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Wie Bücher zu Klassikern werden. Oder: Von zeitgemäßer Moral

Begonnen von Luna, 24. April 2013, 15:28:23

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Lavendel

Zitat von: Mondfräulein am 25. April 2013, 19:42:42
Ich tue mich sehr schwer damit, zu definieren, was ein Klassiker ist. Generell herrscht da meiner Meinung nach immer diese geheime Absprache, dass ein Klassiker unbedingt ein gutes Buch sein muss und wehe, jemand sagt etwas gegen unseren heiligen Goethe (ja, auch Faust hatte Zweckreime). Wozu brauchen wir überhaupt Klassiker? Wir haben unsere paar Bücher, die sich aus früheren Zeiten durchgesetzt haben, aber was wir in Deutsch gelesen haben, war nach heutigen Maßstäben wirklich nicht gut. Fontanes Irrungen, Wirrungen eignet sich, um Problematiken der Epoche und die Merkmale des Realismus, aber wer würde heute noch einen Roman mit zwei Seiten Beschreibungen eines Hauses beginnen? Wer würde so schrecklich nervige Mary Sues erschaffen? Ich mochte das Buch nicht, natürlich war es im Abi bequem weil einfach durchschaubar, aber nichts, was ich so lesen würde. Dennoch ein Klassiker. ´
Niemand sagt, dasss Klassiker generell qualitativ hochwertiger geschrieben wären als andere Texte. Ich persönlich bin weder ein großer Goethe- noch ein großer Fontane-Fan. Eins kann man beiden genannten Werken aber nicht absprechen: Sie behandeln Themen mit gewisser Zeitlosigkeit. Einen Pakt mit dem Teufel, den Konflikt zwischen "Herz" und Vernunft und überhaupt die Liebe. Möglich, dass heute niemand mehr ein Manuskript verlegen würde, das erst mal zwei Seiten Ortsbeschreibung liefert (es ist mehr als nur die Beschreibung eines Hauses, um ehrlich zu sein, aber darüber brauchen wir jetzt nicht zu diskutieren). Standesgrenzen mögen heute nicht mehr aktuell sein, aber wie wäre es bei einer Liebesaffäre zwischen einem freizügig erzogenen jungen Mann aus der oberen Mittelschicht und einem Mädchen aus einer traditionell (setze beliebige Religion ein) Familie? Wie wäre es, wenn sich ein Mädchen, dessen Aussteigereltern in der Bauwagensiedlung leben in den Jungen aus der Neubausiedlung mit neoliberalen Eltern verguckt? Probleme? Zuhauf. Es tut mir leid, man muss Fontane nicht mögen, aber man kann ihm nicht absprechen, dass er Themen angeschnitten hat, die nicht nur ungewöhnlich und etwas skandalös für seine Zeit waren, und man kann ihm auch nicht absprechen, dass er nachfolgende Autorengenrationen geprägt hat.
Eins muss man eben wissen, wenn man über "Klassiker" redet. Ob sie einem selbst nun gefallen, das interessiert keinen - und es ist auch überhaupt nicht wichtig. Darum geht es bei der "Auswahl" von Klassikern nicht. Wenn es eine Regel gibt, dann vermutlich die, dass eben die Texte zu Klassikern werden, mit denen Menschen über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg Dinge verbinden, in denen sie ihre eigenen Erfahrungen widergespiegelt sehen (ob das nun der ursprünglichen Absicht des Autors entspricht oder nicht).
Ich habe im Studium (für mich persönlich) grauenhaft langweilige Bücher gelsesn, so zum Beispiel "Middlemarch" - aber ich habe aus allen etwas wirklich Wundervolles mitgenommen. Obwohl ich sie nicht mochte. Selbst ein Buch, das einen über weite Strecken langweilt kann einem (wenn es nicht grade der gewöhnliche Trash vom Grabbeltisch ist), eine anderes Fenster in die Welt öffnen. Klingt vielleicht pathetisch, aber so ist das mit "guten" Büchern. Wenn ein Text das bei relativ vielen Leuten schafft und Bedeutung (welcher Art auch immer) über viele Jahre und über gesellschaftliche Veränderungen hinweg transportieren kann, dann hat es einen gute Chance, irgendwann als "Klassiker" zu gelten.


ZitatMeiner Meinung nach sollte man einen Klassiker als herausragendes Werk seiner jeweiligen Epoche definieren, Schiller und Goethe waren wichtig für Sturm und Drang bzw. später die Klassik, Kant in der Aufklärung und so weiter und so fort. So habe ich die Auswahl der Lektüren für unseren Deutsch-Leistungskurs betrachtet, einfach repräsentative Werke um sich mit der Epoche zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur, ist es dann gar nicht mehr so wichtig, einen Klassiker zu kennen.
Es ist schade, dass du das so siehts, aber ich vermute, in der Schule bleibt einem kaum eine andere Betrachtungsweise übrig. Sturm und Drang war ja mehr als Schiller und Goethe, und Schiller und Goethe waren mehr als Sturm und Drang, und ihre Texte sowieso. Wenn ich etwas über eine Epoche wissen will, dann suche ich einen Geschichtstext oder eine literaturtheoretische Abhandlung. Wenn ich etwas über den Menschen wissen will, dann lese ich einen Roman - oder einen anderen literarischen Text. Eine Epoche wird immer erst im nachhinein definiert -  sie wird aus der Notwendigkeit heraus konstruiert, die Zeit zu ordnen und einzuteilen, um sie verstehbar zu machen. Das, was man einen "Klassiker" nennt, mag aus einer bestimmten Zeit stammen und auch von den Umständen der Zeit geprägt sein, aber manche Dinge bewegen die Menschen über Jahrhunderte hinweg. In manchen Texten kann man sich selbst und seine eigene "Welt", seinen Erfahrungshintergrund, auch dann noch wiederfinden, wenn sie Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alt sind. Das ist schon eine faszinierende Sache und sagt an sich schon viel über den Menschen aus, oder?

Ich meine, nehmen wir Ovid oder so. Die Metamorphosen sind so um die 2000 Jahre alt, und trotzdem finden wir uns als Menschen darin wieder. Wir sind immer noch die gleichen Wesen wie vor 2000 Jahren, uns bewegen immer noch die gleichen Dinge, wir fühlen das gleiche, haben die gleichen Zweifel, Hoffnungen und Ängste, wenn auch sonst alles anders gewesen sein mag. Diese Brücke durch die Zeit - also über eine anderweitig absolut unüberwindbare Grenze hinweg - das kann meiner Meinung nach nur die Kunst, und die Literatur kann es ganz besoders. Da ist einfach mehr als das Einordnen in irgendwelche Schulbladen, hier Aufklärung, da Klassik und nebenan Postmoderne.


