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Historisch vs. fiktiv: Die Rolle der Recherche

Begonnen von Coppelia, 25. November 2013, 17:02:02

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Coppelia

Als Wissenschaftler würde ich doch sagen: Fantasy ist einfacher als "realistische" Literatur, zumindest dann, wenn die realistische Literatur nicht nur das behandeln soll, womit man sich selbst schon aus seinem Alltag her auskennt (z. B. ein Roman über jemanden, der zur Schule geht und dort Dinge mit seinen Freunden erlebt, wäre natürlich für einen Schüler leicht zu schreiben). Würde ich anstelle meiner Antike-Fantasy-Romane aber historische Romane schreiben, müsste ich dafür extrem viel mehr recherchieren. Wobei man allerdings auch sagen muss, ich habe natürlich berufsmäßig schon viel Wissen aufgeschnappt, das in meine Fantas-Romane einfließt, und je mehr man weiß, desto mehr ist einem klar, wie wenig man weiß.

Fianna

#1
Ich stimme da nicht überein, aber vielleicht habe ich mich da unklar ausgedrückt.

Klar, historische Romane schreiben ist anstrengend. Viel zu recherhieren.
Aber der Gedanke war ja, dass man mit der Pippi-Langstrumpf-Methode (Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt) kaum Aufwand hat bei Fantasyliteratur.

Und ich finde, wenn man eine Welt erschafft, die nicht auf diesem mittelalterlichen Bild beruht, ist das vom Arbeitsaufwand vergleichbar. Alle Elemente einer Welt (Medizin, Militär, Justiz, Politisches System, Bildungswesen, Soziale Ränge... etc) beeinflussen sich gegenseitig. Wenn man einen Fakt festsetzt, legt das direkt zugrunde liegende Strukturen fest - und die Existenz solcher Strukturen verhindert das Vorhandensein bestimmter Dinge bei anderen Elementen oder legt da etwas fest.... Eine "funktionierende" Welt zu konstruieren, eine wirklich glaubhafte Welt, ist vom Arbeitsaufwand vergleichbar (auch wenn man sich nur auf plotrelevante Dinge beschränkt).  Weil man auch da viele Dinge wissen muss, die in Abhängigkeit zueinander stehen.
Es ist natürlich eine andere Art zu arbeiten und zu recherchieren - vom Zeitaufwand aber vergleichbar.
Archäologen und Anverwandte können das aber ganz gut abkürzen, weil sie viele real existierenden Kulturen analysiert haben und viele Abhängigkeiten dieser Elemente kennen. Sie wissen, welche Zahnräder sich gegenseitig beinflussen im Uhrwerk (Fantasy-)Welt.

Wenn jetzt aber jemand ganz Fachfremdes und ohne grosse Neigung dazu für einen Roman recherchiert, macht die Vorbereitung für einen Roman in einer dem Autor unbekannten Epoche sowie ein Fantasyroman mit eigener Welt nach nicht-mittelalterlichen Strukturen dieselbe Arbeit - vom Zeitaufwand her.
So meinte ich es.

Deswegen lehnen sich Fantasyautoren ja so gerne an bestimmten Zeiten an, weil schon eine Struktur vorgegeben ist. Ich meinte "freihändig" erschaffene Welten.

Coppelia

Weltenbasteln ist sehr aufwändig, das sehe ich auch so. Ich mache es auch bereits sehr lange und weiß, wieviel Kreativität und am besten auch Allgemeinwissen in erfundene Welten fließen muss. Aber es besteht trotzdem ein großer Unterschied, ob man sich ein Detail einfach zurechterfinden kann oder ob man für jedes winzige Detail gesondert recherchieren muss. Das betrifft Details beim Schreiben, aber auch für die großen Zusammenhänge sehe ich es ähnlich. Es verlangt einem meiner Ansicht nach mehr Leistung ab, sich in eine Person hineinzuversetzen, die in einer anderen Epoche gelebt hat, religiöse, politische, wirtschaftliche usw. Zusammenhänge zu verstehen, die tatsächlich existiert haben, als sich diese Zusammenhänge selbst auszudenken. Wenn man dabei allerdings von den Grundprinzipien keine Ahnung hat, kommt natürlich weder in einem historischen Roman noch in einem Fantasysetting etwas Sinnvolles heraus. :) Vielleicht ist es das, was du meinst - dass man sich erstmal ein grundsätzliches Verständnis von solchen Zusammenhängen aneignen muss.
Wenn du aber jetzt z. B. das Rechtssystem eines Landes in einer Fantasywelt erfunden hast, kannst du eine Szene schreiben, die vor Gericht spielt. Details denkst du dir dann einfach aus. Wenn ich eine Gerichtsszene im alten Rom schreiben will, lese ich lieber vorher ein paar Bücher, ehe ich die Zeugen an der falschen Stelle ihre Aussagen machen lasse. Vielleicht habe ich aber auch nur panische Angst vor Fehlern. ;)

Das soll aber keineswegs die Arbeit einer historisch recherchierenden Person aufwerten und die eines Weltenbastlers abwerten. Weltenbastler leisten gerade durch ihre Kreativität einen wichtigen Beitrag. :)

Fianna

Ich finde das mit dem "Hineinversetzen in die Person..." eigentlich vergleichbar...
Ein Freund (Larper) ärgerte sich mal darüber, dass ihm bei Cons wenig Elfen begegnen, sondern vor allem Menschen mit spitzen Ohren.
Ähnliches beobachte ich als Leser: erst, als ich zwei Bücher eines für mich neuen Genres verglich, fiel mir auf, dass es dort genau dieses Hineinspüren und somit Darstellen einer anderen Kultur gab.

Am Genre liegt es vermutlich nicht, da es nur nach meiner Definition ähnlich ist. Ich hatte im Kaffeeklatsch-Thread um Hilfe bei der Bestimmung gefragt, und da waren einige Namen im Umlauf, z.b. Cyberpunk (aber nur für eines der Bücher).

Seitdem habe ich ein wacheres Auge, aber ich denke, bei den meisten Fantasybüchern, an die ich mich in diesem Punkt nicht gut genug erinnere, wird das nicht so meisterhaft ausgeführt sein.
Bücher, bei denen das der Fall ist, stossen aus der Masse heraus.

