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Historische Einflüsse / Versatzstücke im Roman (Abercrombie)

Begonnen von Fianna, 29. Oktober 2012, 02:46:59

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Fianna

Bei manchen Büchern stören mich extrem an historischen Einflüssen, bei anderen wiederum gar nicht.
Umso merkwürdiger, wenn man weiss, dass die Fianna nach jeder "Erfindung" für ihre Fantasywelt grundsätzlich historische Vergleiche zieht und ggfs. modifiziert (wenn z.B. für eine technologische Sache oder eine gesellschaftliche Angelegenheit bestimmte kulturelle Voraussetzungen ausnahnmslos gegeben waren, so dass sie irgendwie als logische Grundvoraussetzung anzunehmen sind, und in meinem Fantasy-Szenario eben nicht existieren.)

Jetzt habe ich mal in meinem Bücherregal sortiert und gestöbert und drüber nachgedacht, und bemerke, dass es mich nur stört, wenn mehrere Schnipsel in eine Fantasywelt eingepasst sind. Bin ich als geschichtsinteressierter Mensch dafür vielleicht übersensibel, oder gibt es hier weitere fachlich versierte oder interessierte Menschen, die sowas auch bemerken, aber ignorieren?


Wenn z.B. ich einen Roman lese und die Kultur ist an eine irdische angelehnt, bis hin zu den Namen, aber dennoch Fantasy: passt schon. Falls ich es nicht anhand von Klappentext/Rezensionen wusste, bin ich vielleicht irritiert und brauche einen zweiten Leseversuch, stört mich aber grundsätzlich nicht.

Oder in einem Buch wird ein Szenario/Konflikt aus der historischen Realität aufgegriffen: ich bemerke es zwar und knabbere daran herum, ob es wirklich so einfach ist mit der Parallele, überlege, ob da Absicht des Autors hinter steckt oder Zufall/unbewusste Verarbeitung, stört mich aber auch nicht.
(Z.B. gibts in einer Vampirserie ein Zusammenleben zwischen Menschen und Vampiren, natürlich sind die Menschen das schwächere Glied, und irgendwann kommt den Twist, dass aufgrund von Neuankömmlingen es zum Machtkampf zwischen den Vampirfraktionen kommt und die Menschen sich für eine Seite entscheiden müssen; danach wird die "Gesellschaft" nie mehr so sein, wie vorher - falls die weniger schlimmen Vampire gewinnen - und man verspricht sich auch mehr Freiheiten... Autorin isr Amerikanerin, also Sklaven & Bürgerkrieg).

Wenn ich allerdings in einer losgelösten Fantasywelt, die so nichts mit unserer Welt zu tun hat, mehrere Versatzstücke unserer Welt finde, dann ist das für mich ein Kritikpunkt an dem Buch. Es mag ja sein, dass man zur Verdeutlichung modisch-unpraktischer Kleidung der Oberschicht oder von Theaterkultur oder Kriegen Beispiele geben will - aber kann man sich da nicht flott was ausdenken?
Wieso muss man historische Schnipsel klauen, so dass der Leser direkt weiß "Aha, Rokokokleider - Napoleons Winterkrieg - Sommernachtstraum" - das muss doch nicht sein!
Klar, irgendwie dient es der Veranschaulichung, andererseits, wenn der Autor Wert auf die Ausarbeitung des Magiesystems (?) und Mythologie und sowas legt, da kann er da doch auch sich schnell ein paar warme Gedanken zu machen.
Vielleicht ist mir da im Gegenteil auch eine Ebene entgangen und neben "Angland" gibts da auch weitere "europäische Länder", solche Hinweise sollen den unaufmerksamen Leser wie mich dafür sensibilisieren, dass jedes Fantasy-Land eine europäische Real-Entsprechung der Geschichte hat - keine Ahnung.

Ist mir nicht aufgefallen, sind hier Abercrombie-Fans? Das war nämlich bezogen auf seinen ersten Band.


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Nun ja, falls es da keine Entsprechung seiner Fantasy-Länder zu europäischen Ländern gibt, ist das für mich einer (von mehreren) echten Minuspunkten an der Reihe.

Vielleicht bin ich auch etwas übersensibilisiert, weil ich ein Interview las, in dem der Mann zwar (sinngemäß wiedergegeben) einerseits sagt, er wollte ja unbedingt einen Roman schaffen, in dem auch mal bissel Hintergrund und Geschichte vorhanden sind, andererseits sagt, er habe seit Ewigkeiten nix gelesen. Aha. Da kann man sowas ja besonders gut beurteilen  ???