ZitatIch halte nicht viel vom Begriff Allgemeinbildung. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, allein Wikipedia enthält mehr Daten und Fakten als es sich ein Mensch jemals merken könnte, man kann nicht alles wissen. Der Trend geht eindeutig dahin, sich zu spezialisieren, schon seitdem es mit Leibniz im 18. Jahrhundert den letzten wirklichen Universalgelehrten gab. Niemand kann alles wissen und wie sollen wir somit definieren, was man darüber hinaus wissen muss? Ein genialer Kernphysiker beispielsweise kann eine Koryphäe seines Gebietes sein aber nicht wissen, wer Schiller ist. Setz ihn unter andere Physiker und sie himmeln ihn an, setz ihn unter Literaturkritiker und sie werden sich fragen, was für einen Idioten sie denn da vor sich haben. Niemand muss etwas wissen oder kennen, wofür er sich nicht interessiert. Niemand muss Bücher lesen. Wozu denn? Es gibt genug Leute, die das gerne tun.

Ich würde dagegen halten. Wikipedia kann soviel Daten enthalten wie es will. Nur weil alles irgendwo steht und man bei Bedarf alles nachgucken kann, senkt das nicht den Wert der Bildung und schafft schon gar nicht ihre Notwendigkeit ab. Allgemeinbildung ist viel mehr als "Wissen". Natürlich müssen Menschen sich spezialisieren. Wir haben inzwischen so viel Wissen angehäuft, dass niemand alles wissen kann. Das bedeutet aber im Umkehrschluss ganz und gar nicht, dass man alles andere ignorieren kann.

Moral und Werte entstehen nicht in einem Vakuum. Zivilisation entsteht nicht in einem Vakkum und Erkenntnis erst recht nicht. Möglicherweise hört sich das hochtrabend an, aber Bildung, ich meine echte, naja, nennen wir es mal klassisch "humanistische Bildung", nicht nacktes Wissen, ist der Schlüssel zu einer "besseren Welt." Sie trägt dazu bei, die Welt zu verstehen, in der wir leben, sie lässt uns Dinge in Frage stellen, die wir womöglich als selbstverständlich hinnehmen würden, wenn wir uns nicht bilden würden. Menschen sollten nicht dumm bleiben, sie sollten nicht nur das wissen, was sie im Alltag brauchen und den Rest dann auf Wikipedia nachschlagen. Wer das tut, der macht es sich zu leicht. Ich würde es sogar verantwortunglos nennen.

Wir sind die gleichen Menschen wie vor 10.000 Jahren. Unsere Physiologie, unser Gehirn haben sich nicht verändert. Heute hängen wir hier in Europa keine Leute mehr auf, weil es sowas wie Bildung gibt (entschuldigt die Polemik). Aber "Zivilisation" ist kein linearer Prozess. Die Dinge werden nicht in Korrelation zum Voranschreiten der Zeit einfach besser. Wir müssen uns bilden, sonst fangen unsere Kinder oder Enkelkinder eines Tages wieder damit an, andere Leute zu aufzuhängen oder vor die Wand zu stellen - um es mal überspitzt zu formulieren. Nicht dass diese Dinge auf die gesamte Erdbevölkerung gesehen so wahnsinnig selten wären.
Menschen sind von Natur aus ziemlich blöde, aber wir haben die Fähigkeit, das zu beheben, und das sollten wir auch alle tun.

Zitat
Meinen Kindern werde ich werder Max und Moritz noch den Struwwelpeter vorlesen, denn die halte ich allenfalls für Zeugnisse der damaligen Zeit, keinesfalls für Kindgerecht. Auch Märchen finde ich zu brutal, ich bin in der Grundschule aus der Theater-AG ausgetreten, weil ich sie zu antifeministisch hielt, immer die blöde Prinzessin, die gerettet werden muss. Die gibt es dann allenfalls in der kindgerechten Disney-Version, bis sie alt genug sind. Das heißt nicht, dass ich sie nur vor den Fernseher setzen werde, keinesfalls, es gibt genug Kinderbücher, die besser geeignet sind. Die Werke von Diana Wynne-Jones werden auf jeden Fall den Struwwelpeter als abendliches Vorlesewerk ersetzen.
Jetzt mal blöd gefragt: Ab wieviel Jahren ist man alt genug für Gleichberechtigung?
Aber nein, den Struwelpeter muss niemand seinen Kindern vorlesen, da würde ich dir wohl recht geben.

Zitat
Ich glaube nicht, dass die jugendlichen heutzutage kein Max und Moritz mehr kennen, weil sie eben nur vor dem PC oder Fernseher hängen, meiner Meinung nach muss man diese Bücher auch nicht kennen, aber es gibt auch in meiner Generation, über die nun schon wirklich eine Menge geschimpft wurde, durchaus hochintelligente und belesene Menschen. Wir werden nicht dümmer, die Einzelnen, die so etwas nicht wissen, stechen nur mehr heraus. Solche Diskussionen gab es immer und wird es auch immer geben.
Bildung hat ja nichts mit Intelligenz zu tun. Jemand mit einem IQ von 110 kan durchaus gebildeter sein, als jemand mit einem IQ von 120 (lassen wir die Diskussion über Sinn und Unsinn von Intelligenzmessungen ...)
Es geht bei Bildung nicht darum, viel zu wissen, sonder darum, viel zu verstehen. Schule schafft das nicht immer - eher selten, denke ich sogar, aber ich will jetzt kein Schulsystembashing machen. Ich halte eher die Entwickulung zur sog. "Leistungsgesellschaft" für bedenklich. Dann geht es eben nur noch um kapitalistisch profitable Leistung, nicht mehr um echte Bildung.

