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Alles zur Perspektive

Begonnen von Lastalda, 01. Januar 1970, 01:00:00

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Serena Hirano

Zitat von: Ryadne am 23. Januar 2013, 23:35:48
Habe gerade mal probeweise angefangen, den bald toten Ich-Erzähler in einen personalen umzuwandeln. Jetzt hab ich abwechselnd eine Ich-Erzählerin und einen personalen Erzähler. Klingt das noch seltsamer?  :-\

Das habe ich auch schon gemacht. Und ebenso einen Roman in Ich-Perspektive geschrieben, wobei ich auf Grund des Lesens von diesem Thread beim Bearbeiten eindeutig mal ein paar Dinge mit meiner Prota diskutieren muss *hüstel*

Auch kenn ich Buchreihen, in denen das erste nur aus einer Sicht bestand und in den Folgenbänden mehrere Sichtweisen der Hauptpersonen hinzukamen...

Im Grunde stimme ich Alana zu. Man sollte wissen, warum man es macht. Und wenn es dann wirklich passt und gut geschrieben ist, dann wird es im Leseverhalten auch nicht sauer aufstoßen. Wenn ich nun zwei Annsichten brauche, um die komplette Story rüberzubringen, dann werd ich als Leser froh sein, zwei Perspektiven kennenzulernen. Ansonsten bliebe ja nur einer und der müsste den halben Roman lang denken, mutmaßen, fühlen, glauben, schätzen etc... Das würde mich dann eher stören.
Ich hab aber auch schon Sachen gelesen, in denen so oft hin und her gehüpft wurde, dass man sich vorkam wie in ner Schulhofdiskussion von 7jährigen. Alles wurde so schnell wie möglich mit so viel Info wie möglich aneinandergereiht. Sowohl als Zuschauer, wie als Leser, steht man dann ja aher mit nem Fragezeichen überm Kopf da.

Ich hab das hier gelesen und mich (positiv) erschrocken, was es alles für Kleinigkeiten gibt, die man so falsch machen kann. Werd ich bei mir alles mit berücksichtigen.
Aber mal im Ernst (Anmerkung, den Fokalisierungslink werd ich mir dringend zu Gemüte führen, Danke!) zählt nicht unter dem Strich am meisten, wie flüssig und logisch sich die Geschichte am Ende aufnehmen lässt?

Coppelia

#196
Ich hab schon länger überlegt, ob ich noch mal in diesen Thread schreibe. In den letzten Jahren habe ich mich ja viel mit literaturwissenschaftlicher Theorie zur Erzählperspektive beschäftigt. Das hat meinen Blick darauf, wie man "richtig schreiben muss", sehr verändert.
Ich lege allen, die sich dafür interessieren, vor allem zwei Bücher ans Herz, "Narratologie" (glaube, dass es so heißt) von Wolf Schmid, und "Narratology" von Mieke Bal. Mit dem letzten hab ich meine Diss bestritten. ;) Ich schätze vor allem ihr Ebenenmodell der Fokalisierung. Es hat mir sehr geholfen, zu erkennen, wann überhaupt Figurenperspektive vorliegt und wie man sie am besten erkennen kann, und mir die Illusion von Objektivität abzuschminken.

Selbst wenn durchgängig Figurenperspektive vorliegt, ist man als Leser immer unterschiedlich nah "dran" an den Figuren. Es gibt Mittel wie z. B. die erlebte Rede, die einen sehr nah an die Figuren heranbringt. Allerdings kann man aus der Sicht einer Figur auch distanziert schreiben, wenn man es darauf anlegt. Was mich fast am meisten gefreut hat zu erfahren: Viele Betaleser meinten, dass sich in meine Sätze wie "Die Götter hatten einen miesen Humor" Umgangssprache hineinverirrt hat, die verschwinden muss. Ich wusste schon immer, dass das nicht stimmt, und weiß nun auch, was hier passiert ist: Ein Wort aus dem Kopf oder dem Sprachgebrauch der Figuren zeigt sich im sonstigen Text, der ja vom Erzähler wiedergegeben wird. Man (bzw. Wolf Schmid) bezeichnet das als Textinterferenz (Figurentext steht im Erzählertext).