Ich hab ja immer das Gefühl, ich kenne nix (nicht nur im Buch-Pitch-Raten-Thread), aber sogar mir fallen da direkt Gegenbeispiele ein.
Vielleicht ist das auch der Grund, dass ich die Entsprechung zu Frankreich, Italien o.Ä. nicht sehe(n will) und es für komische Versatzstücke halte...


Was haltet ihr denn von historischen Einflüssen in Fantasyromanen, oder besonders von solchen (nehmen wir mal an, es ist trifft zu) zusammenhanglosen Schnipseln?

Und hat jemand die Trilogie gelesen und weitere Erkenntnisse für mich zu den Ländern und den Schnipseln, die vielleicht gar nicht so zusammenhanglos sind, sondern einem größeren Plan angehören? :)

Naudiz

Ich habe Abercrombie gelesen und fand diese Sache mit Angland und so gar nicht so schlimm. Allerdings kann es auch sein, dass ich in solchen Sachen absolut ignorant bin. Mich stört es nicht, wenn Fantasy-Welten an die Realität angelehnt sind. Ich meine, hey, wir kommen nun mal nicht vom Jupiter. Wir kennen nur unsere real existierende Welt. Davon wird man geprägt, ob man will oder nicht. Ich selbst orientiere mich für meine High Fantasy-Projekte ja auch am historischen Europa.

Dass Abercrombie ganz augenscheinlich mehrere real existierende Kulturkreise in seine Romane eingebaut hat, finde ich also gar nicht einmal so verwerflich. Im Gegenteil, ich fand es gut. Endlich mal jemand, der sich nicht einmal die Mühe macht, die Anlehnungen zu verschleiern.

ZitatVielleicht bin ich auch etwas übersensibilisiert, weil ich ein Interview las, in dem der Mann zwar (sinngemäß wiedergegeben) einerseits sagt, er wollte ja unbedingt einen Roman schaffen, in dem auch mal bissel Hintergrund und Geschichte vorhanden sind, andererseits sagt, er habe seit Ewigkeiten nix gelesen. Aha. Da kann man sowas ja besonders gut beurteilen

Warum schließt sich das aus? Ich kann auch jahrelang nichts lesen und die Fakten im Kopf haben. Und es ist ja nun wirklich kein Geheimnis, das viele populäre Fantasywelten (siehe Eragon, um das Beispiel weiter zu strapazieren) über nicht sonderlich viel Background verfügen. Und wie gesagt, wenn man schon Background aufbaut, dann ist es nicht verwerflich, sich an realen Geschehnissen zu orientieren. Ich finde das sogar lobens- und ratenswert. Selbst Größen wie George R.R. Martin machen das. Oder will mir hier jemand erzählen, dass er sich nicht u.a. an den Rosenkriegen zwischen York und Lancaster bedient hat?

Von Rokokokleidern habe ich im Übrigen in den Klingen-Bänden nichts mitbekommen, vielleicht habe ich die Andeutungen auch überlesen.

Post scriptum: Falls ich deine Frage falsch verstanden haben sollte, bitte sagen.

Fianna

#2
Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:00:40
Dass Abercrombie ganz augenscheinlich mehrere real existierende Kulturkreise in seine Romane eingebaut hat, finde ich also gar nicht einmal so verwerflich. Im Gegenteil, ich fand es gut. Endlich mal jemand, der sich nicht einmal die Mühe macht, die Anlehnungen zu verschleiern.
Ich hab da ein Land eher in Asien verortet und deswegen diese Europa-Analogie nicht gesehen. Mehr als Angland hast Du ja auch nicht an Infos... Mir kams bei diesen 3 Beispielen wirklich wie Versatzstücke ohne Bezug vor.
Ich meine, ist Luthars Heimat quasi Frankreich? Will der Autor mir mit diesen 3 Schnipseln etwas sagen, oder sind das einfach nur "Ach, hauen wir mal Anspielungen rein, ist lustig"-Schnipsel?


Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:00:40Warum schließt sich das aus? Ich kann auch jahrelang nichts lesen und die Fakten im Kopf haben.
Es ging ja nicht um Fakten, es ging ums genaue Gegenteil. Dass er sagt, er lese kein Fantasy, er habe ja keine Zeit, andererseits aber über fehlende Weltenhintergründe in der Fantasy urteilt und so klingt,  als sei sein Werk jetzt die Neuheit und das was schon immer gefehlt hat: eine Welt mit Hintergrund und Geschichte, Charaktere mit Motivationen.
Ähems - nein - sogar der uninformierteste Mensch der Welt, nämlich ich, kenne da zahlreiche Gegenbeispiele.
Vielleicht war dieses Interview der Grundanstoss, dass ich mich über diese Versatzstückchen so geärgert habe...

~~~~~~~~~

Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:00:40Selbst Größen wie George R.R. Martin machen das. Oder will mir hier jemand erzählen, dass er sich nicht u.a. an den Rosenkriegen zwischen York und Lancaster bedient hat?
Ich mochte die Rosenkriege, und Krieg und Politik sowieso. Jetzt mach es mir nicht so schwer, mich von den Bänden noch etwas fernzuhalten ^^

Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:00:40Und wie gesagt, wenn man schon Background aufbaut, dann ist es nicht verwerflich, sich an realen Geschehnissen zu orientieren. Ich finde das sogar lobens- und ratenswert.
Kommt auch irgendwie drauf an, wie. das mit dem Bürgerkrieg (anderes Beispiel) fand ich ja auch gut.
Wenns irgendwie so sehr plakativ ist, oder, hm, sich so sehr an den Geschehnissen orientiert, das gefällt mir nicht.
Ich nehm mal als Beispiel gezwungenerweise Martin: wenn mir jemand sagt "Er hat die Quintessenz der Rosenkriege genommen und in dem Roman untergebracht" finde ich das toll. Wenn ich beim Lesen jedoch merke (was bei den Rosenkriegen nicht der Fall wäre, aber egal), dass da alles 1:1 so wie anno was-auch-immer passiert - fände ich das doof. Weil der Autor sich an die (historische) Geschichte klammert, anstatt sich davon zu lösen und mit der Quintessenz, Prämisse, Inspiration (wie auch immer man es nennen mag) ein eigenes Szenario zu schaffen.

~~~~~~~~~

Neue Frage: wenn Du ein Buch kaufst und gehst wegen Klappentext, Bewerbung oder vielleicht auch den gelesenen Rezensionen von einer "erfundenen Welt" aus, dann ist aber alles ziemlich griechisch oder römisch aufgemacht... Irritiert Dich das, bist Du leicht enttäuscht oder ist es egal?

Naudiz

Zitat von: Fianna am 29. Oktober 2012, 03:09:39
Ich hab da ein Land eher in Asien verortet und deswegen diese Europa-Analogie nicht gesehen. Mehr als Angland hast Du ja auch nicht an Infos... Mir kams bei diesen 3 Beispielen wirklich wie Versatzstücke ohne Bezug vor.
Ich meine, ist Luthars Heimat quasi Frankreich? Will der Autor mir mit diesen 3 Schnipseln etwas sagen, oder sind das einfach nur "Ach, hauen wir mal Anspielungen rein, ist lustig"-Schnipsel?

Ich habe nicht gesagt, das Angland Europa sei. Ich habe lediglich gesagt, dass ich selbst Europa-Anleihen in MEINEN Romanen habe. Auf Abercrombie habe ich das nie bezogen.
Luthars Heimat habe ich jetzt leider nicht mehr so genau im Kopf, tut mir leid. Das ist jetzt über ein Jahr her, dass ich die Bücher das letzte Mal in der Hand hatte.

ZitatEs ging ja nicht um Fakten, es ging ums genaue Gegenteil. Dass er sagt, er lese kein Fantasy, er habe ja keine Zeit, andererseits aber über fehlende Weltenhintergründe in der Fantasy urteilt und so klingt,  als sei sein Werk jetzt die Neuheit und das was schon immer gefehlt hat: eine Welt mit Hintergrund und Geschichte, Charaktere mit Motivationen.

Von fehlenden Welthintergründen in der Fantasy hast du nichts gesagt. Du hast lediglich aus dem Interview zitiert, dass er "endlich mal eine Fantasy-Welt mit Hintergrund" machen will. Vielleicht hat er das "endlich" ja auch auf sich selbst und seine früheren Werke bezogen? Da musst du schon konkrete Beispiele nennen, dass er sich allgemein auf die aktuelle Fantasy-Literatur bezieht. Davon einmal abgesehen, kann man auch mitbekommen, was aktuell auf dem Buchmarkt los ist, wenn man mal in die Medien schaut. Dafür muss man die betreffenden Bücher nicht unbedingt gelesen haben. Ich kann dir auch sagen, was in den Tributen von Panem passiert, ohne die Reihe je auch nur in der Hand gehabt zu haben.