ZitatIch kann leider nicht mit so viel historischem Fachwissen glänzen wie Kati, aber dennoch meine ich mir einzubilden (und korrigiert mich, wenn ich falsch liege), dass heute weit mehr Bücher verlegt und gedruckt werden als früher. Unser Buchmarkt ist wechselhafter, es gibt ein paar Fälle wie Harry Potter, die sich ewig halten, aber es kommen immer wieder so viele tolle Bücher heraus, was hält sich davon langfristig? In hundert Jahren werden sie Grass und Herta Müller lesen, alles, was man heute als anspruchsvolle Literatur gilt. Ich bin mir nicht sicher, ob sich unsere Kinder- und Jugendbuchklassiker durchsetzen werden. Das ist so meine Vermutung.
Grass und Müller sind ja schon aus dem letzten Jahrhundert. Sie leben zwar noch, sind aber eigentlich schon wieder Kinder einer anderen Zeit. Was von den Büchern, die in den letzten 10 oder 15 Jahren auf den Markt gekommen ist mal ein Klassiker wird, das kann sicherlich noch keiner so genau sagen. Dazu braucht es nun mal ein paar Jahrzehnte der Rezeption (im Normalfall). Ich würde HP nicht alle Chancen absprechen. Die Geschichte spricht sehr viele "zeitlose" Themen an, auch einige komplexe wie Rassismus, der vermutlich noch einen lange, lange Zeit ein Problem sein wird. Und man sollte nie den Wunsch nach dem Wunderbaren unterschätzen. ;)

Mondfräulein

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Niemand sagt, dasss Klassiker generell qualitativ hochwertiger geschrieben wären als andere Texte.
[...]
Es tut mir leid, man muss Fontane nicht mögen, aber man kann ihm nicht absprechen, dass er Themen angeschnitten hat, die nicht nur ungewöhnlich und etwas skandalös für seine Zeit waren, und man kann ihm auch nicht absprechen, dass er nachfolgende Autorengenrationen geprägt hat.

Das wollte ich ihm auch gar nicht absprechen, keinesfalls. Deshalb habe ich es wohl auch gar nicht mehr erwähnt, für seine Zeit ist das alles durchaus aktuell und die Lektüre des Werkes hatte durchaus ihre Berechtigung im Unterricht und darüber hinaus, weil sie sich gut eignet, um solche Problematiken anzusprechen, einen Einblick in die Epoche zu bekommen und sich mit dem Realismus zu beschäftigen. Ich habe das eher aus unserer heutigen Sicht gemeint, verglichen mit wie ich heute schreiben würde (und es mag nicht nur eine Beschreibung sein, aber ich halte es als Einstieg dennoch aus heutiger Sicht nicht sonderlich vorteilhaft). In diesem Kontext mochte ich das Buch nicht.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Eins muss man eben wissen, wenn man über "Klassiker" redet. Ob sie einem selbst nun gefallen, das interessiert keinen - und es ist auch überhaupt nicht wichtig. Darum geht es bei der "Auswahl" von Klassikern nicht.

Da kann ich nur zustimmen. Nur habe ich immer wieder (subjektiv) den Eindruck, dass es als verpöhnt und ungebildet gilt, Schiller oder Goethe nicht großartig zu finden, Klassiker nicht nur als Klassiker an sich zu schätzen sondern gut zu finden. Darauf wollte ich eigentlich hinaus. Vielleicht geht das ja auch nur mir so.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Sturm und Drang war ja mehr als Schiller und Goethe, und Schiller und Goethe waren mehr als Sturm und Drang, und ihre Texte sowieso.

Durchaus, durchaus. Das habe ich nie abgestritten. Bücher sind in gewisser Weise Zeitzeugen. Wenn man so an Texte heran geht, kann man ihnen meistens etwas abgewinnen, da kann die Bibel für strenge Atheisten interessant werden und Fontane für mich. Das war mehr beispielhaft gemeint und sehr durch meinen Schulunterricht geprägt, wo es eben so behandelt wurde. Ich persönlich sehe solche Werke weniger als Brücke zu uns als als Brücke, mit der man einen tieferen Einblick in jene Zeit bekommt, zu der das Werk geschrieben wurde.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Moral und Werte entstehen nicht in einem Vakuum. Zivilisation entsteht nicht in einem Vakkum und Erkenntnis erst recht nicht. Möglicherweise hört sich das hochtrabend an, aber Bildung, ich meine echte, naja, nennen wir es mal klassisch "humanistische Bildung", nicht nacktes Wissen, ist der Schlüssel zu einer "besseren Welt."

Die Frage ist nur WIE wir uns bilden. Natürlich, man muss wissen, was Demokratie ist, das ist wichtig, man muss wissen, wie man mit Quellen umzugehen hat, aus denen man sein Wissen bezieht, aber ich halte es zum Beispiel nicht mehr für notwendig, das Periodensystem auswendig zu lernen. Viel wichtiger ist es dann doch zu wissen, wie man mit dem Periodensystem umzugehen hat. Ein gewisses Grundwissen braucht man, um dieses auf neue Informationen anwenden zu können. Bildung ist enorm wichtig, aber ich finde eben, dass Max und Moritz nicht dazu gehört.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Jetzt mal blöd gefragt: Ab wieviel Jahren ist man alt genug für Gleichberechtigung?

Was genau meinst du? ???

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Es geht bei Bildung nicht darum, viel zu wissen, sonder darum, viel zu verstehen.

Da kann ich nur zustimmen, genau das meinte ich auch im Grunde. Ich glaube, ich habe viel um das herum geredet, was ich eigentlich meinte.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Grass und Müller sind ja schon aus dem letzten Jahrhundert. Sie leben zwar noch, sind aber eigentlich schon wieder Kinder einer anderen Zeit.

Ich habe nur händeringend ein Beispiel gesucht, ich kenne mich mit solcher Literatur doch recht wenig aus ;D

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 21:21:33
Ich würde HP nicht alle Chancen absprechen. Die Geschichte spricht sehr viele "zeitlose" Themen an, auch einige komplexe wie Rassismus, der vermutlich noch einen lange, lange Zeit ein Problem sein wird. Und man sollte nie den Wunsch nach dem Wunderbaren unterschätzen. ;)

Hoffen wir das mal, Harry Potter hätte es verdient. Und Jane Austen hat es ja auch geschafft. Vielleicht wird es am Ende aber auch der Poetry Slam eines unbekannten Kleinkünstlers oder die Facebook-Poesie einer 15jährigen mit fünfzehn Gefälltmirs. Wer weiß, wer weiß...

Rhiannon

ZitatNiemand sagt, dasss Klassiker generell qualitativ hochwertiger geschrieben wären als andere Texte. Ich persönlich bin weder ein großer Goethe- noch ein großer Fontane-Fan. Eins kann man beiden genannten Werken aber nicht absprechen: Sie behandeln Themen mit gewisser Zeitlosigkeit. Einen Pakt mit dem Teufel, den Konflikt zwischen "Herz" und Vernunft und überhaupt die Liebe.
Das möchte ich gerne unterschreiben, wenn auch nicht ganz uneingeschränkt.
Fontane kenne ich komplett nicht, muss ich zugeben, Goethes Faust schon. Ich bin im Allgemeinen keine Leserin "höhrer Literatur", ich habe gelesen, was in der Schule sein musste (und jedes einzelne Werk für bestimmte Dinge gehasst, aber das nur nebenbei) und ich habe ein paar eigene Versuche gestartet und habe teilweise entnervt aufgegeben.