Bevor ich mich mit diesem Kram beschäftigt habe, war ich total überzeugt, genau zu wissen, wie Figurenperspektive sein muss, damit man "richtig" schreibt, z. B. dass es ein No-Go ist, schnell vom Kopf einer Figur in den einer anderen zu springen. Ich denke, es gibt in heutiger (Unterhaltungs?-)Literatur eine Tendenz, Figurenperspektive auf eine bestimmte Art zu verwenden, die auch von den Lesern gern angenommen wird. Das heißt aber nicht, dass es nur so "richtig" ist und auf eine andere Weise "falsch" (wie ja auch HauntingWitch schon geschrieben hat). Wenn man die Möglichkeiten kennt, die verschiedene Arten von Figurenperspektive bieten, und sie sinnvoll einsetzt, kann man meiner Meinung nach gute Texte schreiben, die nicht dem "Standard" entsprechen. Wenn die Leser allerdings darauf nicht eingestellt sind, könnten sie irritiert sein, und es besteht die Möglichkeit, dass ihnen Texte nicht gefallen. Vielleicht mögen sie sie aber auch deswegen besonders?

Meine Art zu schreiben hat die ganze lange Beschäftigung mit Figurenperspektive kaum verändert. Auch ich schreibe meist "Standard": Vor allem aus der Sicht von einer Figur. Aber irgendwie hat es mir geholfen, toleranter zu sein mit mir selbst und mit den Texten anderer Autoren. Ich versuche, genauer zu analysieren, was ich selbst geschrieben habe, welche Wirkung die Perspektive an dieser Stelle hat, ob es Methoden gibt, die Wirkung zu optimieren und so weiter. Ich kann z. B. inzwischen auch relativ deutlich erkennen, wann der Erzähler spricht. Es ist ja nicht so, dass nur Figuren Perspektive haben könnten, sondern auch der Erzähler kann das. Es ist gar kein Problem, wenn der Erzähler einmal "allein" spricht: Auch das ist eine Möglichkeit. Aber ich habe selbst an meinen alten Texten gemerkt, dass es mir manchmal im Eifer des Gefechts gar nicht aufgefallen ist, wenn ich die Figurenperspektive verlassen habe und in die Erzählerperspektive hineingeraten bin. Ich hoffe mal, das passiert mir jetzt nicht mehr so schnell. Aber ich habe ab und zu den Erzähler auch schon bewusst eingesetzt. :)

pink_paulchen

In meinem aktuellen Projekt habe ich folgende Situation: Alles, was in dem Buch spannend ist, erlebt die Heldin, bzw. erkennt es irgendwann. Der Leser braucht keine Informationen über das, was nicht unmittelbar mit ihr und ihren Erlebnissen zusammenhängt. Ich habe deshalb die Vorstellung, dass der komplette Roman in der Ich-Perspektive gut funktionieren kann. Der Leser soll die Handlung im Kopf meiner Heldin miterleben. Er soll genau wissen, was sie zum Zeitpunkt weiß. Das Ganze soll ein hochspannender Computer-Thriller werden, darum fände ich die Gegenwart auch recht passend.
Im Wesentlichen wird es also Texte geben, wie "Mein kleiner Finger zittert widerwillig, als ich auf die Enter-Taste drücken will. Was wenn das nicht klappt? Verflucht, ich darf nicht zögern, es muss jetzt sein. Jetzt oder nie!" - Also eine Mischung von dem was sie sieht, was sie tut und dem was sie denkt. So weit, so gut.
Jetzt die Frage: An einigen Stellen drängen sich Textstellen auf, in denen die Protagonistin den Leser direkt ansprechen könnte, und wo ich das Gefühl habe, das gäbe der Sache Mehrwert. Würde euch das rausreißen?
Fühlt sich das für euch komisch an, wenn die Szene da oben beispielsweise als nächstes so klingt?: "Haben Sie mal jemanden mit dem Computer getötet? Das klingt bedeutend einfacher als es in Wahrheit ist. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Meine Entertaste ist nichts anderes, als der Abzug am Revolver von Maximilian Kramm."
Und falls ihr das ganz interessant findet, wie ist im Vergleich diese Variante? Da habe ich mal den Tonfall an die Heldin angepasst: "Hast du schon mal jemand mit dem Computer getötet? Das klingt echt einfacher als es in Wahrheit ist. Ich sag dir was: Meine Entertaste ist nichts anderes, als der Abzug am Revolver von Maximilian Kramm."

