder noch nicht einordnen kann, oder ihm die Konsequenzen daraus noch unklar sind, oder ihm einfach nur die Gefühlswelt des betreffenden Protas noch verborgen ist. Das hält den Spannungsbogen - bis zu einem gewissen Grad - aufrecht, und lässt dir Spielraum bei der "Enthüllung", bzw. den Höhepunkt des Konflikts.

Übrigens hat auch J.K. Rowling so was ähnliches mal angewandt - in "HP und der Feuerkelch" wird das erste Kapitel in der Auktorialen erzählt.

Lemonie

Zitat von: DebbieWenn die Charaktere unterschiedlich und ihre Erzählerstimmen authentisch genug sind, geht das ohne Probleme. Dann finde ich es sogar spannend, wenn man von ein und demselben Vorfall zwei verschiedene Sichtweisen geliefert bekommt ... Das lässt soviel Platz für "starke" Charakterisierung - was ich persönlich besonders schätze - und kann, wenn die Motive beider Seiten gut dargestellt werden und zur Identifikation einladen, den Leser in einen Zwiespielt bringen. Eine ganz eigene, subtilere Art von Spannung  :vibes:

Sehe ich genauso :)

Und ja, die Szene in HP habe ich auch noch im Kopf, da fand ich das ziemlich gut gemacht (kam später nochmal, oder? Im 6., glaub ich...) Kann aber sein, dass es mitten im Buch etwas merkwürdiger kommt, am Anfang reißt es einen nicht so raus.
Spoiler (Harry Potter): Hat sich das Ganze im ersten Kapitel vom Feuerkelch nicht als Traum von Harry rausgestellt? Bzw ein Teil davon?

Debbie

@Lemonie: Stimmt! Man weiß nicht so genau, wo die auktoriale Erzählung aufhört und Harry's Traum beginnt. Im 6. Band gestaltet sich das Ganze als "Dumbledore's gesammelte Erinnerungen" - soweit ich weiß, werden die aber aus der Personalen erzählt (der betreffenden Personen, nicht Harry's).

Mogylein

Ich danke euch für eure Ideen und Einblicke. Zu einer festen Entscheidung bin ich zwar noch nicht gekommen, aber ich werde es erstmal ausprobieren, angefangen von den zwei personalen Perspektiven. Dadurch, dass die beiden einen sehr unterschiedlichen Bildungsstand haben, denke ich, dass ich zwei unterschiedliche Erzählstimmen hinbekomme.
Debbies Argument mit der subtilen Art von Spannung hat gezogen - und ich kann mir auch schon gut vorstellen, wie das funktioniert.


Sollte ich damit aber nicht zu Rande kommen, werde ich auch eine distanziertere Perspektive ausprobieren. Vielleicht ist das ja gerade das, was ich nach so vielen personalen Geschichten brauche.
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Kaeptn

So, ich nochmal.

Wir haben jetzt noch einen konkreten Punkt in Sachen "personaler Erzähler" und Perspektive.

Es geht um Formulierungen wie "platzte es aus ihm her/hinaus", "brach es aus ihm her/hinaus." Muss es da wirklich "hinaus" heißen, wenn die Worte aus dem Mund des Erzählers kommen? Für mich klingt das einfach komisch.

HauntingWitch

Das stimmt, das klingt irgendwie sperrig (obwohl es dauernd verwendet wird und wir es gewohnt sind). Aber ich würde nicht das "hinaus" weglassen, sondern das "aus ihm/aus mir". Wenn wir über uns reden sagen wir ja auch: "Es ist mir herausgeplatzt" und nicht: "Es ist aus mir (heraus)geplatzt/gebrochen".  ;)