Die Zeitlosigkeit ist sicher ein Grund, warum die Werke heute noch gelesen werden. Manchmal habe ich allerdings den Verdacht, dass es nicht nur das ist, der Bücher zu "Klassikern" stilisiert.
Konkretes Beispiel ist in dem Fall eine meiner Abiturlektüren Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas". Ja, ich weiß, es sollte um Recht und Gerechtigkeit und fehlgeleitete Gerechtigkeit gehen. Und natürlich ist das auch in der heutigen Zeit, oder vielleicht besser gerade in der heutigen Zeit ein wichtiges Thema! Aber gerade bei Kleists, entschuldigung, Machwerk, frage ich mich, ob es den auswählenden Pädagogen nicht darum war, zu sagen: "Aber guckt mal, damals hatten sie auch schon keine Lösung dafür!"
Denn wir müssen wohl nicht darüber reden, dass es heute nicht mehr in Frage käme, eine Stadt dafür in Brand zu stecken, dass ein Großkopfiger mir das Geschäft geschädigt und dann auch noch den Ehepartner umgebracht hat.
Warum also kann ich das Thema dann nicht mit Gegenwartsliteratur behandeln, die vielleicht auch noch eine zeitgenössische Lösung für das Problem bietet?

Und das ist auch mein Problem mit den Klassikern. Ich habe manchmal das Gefühl, dass manche Menschen sie auch als Flucht benutzen, um sich nicht mit den Problemen der aktuellen ZEit befassen zu müssen.

Lavendel

Aber der Konflikt zwischen Rechtsstaat und persönlicher Rache ist schon einer, der auch heute noch auftritt. Für manche Leute kommt es in Frage, aus irgendwelchen Gründen mit einer Waffe in einer Schule oder auf einen Insel zu stürmen und "Gerechtigkeit" für irgendetwas zu üben. Das sind doch brandaktuelle Probleme.
Es geht nicht darum zu sehen, dass es damals war wie heute oder dass man damals auch schon keine Lösung hatte.
Bei Literatur geht es um das Menschliche. Und ob das Menschliche im 16. oder 21. Jahrhundert spielt, ob es im 19. oder im 21. Jahrhundert geschrieben wurde, was für eine Rolle spielt es denn dann, wie alt ein Text ist? Sind neuere Texte zwingend besser in der "Untersuchung" dieses Menschlichen, nur weil sie neuer sind? Ich würde sagen nein. Neue Texte mögen im ersten Moment leichter zugänglich sein, weil Sprache sich entwickelt und Lesegewohnheiten sich entwickeln.
Wir können auf viele Arten danach fragen, was uns als Menschen bewegt, und "Michael Kohlhaas" stellt eine Frage, die vermutlich für immer relevant bleiben wird.

Wir lernen nicht zwingend etwas über die Entstehungszeit eines Textes, wenn wir ihn lesen, wir lernen auch nicht zwingend etwas über den Autor und seine Beweggründe, aber wir lernen etwas über uns selbst, wir erkennen uns selbst und unsere eigenen Fragen an die Welt. Das macht eben gute Literatur aus, nicht die Zeit in der sie entstanden ist.

Ein Text von 1801 ist damit genauso relevant wie ein Text von 2001, und nur weil etwas schwer zu lesen ist oder weil man in der Schule keine Zeit bekommt, den Inhalt für sich selbst zu bewerten, ist es nicht langweilig oder doof. Da müssten schon bessere Argumente her.

Churke

#49
Zitat von: Mondfräulein am 25. April 2013, 19:42:42
Ich halte nicht viel vom Begriff Allgemeinbildung. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, allein Wikipedia enthält mehr Daten und Fakten als es sich ein Mensch jemals merken könnte, man kann nicht alles wissen.

Der römischer Kaiser Julian sagte, dass sich auch der Dümmste durch das Studium der Klassiker verbessert. Allgemeinbildung als Schule des Charakters.

ZitatNiemand muss Bücher lesen.
Niemand muss müssen.
- Nathan der Weise  ;D
[edit] Oh, mir ist gerade eingefallen, es heißt: "Kein Mensch muss müssen."[/quote]

ZitatDennoch geht es hier meiner Meinung nach immer mehr darum, Techniken zu vermitteln als pures Wissen, wie fasse ich einen Text zusammen? Wie erfasse ich seinen Inhalt effektiv? Gerade wenn Wissen jederzeit und überall durchs Internet verfügbar ist, sollte man eher lehren, wie man damit umzugehen hat.
Wie zitiere ich richtig, damit ich den Doktor behalten darf?  ::)
Wiederkäuen ist eine ganz schlechte Eigenschaft. Man übernimmt unreflektiert die Meinungen anderer. Es macht einen Unterschied, ob ich "Mein Kampf" gelesen habe oder nur die Zusammenfassung auf Wikipedia. Sekundärliteratur gab's schon immer, aber das Besondere an Klassikern ist, dass sie eine Aussage enthalten, die allein durch Lesen emotional begreifbar wird. Selbstverständlich braucht man das nicht zu tun, wenn man keine Lust hat. Man sollte sich aber nicht für gebildet halten, weil man sich durch Wikipedia klicken kann.

ZitatIn hundert Jahren werden sie Grass und Herta Müller lesen, alles, was man heute als anspruchsvolle Literatur gilt.
Das glaube ich nicht. Diese Leute haben nichts zu sagen und daher wird das in 100 Jahren keinen mehr interessieren.

Zitat von: Rhiannon am 25. April 2013, 22:18:06
Denn wir müssen wohl nicht darüber reden, dass es heute nicht mehr in Frage käme, eine Stadt dafür in Brand zu stecken, dass ein Großkopfiger mir das Geschäft geschädigt und dann auch noch den Ehepartner umgebracht hat.
Doch. Solche Leute nennt man heute Terroristen.

ZitatWarum also kann ich das Thema dann nicht mit Gegenwartsliteratur behandeln, die vielleicht auch noch eine zeitgenössische Lösung für das Problem bietet?
Zunächst einmal: Für dieses Problem gibt es keine "Lösung". Unrecht erzeugt neues Unrecht und so ist Michael Kohlhaas zwingend eine Tragödie. Gegenwartsliteratur? Offen gestanden ist mir KEIN (!) Autor bekannt, der die Mechanismen der Justiz (die heute noch genauso sind wie damals) so durchschaut hat wie Kleist. Ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren, aber imho macht das die einzigartige Qualität seines Werkes aus.