Vielleicht absichtlich, denn wenn ein Autor so etwas darstellt, ist es auch aufwändiger, die Figur trotzdem für den Leser nachvollziehbar zu machen. Vielleicht ist es von Verlagsseite auch nicht gewünscht, da man fürchtet, zu viele Leser würden von der Fremdheit abgestossen sein - oder andere Bücher bevorzugen.

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass es in vielen Büchern nicht vorkommt. Gerade bei historischen Romanen war es ja bis vor kurzem Mode, relativ moderne Menschen in eine pseudohistorische Kulisse zu stecken (diese Mischung aus "dreckiges, brutales Mittelalter" und "Eine starke Frau behauptet sich").

Kati

Ich glaube Coppelia meinte, dass bei einem historischen Roman das Problem besteht, dass man sich nicht einfach ausdenken sollte, was passiert, wenn man mal nicht weiterweiß. Natürlich muss in einer Fantasywelt auch alles ineinandergreifen, aber wenn ich da nicht weiß, wie eine Gerichtsverhandlung aufgebaut ist, kann ich mir das einfach ausdenken. Weiß ich das bei einem historischen Roman nicht, kann ich mir das nicht einfach ausdenken, ich muss es nachlesen, damit es einigermaßen authentisch wirkt und mir nicht hinerher einer reingrätscht, weil ich das falsch gemacht habe. Das bedeutet nicht, dass ein historischer Roman mehr Aufwand erfordert als ein Fantasyroman. Aber es ist einfach nicht dasselbe. Sich in andere Kulturen einzufühlen ist meiner Meinung nach etwas völlig anderes, wenn die Kultur schon abgeschlossen besteht (sagen wir altes Rom) und ich mich da reinfuchsen muss, oder ob ich mir die Kultur Stück für Stück schlüssig ausdenken muss. Wenn die Kultur aus meinem Kopf kommt, ist das was anderes, als wenn sie schon besteht und ich mich darin zurechtfinden muss. Beides ist mühsam und ein großer Arbeitsaufwand, aber es ist nicht dasselbe.


Coppelia

#5
Zum Thema Aufwand möchte ich eigentlich nicht mehr so viel beitragen, weil es sonst zu sehr ot wird.
Und ich stimme Fianna zu: Das Hineinversetzen in eine Person ist eine schwierige Aufgabe, die aber im Fall historischer Roman (theoretisch zumindest) sehr viel mehr Hintergrundwissen erfordert. Aufmerksamkeit, Intelligenz und Einfühlungsvermögen erfordert sie sicher gleich viel. Wenn man bei dieser Aufgabe versagt, sind Personen die Folge, die nicht in ihre Welt und ihr Setting passen (und, ja, ich denke auch, dass Verlage das manchmal wollen, weil die Leser nicht bereit sind, sich in eine Person mit fremdartigen Ansichten hineinzuversetzen).

Kati hat zum Teil erfasst, was ich sagen wollte.

Ich kann mir vorstellen, dass viele "historische" Romane mit wenig Recherche geschrieben werden. Ich habe auch schon häufiger folgende Erfahrung gemacht: Ich recherchiere für meinen historischen Roman aus dem römischen Bürgerkrieg, den ich irgendwann mal schreiben will. Ich erzähle jemandem, welches historische Detail mir fehlt. Diejenige Person sagt: "Das war doch so und so!" Ich frage: "Woher weißt du das?" Er antwortet: "Hab ich vor 10 Jahren mal bei einer Doku gesehen." Okay, well. Ich könnte jetzt einfach denken "super, dann mach ich das so, die Doku wird schon Recht gehabt haben". Vielleicht habe ich die Doku auch gesehen oder das Detail schon einmal in einem populärwissenschaftlichen Artikel genauso gelesen. Aber ich kann das nicht so einfach akzeptieren. Ich weiß, wie solche Dokus zustande kommen (Profs in meinem Umkreis, die bereits daran mitwirken durften, haben es mir erzählt), ich weiß, dass es zu einem historischen Thema bestimmt 10 unterschiedliche wissenschaftliche Theorien gibt, je weiter es zurückliegt, desto mehr. Vielleicht sollte ich mir einfach 2 populärwissenschaftliche Bücher durchlesen, 3 Dokus ansehen und den Rest mit Fantasie auffüllen. Aber zumindest ich kann das nicht. Für meinen Bürgerkriegs-Roman recherchiere ich seit über 4 Jahren und bin weiter davon entfernt denn je, jemals damit anzufangen. Viele Details kann man nicht einmal irgendwie nachlesen, sondern kann den konkreten Umgang mit bestimmten Themen von bestimmten Personen nur erschließen - aber dazu braucht man möglichst alle Originaltexte, die sich auch nur entfernt mit dem Thema befassen, und mehrere wissenschaftliche Arbeiten. Die Realität ist so unfassbar kompliziert, so voller Details, auf die man in seinen kühnsten Träumen nicht gekommen wäre, dass es viel einfacher wäre, das alles zu erfinden - und wenn ich Fantasy schreibe, kann ich das. Das ist auch einer der Gründe, warum ich noch immer Fantasy schreibe. Letzten Endes kann man es natürlich auch in historischen Romanen, aber für mich wäre das eher nichts.
Dazu kommt, dass man komplexe Zusammenhänge in Fantasy sehr stark "herunterbrechen" kann. Das ist natürlich auch in historischen Romanen möglich und vielleicht sogar erwünscht. Aber in Fantasy finde ich persönlich es viel eher akzeptabel.

Vielleicht ist der Eindruck, dass historische Romane unendlich viel mehr Aufwand erfordern als Fantasyromane, daher auf meinen wissenschaftlichen Hintergrund zurückzuführen und auf die Ansprüche, die ich an historische Romane stelle - und andere Personen würden nicht viel mehr Aufwand in einen historischen Roman hineinstecken, als wenn sie sich eine Geschichte komplett ausdenken würden.

Vielleicht meinst du Folgendes, Fianna: Du musst dich in einer Fantasywelt so auskennen wie in einer historischen Welt, um eine gute Geschichte zu erzählen. Dazu musst du dir alles genau ausdenken, was viel Aufwand ist, während du es für einen historischen Roman wissenschaftlich recherchieren musst, was auch viel Aufwand ist.
Bei mir geht das Ausdenken extrem viel schneller als das Recherchieren und hat den Vorteil, dass es dazu auch nicht mehrere Theorien geben kann. :)

Und jetzt bin ich still und weiche nicht noch mehr vom Thema ab.