Alana

#198
Das käme drauf an, wie es gemacht ist. Ich kann mir das prinzipiell schon vorstellen. Ein Problem sehe ich darin, dass der Leser differenzieren müsste zwischen Stellen, wo er angesprochen ist und wo die Protagonistin jemand anderen anspricht. Ob mich sowas aus dem Lesefluss reißen würde, kann ich so ganz schwer sagen. Ich mag Filme nicht so, bei denen dieser Effekt eingesetzt wird, aber auch da gibt es Ausnahmen. Deine Beispielsätze klingen durchaus vielversprechend.
Alhambrana

Sanjani

Hallo pinkes Paulchen :)

puh, ich glaube, das ist ganz stark Geschmacksache. Ich z. B. lese keine Bücher, die in der Gegenwart geschrieben sind. Ja, wir haben auch einst im Deutschunterricht gelernt, Präsens bringt die Leute näher ran und so, aber ich kann dem absolut nix abgewinnen, weil ich finde, dass die deutsche Sprache im Präsens auch ganz fürchterlich klingt. Also für mich wär das schon mal das erste No-go.

Jemanden als Leser anzusprechen mag ich persönlich auch nicht besonders. Und wenn du es machen wolltest, dann noch eher in der Du-Form als in der Sie-Form. Ich finde, Sie klingt so distanziert und kontrolliert und gerade bei dem, was du da schreibst, passt das für mich nicht. Sie würde für mich auf jeden Fall eher die Spannung herausnehmen. Du würde ich vermutlich akzeptieren, aber einen Mehrwert hätte es für mich nicht. Ich finde so was eher albern.

Ich weiß nicht, was die Literaturwissenschaft zu so etwas sagt, aber ich persönlich mag beides nicht besonders. Ich fürchte, das ist jetzt nicht so hilfreich für dich :( Du wirst immer Leser finden, die es mögen, und solche, die es nicht mögen.

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Coppelia

Die Literaturwissenschaft sagt: ;)
Alles ist möglich, und das Ansprechen des Lesers ist zwar in heutigen Büchern eher aus der Mode gekommen, war aber noch vor einigen Jahrzehnten relativ üblich, und davor war es gang und gäbe. Mach es, wie du willst, und wenn ein Lektor später möchte, dass du es änderst, ändere es, wenn es dir nicht so wichtig ist.

Worin genau siehst du denn den Mehrwert?

Naudiz

#201
Mich als Leser würde so ein direktes Ansprechen nicht stören. Im Gegenteil, in manchen Romanen mag ich das sogar sehr gern. Neil Gaiman macht das ab und an, und auch in meinem Gegenwarts-Roadtrip-Roman findet es Verwendung. Im Großen und Ganzen kommt es aber wohl, wie Sanjani schon sagte, stark auf den jeweiligen Geschmack an. Manche mögen es, manche nicht. Ein Risiko besteht da immer.