Rhiannon

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich erkenne in Kleists Kohlhaas wirklich nichts, was ich für mich mitnehmen könnte und darum geht es mir bei Büchern, die ich als gesellschaftlich irgendwie relevant betrachte. Ich erfahre in diesem Buch, dass es in der damaligen Zeit mit etwas weniger bürokratischem Aufwand verbunden war, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Provokant gesprochen.
Schön, die Situation ist heute nicht viel anders, aber ein Buch darüber zu schreiben, wie die Situation eben ist ohne auch nur den Versuch zu machen, dem Leser irgend einen Ansatz von Lösung bzw. sonstiger Hinweise anzubieten, ist in meinen Augen reichlich unbefriedigend...
Und würde man heutzutage über z.B. einen fiktiven Taliban schreiben oder so, fürchte ich, würde das nicht ähnlich angesehen, weil man es ja wagt, ein heises Eisen anzufassen. Und das gefällt mir gar nicht.
Nichts gegen Klassiker im Allgemeinen, aber mich stört die Überhöhung dieser Bücher und die Abqualifizierung anderer Bücher dagegen, die vielleicht das gleiche Grundthema behandeln.

Adam_Charvelll

#51
Zitat von: Rhiannon am 25. April 2013, 22:18:06
Warum also kann ich das Thema dann nicht mit Gegenwartsliteratur behandeln, die vielleicht auch noch eine zeitgenössische Lösung für das Problem bietet?

Neben dem Inhalt, dessen zeitlose oder zumindest langfristige Berechtigung bereits von Churke und Lavendel sehr schön erläutert wurde, muss ich gerade bei Kleist auch noch ein Wort für ihn einlegen. Es gibt meines Wissens nach keinen Autor, vor allem in der jetzigen Zeit, der die Kunst des komplexen Satzbaus so sehr beherrscht wie Kleist. Ich mag diese elends- und teilweise seitenlangen Sätze sehr gerne und finde es schade, dass sie heutzutage meistens eher verpönt sind. In diesem Fall kann ich den besonderen Status also sehr gut verstehen.

Aber dem Grundgedanken stimme ich zu. Es gibt sehr viele Werke im Kanon, die meiner Meinung nach überholt sind. Da ich mich aber meistens um diese Bücher herumschleiche und sie nach der Lektüre schnell wieder vergesse, will ich es gar nicht erst riskieren Beispiele zu nennen :D

PS: Lavendel, solltest du einmal ein humanistisches Buch mit Gedanken über unsere Gesellschaft verfassen, würde ich es lesen (auch wenn ich zum Beispiel mit der kritischen Haltung gegenüber der Schule nicht konform gehe)  :)

Lavendel

Also, das muss ich jetzt auch sagen. Kleist ist Kleist. Es gibt gar kein Wort, um Kleist richtig auszudrücken. Lies das Buch nochmal! ;)

Mondfräulein

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 22:58:48
Bei Literatur geht es um das Menschliche. Und ob das Menschliche im 16. oder 21. Jahrhundert spielt, ob es im 19. oder im 21. Jahrhundert geschrieben wurde, was für eine Rolle spielt es denn dann, wie alt ein Text ist?

[...]

...aber wir lernen etwas über uns selbst, wir erkennen uns selbst und unsere eigenen Fragen an die Welt. Das macht eben gute Literatur aus, nicht die Zeit in der sie entstanden ist.

Ich glaube, da haben wir grundsätzlich verschiedene Ansichten gegenüber der Literatur und eine andere Beziehung zu ihr. Selbstverständlich ist das Menschliche immer ein Faktor, aber beispielsweise in der Klassik nahm man Abstand davon, einen Menschen wirklich in all seinen Facetten zu zeigen und erschuf idealistische Vordenker, die als Vorbilder dienen sollten. In Schillers Dramen spielt sich selbstverständlich noch genug Menschliches ab, aber es berührt mich dann doch auf einer ganz anderen Ebene. Als ich Don Karlos gelesen habe, habe ich mich eher vom Vater-Sohn-Verhältnis inspiriert gefühlt, eher im Bezug auf mein eigenes Schreiben, aber über mich selbst habe ich wenig gelernt. Für mich steht beim Lesen immer noch der Sog der Geschichte mit im Vordergrund, die Faszination an ihr an sich, ohne das auf mich selbst zurück zu werfen. Es gibt sehr, sehr wenige Texte, die mich jemals auch nur annähernd auf diese Art und Weise berühren konnten und ich glaube, es fällt mir gerade auch gar keiner ein. Bei all meinen allerliebsten Lieblingsbüchern war es dann doch ein anderer Aspekt, ein anderer Grund, warum sich das Buch so in mich hinein gefressen hat, dass ich es immer noch liebe. Einerseits einfach großartiges handwerkliches Können (Anthony Burgess, Ray Bradbury, Susan Fletcher), eine packende Geschichte (Kai Meyer, Jonathan Stroud, Susanne Collins) oder rührende Schicksale (Anne C. Voorhoeve).

Es spielt meiner Meinung nach durchaus eine Rolle, wie alt ein Text ist, denn die meisten Texte entfalten ihre ganze Bedeutung erst im Kontext ihrer Zeitgeschichte. Büchners Woyzeck ist schwer zu verstehen, wenn man die gesellschaftlichen Hintergründe nicht kennt, dasselbe bei Fontane und vielen anderen Autoren. Das Menschliche war damals eben einfach etwas anderes, wer hat heute noch damit zu kämpfen, dass er nicht heiraten kann, wen er will, weil gesellschaftliche Umstände es nicht zulassen (Einzelfälle außen vor gelassen, die wird es noch geben)? Wer ist heute noch sonderlich ergriffen, wenn der Marquis von Posa Gedankenfreiheit für alle fordert, ohne zu wissen, dass es damals eben nicht selbstverständlich war?

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 22:58:48
Sind neuere Texte zwingend besser in der "Untersuchung" dieses Menschlichen, nur weil sie neuer sind? Ich würde sagen nein. Neue Texte mögen im ersten Moment leichter zugänglich sein, weil Sprache sich entwickelt und Lesegewohnheiten sich entwickeln.
Wir können auf viele Arten danach fragen, was uns als Menschen bewegt, und "Michael Kohlhaas" stellt eine Frage, die vermutlich für immer relevant bleiben wird.