Fianna

Ich habe bei Amazon 5 Buchlisten für Fachbücher, mit unterschiedlichen Titeln (einige projektbezogen, einige thematisch) und wenn ich in Leipzig meinen Freunden erzähle, dass ich jetzt schon Bücher für etwas sammel, was ich nur vllt mal schreiben werde, halten die mich für den grössten Freak von sich :D


Eigentlich wollte ich zu dem Thema ja nichts mehr sagen, aber nachdem Coppi mich so falsch verstanden hat, muss ich nochmal erwidern.

Als Fantasyschreiber hast DU einen enorm grossen Vorteil, nämluch den historischen Hintergrund. Du hast dadurch ein Gefühl dafür, welche technologischen, wissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen etc Dinge stimmig zusammen passen. Du weisst, wie man den Unterhalt eines stehenden Heeres zusammen bekommt und dass ein Heer vor allem erstmal hohe Kosten, viel Verwaltungsaufwand und dementsprechend einen gewissen Bildungsgrad in der Bevölkerung bedeuten.

Jemand komplett ohne historischen Hintergrund hat das nicht. Der mischt evt stehendes Heer mit einem politischen System ohne so durchmischte Steuererhebung, lässt eine vormoderne Gesellschaft zu Meistern der Inneren Medizin werden oder sonstwas.
Jemand, der sich nicht mit Geschichte auskennt und freihändig eine Welt erschafft, wird alles Mögliche recherchieren. Der sucht nach einem passenden Militärbeispiel, stösst vielleicht auf Henry Plantagenet und die Rechtsreformen. Geldstrafen, klar, allein mit Steuern und Beute kann man sowas nicht finanzieren, super Idee. Dann braucht man aber eine Legion von Schriftkundigen für Verwaltungsapparat und Justuz und eine entsprechende Alphabetisierung in der Bevölkerung - das kann jetzt nicht nur die Sache von ein paar Rittern und dem Königshaus und Klerus sein.
Heer bedingt Alphabetisierung? Wahnsinn!!

Wer freihändig eine glaubhafte Welt erschaffen will, der muss nicht nur viel ausdenken, sonden auch viel recherchieren. Ausser er hat entsprechenden Hintergrund und kann technologische, wissenschaftliche (...) etc Dinge ohne  grosse Recherche in Einklang bringen.

Coppelia

#7
Das ist jetzt auch der letzte Post zum Thema, versprochen. :)
Ich glaube nämlich nicht, dass ich dich falsch verstanden habe, Fianna. Man braucht ein gutes Allgemeinwissen über Politik, Gesellschaft usw., um eine glaubhafte Fantasywelt und einleuchtende politische Vorgänge und Zusammenhänge in dieser Welt zu beschreiben. Geht es um Details, braucht man auch ein mehr oder weniger großes Detailwissen. Ja, es ist viel Aufwand, sich dieses Wissen zu erwerben (Ich bin übrigens auch keine Historikerin, sondern Latinistin. ;)).
Beim historischen Schreiben - und das ist das, worauf ich hinaus will - braucht man genau dieses Allgemein- und Detailwissen ebenfalls. Plus zusätzliches spezifisches Wissen zu dem historischen Setting, in dem man arbeitet. Und dieses zusätzliche Wissen erfordert zusätzliche Recherche von z. T. immensen Ausmaßen und macht es in meinen Augen schwieriger, historische Stoffe zu bearbeiten. Schwierig und arbeitsaufwändig ist beides.

Ich hoffe, es ist jetzt klar, was ich meine. Es ist ja auch nur meine Meinung. :)

Judith

Ich stimme da Coppi zu.
Genau deshalb traue ich mich nämlich nicht über historische Romane drüber - dabei habe ich für meine Fantasywelt auch schon sehr, sehr viel Zeit in Recherche gesteckt und muss mir sehr oft auch Detailwissen zu den unterschiedlichsten Themen anlesen.
Trotzdem hat man eben die Freiheit, gewisse Details zu erfinden. Meine Welt lässt sich großteils mit Antike/Frühmittelalter vergleichen. Wenn ich nun z.B. das Innere eines Hauses beschreiben möchte, dann stelle ich mir vor, was passend wäre, welche Möbel zu einem antiken Setting passen und wie vielleicht der Wandschmuck in der Gegend und Zeit aussieht.

Mache ich dasselbe in einem historischen Setting, kann ich mit so "pi mal Daumen" nicht arbeiten, wenn ich wirklich gewissenhaft sein möchte. Ich muss erst mal schauen, welche Möbel in genau dieser Zeit und Region wirklich verwendet wurden und auf welche Weise z.B. die Wandmalerei ausgesehen hat (1. pompejanischer Stil vielleicht oder ganz anders?), ob es Belege gibt, dass man zu der Zeit wirklich schon Fensterglas in Privathäusern verwendet hat usw.

Für beide Hausbeschreibungen brauche ich ein Gefühl für die Epoche und brauche erst einmal ein allgemeines Wissen darüber. Aber für den historischen Roman muss ich darüber hinaus noch viel mehr recherchieren, was ich im Fantasysetting einfach festlegen kann, wenn es denn in sich stimmig ist.

Und das ist ja jetzt nur ein kleines Beispiel.

Fianna

Auch bei dem Ausdenken von Räumlichkeiten ist es mit "Was passt denn jetzt gut?" bei mir nicht getan.
Ich finde, was phantastischen Welten.im Vergleich zu historischen Welten viel Glaubwürdigkeit nimmt, ist Wandel und Entwicklung.... und diese vielen kleinen (teilweise skurillen) Details, die eine real existierende, gewachsene Welt bietet. Und auch das muss alles im Einklang zu dem Rest stehen.

Und dass die Arbeitsweise verschieden ist, habe ich niemals bestritten!
Ich rede immer nur vom reinen Zeitaufwand und von der Notwendigkeit, auch bei Fantasy zu recherchieren.

Cailyn

Coppelia,
Ich denke, was wir alle bei diesem Thema (Historisch oder Fantasy) ausser Acht lassen ist, dass es auch darauf ankommt, wie detailliert diese Welten überhaupt dargestellt werden. In einem Historienroman wie auch in einem Fantasybuch kann man sich auf wenige Elemente beschränken (was natürlich erfordert, dass die Handlung diesem Mimimizing angepasst wird). Aber nehmen wir das Beispiel "Das Lied von Eis und Feuer". Ich kann mir kaum vorstellen, dass George R.R. Martin (Fantasyautor) weniger Recherche betreibt als eine Diana Gabladon (Highland-Saga, historische Fantasy). Wirklich nicht. Und dass z.B. Bernard Cornwell (eher in der historischen Ecke) mehr Aufwand betreibt als Monika Felten (Fantasy), dünkt mich auch offensichtlich. Ein Vergleich der Recherche-Herausforderung ist deshalb gar nicht erbringbar, weil es nämlich darauf ankommt, inwieweit der Autor / die Autorin ihre "Welt" überhaupt darstellen will und tut.