Angela

Wenn das von Anfang an so läuft, finde ich es in Ordnung. Man darf nur nicht das Gefühl bekommen, das es nur dazu dient, Dinge zu erklären, die man sonst nicht versteht. Eher wie ein gleichberechtigter Dialog mit nur einer Person, oder so.

pink_paulchen

Aha, also die Mehrheit reisst es nicht aus dem Fluss. @Coppi: Ich habe das Gefühl die Heldin wird für den Leser realer. Sie spricht mit mir, das rückt mich irgendwie ran...schwer zu sagen.
@Alana: Ich glaub, dafür brauch ichs nicht. Immerhin könnte sie ja auch alles für sich denken, was sie zum Leser sagt.

Verwirrter Geist

Ich ganz persönlich mag es nicht, direkt angesprochen zu werden, weil es mir als Leser meine eigene Position raubt. Ich lasse mich zwar auch gerne in eine Geschichte saugen, möchte aber selbst entscheiden, wie und wann ich das zulasse. Ein solches direktes Ansprechen des Leser setzt imho eine bestimmte emotionale Komponente vorraus, die ich nur bei sehr wenigen Büchern auch empfinden würde.
Aber ganz grundsätzlich spricht natürlich nichts gegen diese Variante und ich kann mich aus meinen Literaturkursen erinnern, dass es insbesondere Anfang des letzten Jahrhunderts total "hip" war.

Alessa

#205
Mh? Als Leser würde ich persönlich erst einmal überrascht sein und vielleicht sogar aus dem Lesefluss fallen. Denn wenn ich mich erst einmal so richtig in die Perspektivträgerin hineinversetzt habe, dann fühle und denke ich mit ihr und eine direkte Frage von der Heldin an mich, also den Leser, würde mich aus diesem Verhältnis hinauswerfen. Denn damit werde ich wieder der 'bloße' Leser, der der die Zeilen einfach nur liest und nicht das gleiche 'im Kopf' erlebt, wie die Protagonistin.

Amaya

#206
Ich persönlich versuche gerade auch eine Geschichte in der Ich-Perspektive, aber nicht aus Sicht der Heldin zu schreiben und finde es ziemlich schwer, weil sich besagte, erzählende Figur frecher Weise immer mehr in den Vordergrund drängelt.
Nicht gerade leise Stimme aus dem ...*räusper räusper*... Hintergrund: Was, ich bin nicht die Hauptperson?

Rynn

Ich würde das, was Alessa gesagt hat, gern noch mal betonen. Das kann ich nämlich nur unterschreiben. Genau davor würde ich auch warnen: Durch einen Ich-Erzähler im Präsens kommst du unheimlich nah ran, lässt den Leser total im Text versinken – und zerstörst dir diesen tollen Effekt, sobald du mit irgendwelchen Anreden daherkommst. Ich liebe Ich-Erzähler, ich liebe Ich-Erzähler im Präsens, und auf mich persönlich wirkt direkte Anrede meistens (nicht immer, aber doch eben meistens) wie schlechter Stil. Und dann gerade bei einem Ich-Erzähler? Das passt für mich absolut nicht.
»Dude, suckin' at something is the first step to being sorta good at something.« – Jake The Dog

Amaya

Es ist vielleicht nicht so schwer für den Leser, wenn man den (oder doch das) Präsens weglässt und die Ich-Person als Erzähler mit Kommentaren und so einbaut.
Ein personifizierter Erzähler eben.

HauntingWitch

Ich würde die Anreden weglassen, aus einem ganz einfach Grund: Du möchtest das so beschreiben, als ob sie es genau jetzt in dieser Sekunde erlebt, richtig? Sprichst du in deinen alltäglichen Gedanken irgendeinen fiktiven Leser an?  ;)

Etwas anderes wäre es, wenn deine Protagonistin eine Erzäherin ist, die sich bewusst an den unbekannten Leser oder Zuhörer wendet, à la: "Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Vielleicht haben Sie selbst schon einmal..." ...blablabla. Das wirkt unterschiedlich.

(Also persönlich mag ich ja das Präsens nicht so, aber ich denke, das ist wirklich Geschmackssache.)