Es hängt nicht davon ab, wie alt ein Text ist, aber wenn es doch darum geht, sich selbst in einem Buch wieder zu finden oder wenigstens in gewisser Weise etwas davon mitzunehmen, warum sind neuere Texte dann schlechter dafür geeignet? Gerade wenn sie doch leichter zugänglich sind, sind sie eher besser dazu geeignet, warum muss es denn immer zwangsläufig kompliziert und schwer verständlich sein? Warum muss ich mich durch den Faust quälen (und wirklich, es ist eine Quälerei und ich halte den Faust nach wie vor überschätzt)? Nur weil es ein Klassiker ist und somit nicht für schlecht befunden werden darf? Meiner Meinung nach haben Klassiker durchaus ihre Daseinsberechtigung, aber mit ihnen ist es wie mit Traditionen, es lohnt sich, sie zu  wahren, aber man sollte sie auch stets hinterfragen und gegebenenfalls ersetzen.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 22:58:48
Wir lernen nicht zwingend etwas über die Entstehungszeit eines Textes, wenn wir ihn lesen, wir lernen auch nicht zwingend etwas über den Autor und seine Beweggründe, aber wir lernen etwas über uns selbst, wir erkennen uns selbst und unsere eigenen Fragen an die Welt. Das macht eben gute Literatur aus, nicht die Zeit in der sie entstanden ist.

Das sehe ich anders, manchmal kann man eine Menge lernen. Ich zumindest habe schon viele Texte so erfahren dürfen und bin sehr dankbar darum. Auch bin ich in den Genuss eines hervorragenden Religionsunterrichtes gekommen und durfte erfahren, dass die Bibel uns eine Menge sagen kann, wenn man ohne religiöse Dogmen und rein wissenschaftlich an sie heran geht.
Wie oben erwähnt sagt mir Literatur auf dieser Ebene oft wenig und ich finde, gute Literatur sollte man nicht nur darauf beschränken. Bücher sind gut geschrieben oder schlecht geschrieben, Bücher interessieren mich persönlich oder eben nicht. So einfach ist das. Ich finde es wundervoll, wenn Menschen so viel für sich aus ihnen herausholen können, aber mir gelingt das nunmal nicht.

Zitat von: Lavendel am 25. April 2013, 22:58:48
Ein Text von 1801 ist damit genauso relevant wie ein Text von 2001, und nur weil etwas schwer zu lesen ist oder weil man in der Schule keine Zeit bekommt, den Inhalt für sich selbst zu bewerten, ist es nicht langweilig oder doof. Da müssten schon bessere Argumente her.

Ob etwas schwer zu lesen ist war für mich gar kein Argument. So habe ich das auch überhaupt nicht gesagt. Ich kämpfe mich momentan (seit Jahren) durch Unendlicher Spaß, wenn etwas schwer zu lesen ist, dann das, aber ich finde das Buch dennoch großartig. Dennoch halte ich moderne Literatur für relevanter, weil sie unserem Zeitgeist mehr entspricht, aber ich erkenne Klassikern ihre Daseinsberechtigung durchaus nicht ab und wenn jemand sich von ihnen berührt fühlt, dann ist das doch wunderbar, das will ich niemandem streitig machen.
Ich habe nie gesagt, dass Klassiker langweilig oder doof sind, aber was ich sagen wollte, wurde schon viel besser ausgedrückt:

Zitat von: Rhiannon am 25. April 2013, 23:52:38
Nichts gegen Klassiker im Allgemeinen, aber mich stört die Überhöhung dieser Bücher und die Abqualifizierung anderer Bücher dagegen, die vielleicht das gleiche Grundthema behandeln.

DANKE! Genau dem kann ich nur zustimmen. :vibes:

Zitat von: Churke am 25. April 2013, 23:19:27
Der römischer Kaiser Julian sagte, dass sich auch der Dümmste durch das Studium der Klassiker verbessert. Allgemeinbildung als Schule des Charakters.

Ich weiß nicht, wer Kaiser Julian war (und muss zu meiner Verteidigung sagen, dass jeder meiner bisherigen Geschichtslehrer stets die Griechen für viel interessanter befand und wir die Römer nie durchgenommen haben), aber ich würde ihm da zutiefst widersprechen (dem letzten Satz hingegen zustimmen). Nicht jedem bringt es eben etwas, sich durch den Faust zu quälen, einigen vielleicht schon, aber nicht jedem.

Zitat von: Churke am 25. April 2013, 23:19:27
Wiederkäuen ist eine ganz schlechte Eigenschaft. Man übernimmt unreflektiert die Meinungen anderer. Es macht einen Unterschied, ob ich "Mein Kampf" gelesen habe oder nur die Zusammenfassung auf Wikipedia. Sekundärliteratur gab's schon immer, aber das Besondere an Klassikern ist, dass sie eine Aussage enthalten, die allein durch Lesen emotional begreifbar wird. Selbstverständlich braucht man das nicht zu tun, wenn man keine Lust hat.

So meinte ich das auch gar nicht, das war nur ein Beispiel. Dennoch ist es zum Beispiel für das wissenschaftliche Arbeiten enorm wichtig, sich einen Quellentext zu erschließen und die Kerninformationen herauszufiltern, um damit dann weiter arbeiten zu können. Das war, was ich sagen wollte.
Ich glaube nicht, dass es wirklich Klassiker gibt, die eine so grundlegende Aussage enthalten, dass man ihn gelesen haben MUSS. Natürlich kann in ihnen viel Wunderbares, Grundlegendes und Politisches stecken, aber solche Aussagen sind eben nicht jedem Menschen emotional begreifbar. Manche lernen dadurch, dass sie Klassiker lesen. Manche lernen, indem sie einen Sachtext dazu lesen. Jedem das Seine.

Zitat von: Churke am 25. April 2013, 23:19:27
Man sollte sich aber nicht für gebildet halten, weil man sich durch Wikipedia klicken kann.

Das habe ich so nicht gemeint, Wikipedia war nur ein (schlecht gewähltes) Beispiel, außerdem ist das hier völlig aus dem Kontext gerissen...

Churke

Zitat von: Mondfräulein am 26. April 2013, 19:19:53
Ich glaube nicht, dass es wirklich Klassiker gibt, die eine so grundlegende Aussage enthalten, dass man ihn gelesen haben MUSS. Natürlich kann in ihnen viel Wunderbares, Grundlegendes und Politisches stecken, aber solche Aussagen sind eben nicht jedem Menschen emotional begreifbar. Manche lernen dadurch, dass sie Klassiker lesen. Manche lernen, indem sie einen Sachtext dazu lesen. Jedem das Seine.