Ausserdem denke ich, dass sich innerhalb der Recherche auch wieder Unterschiede ergeben. Wenn ich einen Historienroman schreibe, muss ich wirklich ein Sammelsurium von Informationen suchen. In einem Fantasybuch, das im Mittelalter spielt, muss ich das zwar auch, aber ich kann das Geschichtliche gleich weglassen, da ja selber erfunden. Dafür erfordert das Fantasy-Schreiben viele Entscheidungen. Als Beispiel: Ist Glas in meinem "Parallelmittelalter" schon erfunden worden? Wie werden Stoffe gewoben? Gibt es Wasserleitungen? etc. Wenn ich all dies entscheiden will, muss ich - genau wie ein Historienromanautor - dies in Sachbüchern rund ums Mittelalter recherchieren, um abzuwägen, ob das in meine erfundene Welt überhaupt passt oder nicht. Natürlich könnte man es sich als Fantasyautor einfacher machen, aber das heisst ja nicht, dass die meisten das auch tun.

Daher ist mein Fazit: Nein, Fantasysomane sind nicht per weniger komplex und aufwändig in der Recherche als Historienromane. Es kommt einfach darauf an, inwiefern der Schreibende die Recherche treibt. 

Coppelia

#11
Bei den historischen Romanen dürfte der Rechercheaufwand auch vom gewählten Stoff abhängen. Wenn man einen Roman in einem beliebigen Dorf mit unbekannten Hauptpersonen schreibt, dürfte das weniger Aufwand erfordern, als wenn man über prominente historische Personen in bekannten Kulturzentren schreibt.

Ich glaube allerdings, dass wir hier auf keinen gemeinsamen Nenner mehr kommen, was vielleicht an meinem wissenschaftlichen Hintergrund liegt und an dem Anspruch, den ich persönlich an historische Recherche stellen würde.

Kati

Zitat von: CoppeliaIch glaube allerdings, dass wir hier auf keinen gemeinsamen Nenner mehr kommen, was vielleicht an meinem wissenschaftlichen Hintergrund liegt und an dem Anspruch, den ich persönlich an historische Recherche stellen würde.

Ich denke, das ist ganz entscheidend. Ich bin auch jemand, der alles mögliche recherchiert, um die Fakten, aber auch besonders das Gefühl der Zeit richtig darzustellen und ich denke schon, dass das aufwendiger ist, als einen High-Fantasy-Roman zu schreiben, in dem wirklich alles selbst ausgedacht ist. Ich kann's nur nochmal sagen: Auch, wenn ein Fantasyroman richtig viel Recherche erfordert, braucht man doch nur die groben Sachen nachzuschlagen. Klar muss man schauen, dass der Aufbau eines Heers möglichst logisch erscheint und man kann sich von mittelalterlicher Inneneinrichtung und Architektur inspirieren lassen, aber der große Unterschied ist, dass das alles kein zwingendes Muss ist. Eine phantastische Welt entsteht im Kopf des Autors. Er kann selbst bestimmen, welcher Zeitgeist herrscht, wie die Mode aussieht, was für politische Verhältnisse herrschen und wer prominente Figuren sind.

Bei einem historischen Roman ist das alles nicht möglich. Eine historische Epoche ist immer etwas abgeschlossenes, das außerhalb vom Autor existiert und woran nichts zu rütteln ist. Zeitgeist, Mode, Politik und bekannte Figuren sind vorgeschrieben und es kann sehr knifflig sein all das so richtig wie möglich darzustellen und die Atmosphäre der Zeit einzufangen. Dass das schwer ist, sieht man an den vielen Histos, in denen Figuren mit modernem Gedankengut herumlaufen, ein Klischee das nächste jagt und sich grobe Schnitzer aneinanderreihen. Na klar kann es sein, dass besonders bei den Figuren das auch Absicht ist, damit der Leser sich mit der Figur identifizieren kann, aber bei einigen Kandidaten wäre ich mir da nicht so sicher.

Also ja, ich stimme zu, dass es aufwendiger ist für einen historischen Roman zu recherchieren. Ich denke aber nicht, dass es leichter ist einen Fantasyroman zu schreiben. Egal welches Genre man schreibt, jedes hat seine Tücken und eine in sich stimmige Welt zu schaffen ist sehr schwer. Ich zum Beispiel kann es nicht. Aber ich denke halt, je mehr Freiraum sich etwas selbst auszudenken man hat, umso weniger Rechercheaufwand muss man betreiben. Das ist für mich eigentlich ganz logisch. Allerdings sagt der Rechercheaufwand längst nichts darüber aus, wie einfach oder schwer es am Ende ist, den Roman auch zu schreiben. Nur muss man immer bedenken: Die meisten Histo-Schreiber lesen nicht fünf Monographien und schreiben dann los. Sie versuchen sich vorher so gut in die Zeit einzufühlen, dass sie auch aus heutiger Sicht Handlungen, Geisteshaltungen und dergleichen der Menschen verstehen können. Und das ist ein sehr aufwendiger Prozess, an dem ich zum Beispiel seit Jahren knabbere. Ich fühle mich auch erst seit ein paar Monaten wirklich sicher auf meinem Gebiet, obwohl ich bereits vier, fünf Jahre recherchiere.

Recherche ist mehr, als ein paar Fachbücher lesen, jedenfalls sollte sie das sein, mit trockenem Buchwissen kommt man nicht weit, wenn man einen lebendigen Roman schreiben will. Und ich denke halt einfach, dass es theoretisch aufwendiger ist, sich in einer komplexen Epoche, wo eigentlich alles festgelegt ist, zurechtzufinden, als die Möglichkeit zu haben, sich theoretisch alles selbst auszudenken. Auch, wenn für Fantasy auch recherchiert werden muss, ist das doch wirklich eine viel weniger detaillierte Recherche, weil man sich eine Menge selbst ausdenkt. Sonst wäre es ja kein Fantasy mehr.