Als Autor weiß ich, dass es Dinge gibt, sie sich nicht aus Sekundärquellen oder Sachtexten erschließen.
Beispiel: "Im Westen nichts Neues" bzw. das amerikanische Pendant "Company K". Das sind Werke, die nur von großen Autoren auf autobiographischer Grundlage geschaffen werden konnten.
Man unterschätze auch nicht die Wirkung der literarischen Form. Da du die Bibel erwähntest: Die Luther-Übersetzung ist zu Recht der Klassiker der Bibel-Übersetzungen. Sie ist voller Fehler, aber sie hat eine Sprachgewalt, dass die Wände donnern.

Mondfräulein

Zitat von: Churke am 26. April 2013, 20:05:04
Als Autor weiß ich, dass es Dinge gibt, sie sich nicht aus Sekundärquellen oder Sachtexten erschließen.
Beispiel: "Im Westen nichts Neues" bzw. das amerikanische Pendant "Company K". Das sind Werke, die nur von großen Autoren auf autobiographischer Grundlage geschaffen werden konnten.
Man unterschätze auch nicht die Wirkung der literarischen Form. Da du die Bibel erwähntest: Die Luther-Übersetzung ist zu Recht der Klassiker der Bibel-Übersetzungen. Sie ist voller Fehler, aber sie hat eine Sprachgewalt, dass die Wände donnern.

Im Westen nichts Neues oder Company K habe ich nicht gelesen, was genau daran ist denn nicht anders zu erfahren?
Allerdings kommt es hierbei immer auf den Menschen an. Dir mag es so gehen und ich spreche dir das keinesfalls ab, aber gewiss gibt es Leute, denen solche Werke wiederum gar nichts sagen. Mich stört immer dieses Mitschwingen des Universellen.

Kati

Ich denke, man darf das nicht so auf ,,kleine" Themen wie Standesunterschiede herunterbrechen. Nehmen wir mal die Effi Briest, die ich gehasst habe wie nichts. Ich konnte aus dem Buch trotzdem etwas mitnehmen. Natürlich, heute werden Frauen bloß noch selten vollkommen aus der Gesellschaft ausgeschlossen, weil sie ihren Mann betrügen und es ist auch keine Sache der Ehre mehr, wenn der Betrogene den anderen erschießt, sondern einfach Mord und demnach schlimmer als der Betrug: In Effi Briest wird das anders dargestellt, obwohl der Mann ja auch Gewissensbisse hat seinen alten Kumpel zu töten. Wie dem auch sei, diese Problematiken bestehen heute so nicht mehr. Aber die Menschen stehen immer noch auf Drama, Intrigen, Affären und große Liebesgeschichten. Und das hat die Effi zu bieten. Nebenbei ist sie noch ein ziemlich großartiger Zeitzeuge, weil man in Fontanes Schilderungen und seiner Art zu erzählen sehr viel von den 1890ern spüren kann. Dasselbe gilt für Tolstois ,,Anna Karenina".

Ich denke, was an Klassikern wichtig ist, ist nicht, ob sie besser oder schlechter sind als moderne Texte. Was Lavendel gesagt hat, dass Klassiker meist Bücher sind, die auch heute noch Relevanz haben, würde ich auch so sehen, aber ich würde eher sagen, dass es Bücher sind, die auch heute noch interessante Ansätze bieten, die den Lesern gefallen. Und das sind meistens Liebe, die nicht sein darf (Romeo & Julia, Effi, Anna Karenina, auch bei Kleist etc.), was sich ja heute immer noch als deutliches Muster durch die Literatur zieht, oder eben moralischer Verfall oder der Pakt mit dem Bösen. Das gibt es in Faust, aber auch im Dorian Gray von Oscar Wilde. Der ist eh besonders interessant, weil er voller versteckter Kritik an der Gesellschaft der 1890er ist. Manche dieser aufgezeigten Probleme sind Vergangenheit und manche nicht, doch ich denke, weshalb das Buch immer noch gelesen wird, ist eher der moralische Konflikt und das immer tiefer sinken seines Charakters. Wir haben es doch in jedem Vampirroman, dass der Held ach so böse und abgründig ist. Menschen stehen auf seelische Abgründe, böse Machenschaften und co. und deshalb sind diese Bücher Klassiker. Weil die gesellschaftlichen Aspekte vielleicht passé sind, aber eben der Hauptkern erhalten bleibt.

Dasselbe gilt für Epik und alles Heldenhafte. Schließlich sind die Zeiten der Pariser Barrikaden auch längst vorbei und Les Mis ist immer noch ein großer Hit. Alles, was mit dem Freiheitsgedanken, Befreiung von alten Mustern und Aufstand zu tun hat... das sorgt für Drama und viele Leser lieben das. Ich kriege davon auch Gänsehaut, ganz ehrlich, ob der Roman jetzt von 1850 stammt oder von 2005. Und ich glaube, das ist es, was Lavendel meint, wenn sie sagt, dass es auf das Menschliche ankommt. (Falls nicht, bitte pfannen.) Emotionen, Drama und dergleichen sprechen Leser halt Jahrhunderte übergreifend an und deshalb kam ich ja auch darauf, dass vielleicht Twilight irgendwann als Klassiker zählt, weil das Buch das alles zu bieten hat.

Wenn Klassiker keinen Bezug mehr zu unserer Realität hätten, würden sie schließlich auch nicht alle paar Jahre neu verfilmt werden. Wie viele Verfilmungen gibt es jetzt von ,,Stolz und Vorurteil", ,,Dorian Gray" oder ,,Sturmhöhe"? Und während vielen Leuten das Buch wegen des antiquierten Schreibstils nicht gefällt, lieben sie doch die Filme, weil die Geschichten einfach immer noch berühren, obwohl die Umstände heute vielleicht nicht mehr gegeben sind.

Churke: Genau. Besonders Bücher wie "Im Westen nichts Neues" können heute gar nicht mehr so entstehen, weil das Selbsterlebte fehlt. Es gibt auch heute noch gute Bücher über den Krieg, aber ich denke, niemand kann mehr aus dem Nichts heraus nachvollziehen, wie es sich angefühlt hat, die Zeit des zweiten Weltkrieges mitzuerleben. Das gilt für jede Epoche. Es gibt haufenweise gute historische Romane, aber im Gegensatz zu Autoren wie Goethe, Wilde, Fontane und Tolstoi haben wir diese Zeit nicht miterlebt. Ich kann recherchieren, wie ich will, aber ich werde 1890 nie sehen und in diesem Sinne haben Klassiker immer diesen gewissen Vorteil modernen Autoren historischer Romane gegenüber.

chaosqueen

Psst, "Im Westen nichts Neues" ist erster Weltkrieg. ;) Aber das ändert nichts an der Aussage des Romans, am hautnahen Miterleben, welches man in dieser Form nur in Romanen erlebt, deren Autoren wissen, wovon sie schreiben.