Valaé

Ich danke erstmal für diesen tollen Thread. Ich musste beim Lesen der bisherigen Beiträge mehrfach schmunzeln, weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass hier teilweise etwas unterschiedliche Sachen verglichen werden. Zugrunde lege ich einmal folgende Aussage:
ZitatVielleicht ist der Eindruck, dass historische Romane unendlich viel mehr Aufwand erfordern als Fantasyromane, daher auf meinen wissenschaftlichen Hintergrund zurückzuführen und auf die Ansprüche, die ich an historische Romane stelle - und andere Personen würden nicht viel mehr Aufwand in einen historischen Roman hineinstecken, als wenn sie sich eine Geschichte komplett ausdenken würden.
Ja, ganz sicher ist er das sogar. Vor allem, weil gerade in diesem Zusammenhang gerne Äpfel mit Birnen verglichen werden. Legt man einen historischen Roman zugrunde, der mit einem wissenschaftlichen Anspruch recherchiert wurde und vergleicht ihn mit einem handelsüblichen Fantasyroman - der Vergleich hinkt gewaltig. Ja, hier stimme ich absolut zu, dass der historische Roman mit wissenschaftlichem Anspruch mehr Recherche erfordert als der Fantasyroman, der sich seine Welt hinbiegt, wie es ihm passt, grob den Regeln der Logik und Vorbildgesellschaften folgend - wie es die allermeisten Fantasyromane nun einmal tun. Mir (und so wie ich es verstehe auch Fianna) kräuseln sich aber gelinde gesagt die Zehennägel bei derartigen Welten - genauso wie bei mittelmäßig recherchierten Historienromanen. Worauf ich hinaus will ist der Anspruch, mit dem geschrieben wird. Man kann einen wissenschaftlich recherchierten historischen Roman vom Aufwand nicht mit einem mittelmäßig gebauten Fantasyroman vergleichen. Entweder man vergleicht mittelmäßig mit mittelmäßig - oder wissenschaftlich fundiert mit wissenschaftlich fundiert. Und allein die Tatsache, dass es wohl bisher nur einen einzigen Fantasyroman gibt, der wirklich eine Welt hervorgebracht hat, in der man wissenschaftliche Arbeit leisten könnte (und kann - wenn auch auf einem recht niedrigen Niveau) zeigt vielleicht schon, dass es nahezu unmöglich ist, diese Arbeit zu leisten - eine Welt zu schaffen auf wissenschaftlichem Niveau.

Vorneweg: Ich bin leidenschaftliche Weltenbastlerin. Ich habe High Fantasy lange Zeit geschrieben. Was ich aber mit vollem Herzen bin ist Germanistin, genauer gesagt Mediävistin. In wissenschaftliches Arbeiten und seine Auswüchse habe ich also einen sehr großen Einblick und gerade, da ich mich in letzter Zeit viel mit dem 6.-9. Jahrhundert beschäftigt habe, kenne ich auch viele Problematiken wie fehlende Quellen, widersprüchliche Theorien, Quellen in Fremdsprachen (und damit meine ich jetzt nicht Latein, Französisch oder Englisch ... eher am Rande, das sind ja Sprachen die man noch hinkriegt), die nicht übersetzt sind, fehlende Überlieferungen und vor allem das große: Es könnte so gewesen sein ... oder vollkommen anders. Will man sich da wirklich fundiert einfuchsen ... das ist ein Fass ohne Boden. Und wenn man da einmal durch ist liegt darunter sicher noch ein zweites ... und ein drittes ...  Man merkt meistens gerade dann, wenn man da angekommen ist, wo man am Anfang hinwollte, dass man gerade einmal den Staub von einer riesigen Truhe gekratzt hat.

Aber nun das Witzige: Ganz genau so. Und ich wiederhole: Vollkommen genauso geht es mir mit meinen Fantasy Welten. Der Grund? Ich gehe mit einem wissenschaftlichen Anspruch heran. Ich habe an mich selbst durch meine wissenschaftliche Arbeit den Anspruch, meine Welten in einer ähnlichen Komplexität, Detailreiche und Logik zusammenzubauen wie ich es für einen historischen Roman verwenden würde. Und so wie du sagst, Coppelia, dass du seit 4 Jahren für einen historischen Roman recherchierst sitze ich seit nunmehr 6 Jahren an einer Fantasywelt - und ich bin weiter als jemals zuvor davon entfernt, darin einmal wirklich einen meiner Meinung nach veröffentlichungsfähigen Roman spielen zu lassen. Ich würde mich schämen, wenn ich das auf die Welt loslassen würde, was ich bisher zusammengeschrieben habe (und ich habe eine Ordnerlandschaft von mehreren hundert Dateien zu allem Möglichen ... ). Die Fachbücher, die ich bisher zur Erstellung dieser Welt lesen musste, kommen etwa auf dieselbe Anzahl, die ich für meine wissenschaftliche Arbeit brauche - auch wenn sie sich sogar teilweise überschneiden.

Aber das sind erst einmal nur meine Erfahrungen, kommen wir zu den Thesen und Gründen, die mich diese Erfahrungen machen lassen:

Eine Fantasywelt, kann von vornerehein schon einmal auf zwei Arten gestaltet sein: a) Sie ist eine Nachbildung der realen Welt zu einer gewissen Epoche, mit leichten Veränderungen durch die Existenz von magischen Wesen oder b) Sie orientiert sich mehr oder weniger stark an der realen Welt und stellt vollkommen neue Regeln auf, die jedoch in ihrem Kern logisch sein müssen.

Folgen wir Fall a).
Warum in dieser Hinsicht, wenn man davon ausgeht, dass man mit einem wissenschaftlichen Anspruch an die Sache heran geht, der Rechercheaufwand mehr oder weniger schwer sein soll leuchtet mir nicht ein, denn
- Eine Nachbildung der realen Welt mit wissenschaftlichem Anspruch ist genauso aufwändig in der Recherche wie - naja eine Nachbildung der realen Welt mit wissenschaftlichem Anspruch. Hier haben wir keinen wirklichen Unterschied. Es gibt ja Fantasyromane, die (meistens eher vorgeben, dass sie es tun, aber der Versuch ist da) sich an die reale Historie halten und nur geringe Veränderungen vornehmen. Um die reale Historie mit demselben Anspruch zu schildern, müsste auch derselbe Aufwand, dieselbe Schwierigkeit gegeben sein
- dazu kommt jedoch, dass es ein paar Dinge gibt die anders sind und plausible Möglichkeiten gefunden werden müssen, wie diese in die so geschlossen funktionierende Wirklichkeit eingearbeitet werden können - dafür fallen möglicherweise aber nicht zwangsläufig ein paar Dinge weg, die ich nicht beachten muss, weil sie aufgrund der geltenden Veränderungen nicht mehr gültig sind
Beispiel: Man schreibt die Geschichte der Kreuzzüge um, indem man Drachen mit hinzunimmt (ich bin furchtbar im Beispiele erfinden)
Meine Ansprüche an mich selbst würden für eine solche Geschichte beinhalten:
1. Geschichte der Kreuzzüge, der Welt zu Zeiten der Kreuzzüge und der Folgen für die weitere Geschichte recherchieren - auf wissenschaftlichem Niveau. Samt zeitgenössischer Quellenrecherche etc., alles, was ich für eine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema eben auch machen würde, eher noch mehr, tiefgreifender. Auf jeden Fall bis ins kleinste Detail.
2. Mythische Recherche zur Figur der Drachen in verschiedenen Kulturen, vornehmlich aber in den Kulturen natürlich, die in meinem Roman eine Rolle spielen, auf wissenschaftlichem Niveau, besonderes Augenmerk auf die Frage, welches Drachenbild möglicherweise zu der Zeit, in der mein Roman spielt, gegolten haben sollte
3. Eigenleistung: Überlegungen, wie sich das ganze logisch und schlüssig zusammenfügen lässt, kleine Änderungen, Überlegungen welche Änderungen welche Folgen haben, möglicherweise weitere Recherche bezüglich Forschungen zu Folgen verschiedener Änderungen (so eine "kleine" Veränderung kann ja schließlich einmal schnell eine ganze Gesellschaft umwerfen ... und auch wenn man jetzt sagen kann: Aber die Folgen einer solchen Veränderung kannst du doch erfinden! NEIN! Kann ich nicht. Ich kann es deswegen nicht, weil sie den Regeln der Logik, der Gesellschaft in der mein Roman spielt und dem ganzen Zahnrädchen namens Welt dennoch verankert bleibt. Ich müsste mich vielmehr fragen, welche Art von echtem Geschehen meinem Szenario am ähnlichsten kommt und recherchieren, was hier die Folgen waren, das noch einmal ein wenig anpassen, abwägen was für mein Setting und mein Ereignis am logischsten wäre und erst dann kann ich das schreiben. Erfunden wird da nahezu gar nichts. Es sind eher Theorien, die auf kaum anderen Dingen beruhen, als die wissenschaftlichen Theorien, wie möglicherweise ein Text im 7. Jahrhundert entstanden ist: Man sehe sich den Text an (in diesem Fall fehlt dieses wichtige Element sogar oder ist als einziges überhaupt tatsächlich erfunden), man ziehe Vorläufer und Quellen heran (vergleichbare Begebenheiten, was eben am nähesten herankommt, oder falls da nichts vorhanden ist wissenschaftliche Spekulationen über Veränderungen) - wie leicht die zu finden sind ist übrigens unterschiedlich, man sehe sich die Umstände der Quellen an, die Autoren etc. (kommt bei vergleichbaren Ereignissen auf dasselbe heraus wie bei der wissenschaftlichen Arbeit, bei wissenschaftlichen Spekulationen wird es etwa genauso heikel wie bei sich widersprechenden Theorien) ... ich könnte die Liste ewig fortführen, was man da alles machen kann, was man machen sollte.

Unterm Strich: Eine riesige, hauptsächlich wissenschaftliche Arbeit, erfunden wird hier zu maximal 5%. Der Grund: Um etwas verändern zu können, sodass es logisch ist und schlüssig, muss ich erst einmal wissen, wie es wirklich war.