Ich stimme übrigens zu, dass es nicht ausreicht, zu wissen, wo man nach Informationen suchen kann, weil vieles im Kontext passiert und man nicht permanent mit dem Internet verbunden ist. Allgemeinbildung in Form humanistischer Bildung halte ich in unserer Gesellschaft noch immer für nicht unwichtig - zusätzlich zu dem Wissen, wie man mit neuen Medien umgeht, wie man in modernen Zeiten recherchiert und wie man das Wissen anwendet, das man nachschlägt. Dass man das Periodensystem der Elemente nicht im Kopf haben muss, halte ich für richtig, aber man muss wissen, wie man es liest und was man damit anfangen kann.
Ich habe leider das konkrete Beispiel nicht mehr im Kopf, aber gestern beim Taucherstammtisch fiel mittendrin ein Satz, der auf einen antiken Dichter anspielte bzw. auf den Inhalt einer antiken Dichtung. Mein erster Gedanke (beim Erkennen, worauf angespielt wird): "Cool, das Wissen hab ich dem Sprecher gar nicht zugetraut!" Mein zweiter Gedanke: "Das haben jetzt sicher nicht alle verstanden." Und das genau ist etwas, das mir wichtig ist: Ich kann "o tempora, o mores" zitieren und hoffen, verstanden zu werden. Mit Glück hatte der eine oder andere in der Runde Latein, vielleicht haben einige der anderen den Spruch schon mal gehört und wissen, was er bedeutet. Jemand, der nichts damit anfangen kann, wird dumm gucken, vermutlich nicht nachschlagen und minimal den Anschluss im Gespräch verlieren. Nicht dramatisch. Es gibt aber auch Themen, bei denen es wichtig ist, dass man ein wenig Grundwissen hat.

Zurück zum eigentlichen Thema:
Ich halte es für durchaus möglich, dass Harry Potter, Panem und vielleicht sogar Twilight zu Klassikern werden, einfach weil diese Bücher die Menschen berühren. Und ich halte es ebenfalls für möglich, dass in ein- oder zweihundert Jahren keiner mehr weiß, wer Goethe war. Dass seine Sprache irgendwann nicht mehr verstanden wird und nur noch ein paar Sprachwissenschaftler an der Uni sich darum kümmern, seine Texte zu lesen. Es gab mit Sicherheit eine Menge wunderbarer Literatur, die im Laufe der Jahrhunderte verschwunden ist - und davon war sicher auch einiges für eine lange Zeit so etwas wie ein Klassiker. Auch wenn die heutige Form der Literatur ja noch sehr jung ist, im Kontext des Alters der Menschheit betrachtet.
Was dann die Frage beantwortet, ob heutzutage mehr Bücher gedruckt werden als in früheren Zeiten: Eindeutig ja. Nicht zuletzt, weil früher weniger Menschen lesen konnten und es zudem auch den Reichen und Gebildeten vorbehalten war, Bücher waren Luxusgüter, die sich einfache Bauern und Handwerker nicht leisten konnten (weder finanziell noch zeitlich).

Max und Moritz hab ich als Kind geliebt. Mein Vater konnte die herrlich vorlesen, und ich habe die Geschichten nie für bare Münze genommen, vielleicht auch wegen der tollen Zeichnungen. Dafür hab ich die Standardmärchen nicht gemocht, die waren mir zu brutal (Rotkäppchen, Hänsel & Gretel & Co.). Meine Tante war ganz entsetzt, als ich das als Teenie mal geäußert habe, das seien doch so wichtige, lehrreiche Texte ... Ich hab von den Grimm'schen Märchen dann lieber Schneeweißchen & Rosenrot, die Kristallkugel und noch ein paar andere gelesen.

Kati

ZitatPsst, "Im Westen nichts Neues" ist erster Weltkrieg.

Ich weiß. Ich hatte noch überlegt und dann flott nachgelesen, weil ich mir nicht mehr sicher war. Wie dann doch der zweite draus geworden ist...   ::) Na ja, das gilt ja aber auch für den zweiten Weltkrieg, von daher.  ;) Aber ich gebe dir Recht, was das Allgemeinwissen angeht. Ich kriege das immer wieder im Geschichtsstudium gesagt: Du musst nicht wissen, wie jede Burg heißt und welche Geschichte sie hat, aber du solltest erkennen können, aus welcher Zeit sie stammt und allgemein etwas über Burgen wissen. Ich denke, das lässt sich sehr gut auf alle anderen Gebiete auch anwenden: Man muss nicht alles im Detail wissen, aber eine ungefähre Ahnung haben ist nie verkehrt.

ZitatMeine Tante war ganz entsetzt, als ich das als Teenie mal geäußert habe, das seien doch so wichtige, lehrreiche Texte ...

Diese Einstellung finde ich fast schon... na ja, gefährlich sicherlich nicht, aber ungesund. Märchen waren, wie gesagt, ja nie für Kinder gedacht und ich hatte auch eine Heidenangst vor Märchen, besonders Aschenputtel mit den Schwestern, die sich Teile ihrer Füße abschneiden. Was daran lehrreich ist, weiß ich nicht. Interessant sind Märchen allemal, aber die Moral und das Wissen, das man daraus ziehen kann, kann man seinen Kindern auch leicht ohne Märchen vermitteln, weil das meistens Basics sind. Die ich als Kind aus den Geschichten aber gar nicht herausziehen konnte, ich habe den Sinn nie verstanden. Erst später.

FeeamPC

Märchen, egal wie brutal und politisch falsch sie ausfallen, sind Behandlungen von Archetypen, die jeder von uns aus dem kollektiven Unterbewusstsein mitkriegt und die deshalb unabhängig von Jahrhundert die Menschen ansprechen. Nicht jeden, aber eben doch sehr viele. Das macht sie so zeitlos. Und so notwendig.
Über diese Archetypen und eine sehr schwarz-weiß-gemalte Welt können Kinder Werte finden und verankern. Das gibt ihnen Ankerpunkte, sie sie brauchen.
Das Feintuning dieser Werte obliegt dann der elterlichen Erziehung und den aktuellen gesellschaftlichen Einflüssen.

Klassiker, die wichtige Aussagen haben wie z.B. Goethes Faust, können durch ein neues Medium wieder aktuell und verdaulich werden. ich habe den Faust als Film-Aufzeichnung eines Theaterstücks gesehen, und war fasziniert, obwohl ich ihn in der Schule gehasst habe. Habe mir den Film sogar zweimal angesehen. (Mephisto, mit Gustav Gründgens in der namensgebenden Rolle)