Gehen wir zu Fall Nummer b) Es handelt sich um einen Fantasyroman, der sich nur rudimentär auf die Historie stützt. Hier wird es für mein Empfinden noch heikler.
Die Schritte bleiben eigentlich dieselben, es ändert sich nahezu nichts, nur der Aufwand wächst ins Unermessliche. Der Grund?
Ich wiederhole: Ich kann nichts verändern, wenn ich nicht weiß, wie es wirklich war.
Wenn ich einen Fantasyroman schreibe, der sich grob auf die Kreuzzugszeit stützt, dann gehe ich da mit demselben Anspruch heran, wie wenn ich einen historischen Roamn darin schreiben wollen würde. Denn erst wenn ich weiß, wie es damals wirklich war - auch bis in die Details hinein, bis hinab zu den ältesten und wichtigsen Quellen - habe ich überhaupt erst einen wirklichen Blick darauf, was in dieser Zeit überhaupt möglich war, welches das Grundzeug ist mit dem ich arbeiten kann. Außerdem muss ich doch wissen, wie eine Zeit war, ehe ich sie anders darstelle, als sie war. Sonst mache ich doch Fehler am laufenden Band! Man muss doch auch erst Lernen, wie etwas richtig geht, ehe man es variieren kann. Genau das ist für mich Fantasy. Fantasy ist eine Variation der Historie mithilfe der Fantasie. Aber ich kann die Historie nicht variieren, wenn ich sie nicht kenne! Und für mich geht kennen in alle Tiefen einer wissenschaftlichen Arbeit hinein. Das ist aber einfach eine Frage des an sich selbst gestellten Anspruchs.
Natürlich kenne ich das Argument: Warum musst du wissen, wie es wirklich war, erfinde das Detail doch einfach! Aber wenn man nach diesem Muster vorgeht kann es so schnell passieren das man Logikfehler, Anachronismen oder schlicht Dinge der absoluten Unmöglichkeit schreibt, dass es mir die Haare zu Berge stehen lässt. Ich erfinde auch in einem Fantasyroman schon einmal per se quasi überhaupt gar nichts. Erfinden klingt wie aus dem Hut zaubern, ohne irgendeine verlässliche Quelle, ob so etwas möglich wäre, nur gestützt auf meine Logik und mein Allgemeinwissen. Und hier kann ich sagen: Nein. So funktioniert das bei mir auf keinen Fall.
Ich nehme als Beispiel einmal Tolkien heran: Um seine Fantasysprachen zu entwickeln, musste er echte Sprachen auf wissenschaftlichem Niveau kennen. Seine Sprachen sind, so weit er sie entwickelt hat, auf real mögliche Sprachveränderungen aufgebaut, sie haben eine funktionierende Grammatik und sogar eine Etymologie. Und genau das ist es, was ich meine: Wenn ich eine Welt aufbauen will, muss ich dafür sorgen, dass sie unter den Maßgaben, die ich ihr gebe, auch wirklich möglich wäre. Und daher muss ich wissen, wie die Dinge im Inneren Zusammenhängen und zwar weit, weit über Allgemeinwissen hinaus. Ich würde mich nicht trauen, mit einer geringeren Recherche als für einen historischen Roman meines Erachtens notwendig wäre, an einen Fantasyroman zu gehen, der in einer historischen Zeit spielt. Die Angst, Logiklücken einzubauen oder Quatsch zu schreiben wäre mir wirklich zu hoch. Wir dürfen nicht vergessen, dass bei aller Fantasie, die in unserem Genre mitspielt, auch die Fantasie sich keine Zustände vorstellen kann, die vollkommen außerhalb von unserer Erfahrungswirklichkeit liegen, zumindest nicht schlüssig. Jede Welt, jede Fantasywelt lebt davon, die wirkliche Welt abzubilden oder sie umzukehren und zu verändern. Um etwas schlüssig abzubilden, muss ich es kennen. Um etwas schlüssig umzukehren auch. Um etwas schlüssig zu verändern ebenso. Wie sehr ich etwas kennen muss, um es abzubilden, umzukehren oder zu verändern liegt allein und einzig an meinem eigenen Anspruch. Tatsache ist aber: Je besser ich etwas kenne, desto schlüssiger kann ich diese Dinge damit tun und diese Abhängigkeit ist vollkommen gleichgültig dazu, ob ich es abbildern, verändern oder umkehren möchte.
Da spielt vor allem das hinein, was Fianna sagt: Das Hineindenken in andere Kulturen. Ich für meinen Teil maße mir erst an, eine Kultur wirklich zu verstehen ... eigentlich wenn ich selbst darin lebe und sogar dann nicht unbedingt. Aber um sie zu Verstehen muss ich mich auf einem sehr, sehr tiefgreifenden Niveau damit auseinandersetzen. Ich beginne jetzt erst, nach 3 Jahren Studium und viel Eigenarbeit, nach Lektüre sämtlicher Kanonliteratur dieser Zeit und einiger Nebenwerke langsam zu glauben den Hauch einer Ahnung zu haben, wie die Kultur und Gesellschaft in gewissen Zeiträumen funktioniert hat, wie die Ansichten waren, welche Normen galten, und zwar so tief, dass es auch Details betrifft.  Der Hauch einer Ahnung würde mir aber weder für einen historischen Roman, noch ein Fantasywerk ausreichen. Um so etwas wirklich darstellen zu können, muss ich die Kultur tief im Inneren verstehen. Und das braucht Jahre, vielleicht Jahrzehnte. Ob es eine "erfundene" (lieber abgewandelte) oder eine reelle Kultur ist. Denn auch eine abgewandelte stützt sich immer auf reelle Kulturen.

Frei heraus: Ich habe nie einen historischen Roman geschrieben, ihr dürft mich also gerne mit Tomaten bewerfen wenn ihr denkt, ich rede über etwas wovon ich keine Ahnung habe. Aber ich arbeite wissenschaftlich in einem Bereich, der mit Historie stark in Berührung kommt und kenne daher die von Coppi angespochenen Probleme sehr stark. Ich kann natürlich nur für mich sprechen - meine Ansprüche an Kulturdarstellungen, historisch oder fantasymäßig sind, gelinde gesagt, uferlos. Ich werde daher wahrscheinlich sowohl niemals einen historischen Roman schreiben, als auch niemals einen High Fantasy Roman fertig stellen. Daher: Das ist sicher nicht der Standard.
Was ich aber sagen wollte ist Folgendes: Es kommt einzig und allein auf diesen Anspruch an. Man kann aus allem eine Wissenschaft machen. Und man kann alles mit wissenschaftlichem Ansoruch machen. Nur weil Fantasy sich auf Dinge bezieht, die nie geschehen sind und vielleicht nie geschehen können, kann ich diese Dinge nicht einfach "erfinden". Ich muss sie abwandeln. Sehen wir uns Tolkien an: Er hat Mittelerde nicht erfunden. Er hat es zusammengesetzt, aus Mythen, aus realen Vorbildern und existierenden oder ehemals existierten Kulturen. Wo er seine Kulturen in der Tiefe darstellen wollte, musste er auch in der Tiefe recherchieren. Letztlich sind die Bücher, auf die ein Fantasyautor zurückgreifen sollte dieselben, die ein Historiker braucht. Weil es exakt dasselbe Wissen ist, dass beide brauchen. Und zumindest um meinen Ansprüchen zu genügen müsste ich es auch in derselben Tiefe recherchieren. Immer vorausgesetzt, der Fantasyautor möchte abwandeln und nicht erfinden.
Erfundene Welten ... nun ja. Wir haben sie zuhauf. Sie sind gerne unlogisch wie es nur geht, anachronistisch dass ich drei Meilen Bögen darum mache und ähnlich klischeeüberladen wie schlecht recherchierte Historienschinken. Beim Erfinden geht der Autor nun einmal wirklich gerne hin und sagt: Oh, ich weiß nicht wie das in meiner Welt funktionieren soll ... hach, denke ich es mir eben aus.
Das ist, wenn man den Anspruch hat, eine erfundene Welt zu kreieren, vollkommen legitim. Und auch der Ansoruch, eine erfundene Welt zu bauen ist legitim (bei weitem nicht alle sind so grausig wie oben beschrieben, aber die Gefahr ist groß). Genauso wie es legitim ist, für die reine Unterhaltung einen star romantisierenden oder anderweitig verfälschenden Historienroman zu schreiben - für den Anspruch, der an ihn gestellt wird, reicht das aus. Er erfindet wahrscheinlich genauso viel wie der Fantasyroman.
Will ich einen historischen Roman mit wissenschaftlich fundierter Recherche schreiben brauche ich mehr Aufwand, keine Frage.
Aber dann darf ich ihn auch nur mit Fantasyromanen aufgrund wissenschaftlich fundierter Recherche vergleichen. Und hier sollte Aufwand, sowie Schwierigkeit der Materialbeschaffung auf dasselbe hinauslaufen.

Es gibt nur ein paar kleine Unterschiede:
1. Den wissenschaftlich fundierten Fantasyroman in epischer Breite zu schreiben könnte die fundierte Recherche so vieler Kulturen erfordern, dass es in einem Leben gar nicht schaffbar ist, w
während sich historische Romane gerne auf eine oder maximal zwei Kulturen beschränken (verbessert mich, wenn ich mich täusche)
2. Wenn ich im historischen Roman patze, können mir Leser sagen: Das war so aber nicht! Quelle liefern und ich stehe dumm da, das kann beim Fantasyroman nicht geschehen, da läuft die Historie ab, wie sie der Autor haben will
3. Wenn ich im Fantasyroman patze, sagen Leser: Das ist aber grauenvoll unlogisch - und ich stehe dumm da. Das kann mir beim historischen Roman nicht geschehen, denn ganz egal wie unmöglich manche Dinge erscheinen: Wenn sie historisch belegt sind kann ich sagen: Das war aber so, unlogisch hin oder her.Quelle und fertig, Gut, das ist nicht immer so einfach, aber beim normalen Publikum ist eine historische Quelle ja nun doch quasi das Totschlag-Argument gegen vermeintliche Logiklücken - dabei ist auch die Wirklichkeit wahrlich nicht immer logisch.
Damit wir uns richtig verstehen: Unmöglich heißt nicht: Das gibt es nicht! Sondern: Das kann es auch nach den gegebenen Regeln so nicht geben. Denn ja, Fantasy führt eben Dinge ein, die es nicht gibt, die muss man hinnehmen. Aber auch nur, wenn sie plausibel integriert sind und logische, sich einfügende Veränderungen bewirken. Um aber zu wissen, was logisch ist und was sich gut einfügt, muss man erst einmal wissen, was wirklich war. Beispiel: Um eine Gerichtsverhandlung zu schildern. würde auch ich mich tief in das Gerichtswesen einlesen und auch durchaus nachlesen, wann die Zeugen dran kamen. Warum? Weil es einen Grund hat, dass die Zeugen dann kommen und nicht wann anders. Diesen Grund sollte ich herausfinden und abwägen, ob er für meine Konzeption einer Gerichtsverhandlung wichtig ist. Man neigt allzu schnell, einfach bekanntes vorausetzen und beispielsweise eine morderne Verhandlung zum Vorbild zu nehmen was haarsträubend schnell anachronistisch in einer sonst mittelalterlichen Welt wirkt. Und die Erklärung: Ist meine Welt, da ist es eben so - gilt für mich, für meine eigenen Ansprüche schlichtweg nicht.

Um es kurz zu machen: Ein Historienroman muss historisch korrekt sein. Ein Fantasyroman muss historisch plausibel sein. Beides erfordert Wissen über die Historie. Und je nach Anspruch kann man beides mit demselben Aufwand betreiben.
Was ich aber frei heraus zugestehe ist folgendes: Im Historienroman fällt schlechte Recherche unter Umständen schneller auf. Dazu kommt, dass ich auch denke, dass in der Fantasyliteratur die Erklärung: Erfundene Welt, ist eben so - vom Leser toleriert wird. Auch mögen viele Dinge plausibel erklärbar sein, ohne sich so unglaublich in alles einfuchsen zu müssen. Aber ein Historienroman ist auch schreibbar, ohne dass man sich so furchtbar einfuchst. Und viele der Fehler, die durch so intensive Recherche vermieden werden, finden nur Expertenleser. Solche Experten, die beim Fantasyroman dann auch sagen: Das ist unlogisch.
Es ist die Frage, was der Autor für sich selbst akzeptiert, welchen Anspruch er hat. Und ich glaube, dass es mehr Autoren historischer Romane gibt, die sich diese Mühe machen, als Autoren von Fantasyromanen, da eben immer noch oft die Meinung herrscht, man könne die Dinge einfach erfinden, ohne tiefgreifende Ahnung zu haben, wie sie wirklich funktioieren. Daher scheint es vermutlich oft so, dass Fantasyromane weniger Recherche benötigen.
Aber so wie du, Coppi, sagst, dass dein wissenschaftlicher Hintergrund dich drängt, einen anderen Anspruch an Historienromane zu legen, drängt mich meiner zu einem anderen Anspruch in beiden Bereichen - besonders aber in der High Fantasy (die habe ich eben schon vor der wissenschaftlichen Wende geschrieben, mein Blick darauf hat sich mit dem Studium stark verändert - daher: Ja, es liegt am wissenschaftlichen Anspruch).
Am Ende steht mal wieder ein: Es kommt ganz darauf an, was man machen will. Man kann aus beidem eine Doktorarbeit machen. Man kann es bei beidem sein lassen.

Hachje, wurde das lang. Entschuldigt.

Churke

Zitat von: Kati am 27. November 2013, 14:21:20
Bei einem historischen Roman ist das alles nicht möglich. Eine historische Epoche ist immer etwas abgeschlossenes, das außerhalb vom Autor existiert und woran nichts zu rütteln ist. Zeitgeist, Mode, Politik und bekannte Figuren sind vorgeschrieben und es kann sehr knifflig sein all das so richtig wie möglich darzustellen und die Atmosphäre der Zeit einzufangen.

Vorgeschrieben?
Bob Dylan sagte mal in einem Interview, dass die Geschichte ständig geändert wird. Umgeschrieben, umgedichtet, neu interpretiert, instrumentalisiert, wie man es gerade braucht. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, dass wir aus der Geschichte lernen, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.  ;)
Wie kann es sein, dass wir 100 Jahre später immer noch nicht "wissen", wer am 1. Welktrieg schuld ist? Liegen die Fakten nicht auf der Hand? - Ja, aber was wir für "Geschichte" halten, ist in Wirklichkeit nur eine Interpretation, die auf unserer eigenen Zeit beruht. Hier etwas Glaubwürdiges und vor allem Interessantes zu liefern, ist m.E. die große Herausforderung des Historischen Romans.

Valaé, ich frage mich, ob du da nicht weit über das Thema hinaus schießt. Man erfindet ja eigentlich keine enzyklopädische Welt, sondern beschränkt sich auf das Plotrelevante. Wenn eine Geschichte im Reedermilieu in Hamburg spielt, was kümmert mich dann das Berchtesgadener Land? Natürlich ist die Welt dann nicht "vollständig", aber ohne Schnittmenge mit dem Roman braucht sie das ja auch gar nicht.