ZitatIch nehm mal als Beispiel gezwungenerweise Martin: wenn mir jemand sagt "Er hat die Quintessenz der Rosenkriege genommen und in dem Roman untergebracht" finde ich das toll. Wenn ich beim Lesen jedoch merke (was bei den Rosenkriegen nicht der Fall wäre, aber egal), dass da alles 1:1 so wie anno was-auch-immer passiert - fände ich das doof. Weil der Autor sich an die (historische) Geschichte klammert, anstatt sich davon zu lösen und mit der Quintessenz, Prämisse, Inspiration (wie auch immer man es nennen mag) ein eigenes Szenario zu schaffen.

Das habe ich bei Abercrombie jetzt nicht so empfunden. Spontan würden mir auch keine Stellen einfallen, an denen er sich ganz konkret an historische Ereignisse geklammert hätte. Vielleicht ist mir beim Lesen aber auch etwas entgangen, das liegt durchaus im Bereich des Möglichen.

ZitatNeue Frage: wenn Du ein Buch kaufst und gehst wegen Klappentext, Bewerbung oder vielleicht auch den gelesenen Rezensionen von einer "erfundenen Welt" aus, dann ist aber alles ziemlich griechisch oder römisch aufgemacht... Irritiert Dich das, bist Du leicht enttäuscht oder ist es egal?

Das würde mir nicht passieren, weil ich mir in den meisten Fällen vor dem Kauf eines Buches entweder Rezensionen zu Gemüte führe oder, wenn es ein Zufallsfund im Buchladen ist, an mehreren Stellen hineinlese. Davon einmal abgesehen, gibt es für mich keine komplett "erfundenen" Welten, weil wir viel zu sehr von den Historie und eigenen Erlebnissen beeinflusst sind. Das kann man nicht abschütteln, es sei denn, man lebt irgendwo im tibetanischen Hochland als Eremit, und selbst da wäre man wohl noch von äußeren Einflüssen geprägt.

Fianna

Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:24:53
Das habe ich bei Abercrombie jetzt nicht so empfunden. Spontan würden mir auch keine Stellen einfallen, an denen er sich ganz konkret an historische Ereignisse geklammert hätte.
Den hatte ich auch gar nicht gemeint, das war ein freies Beispiel ;-)


Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:24:53Das würde mir nicht passieren, weil ich mir in den meisten Fällen vor dem Kauf eines Buches entweder Rezensionen zu Gemüte führe oder, wenn es ein Zufallsfund im Buchladen ist, an mehreren Stellen hineinlese.
Wenn ichs eilig habe, kaufe ich Bücher manchmal nach Klappentexten, mein Fehler ^^ Da wird aus einem Mensch gern mal eine Elfe  ;D

Zitat von: Naudiz am 29. Oktober 2012, 03:24:53Davon einmal abgesehen, gibt es für mich keine komplett "erfundenen" Welten, weil wir viel zu sehr von den Historie und eigenen Erlebnissen beeinflusst sind.
Das hab ich ja auch nirgendwo behauptet, oder? ;-)

Deswegen hab ich ja unterschieden, ob man sich an die Geschichte klammert, oder nur von ihr inspirieren lässt.... Die Quintessenz oder einen Konflikt von etwas nimmt, und es verarbeitet, vielleicht auch mit angelehnten Kulturteilen, oder einfach eine Geschichte nochmal neu erzählt, nur in Fantasyumfeld und mit anderen Namen.

Naudiz

Zitat von: Fianna am 29. Oktober 2012, 03:33:14
Deswegen hab ich ja unterschieden, ob man sich an die Geschichte klammert, oder nur von ihr inspirieren lässt.... Die Quintessenz oder einen Konflikt von etwas nimmt, und es verarbeitet, vielleicht auch mit angelehnten Kulturteilen, oder einfach eine Geschichte nochmal neu erzählt, nur in Fantasyumfeld und mit anderen Namen.

Okay, dann habe ich dich in diesem Punkt wohl falsch verstanden. Allerdings frage ich mich immer noch, worauf du mit deinen Fragen hinauswillst. Anscheinend stört es dich ja nicht, wenn sich Autoren an realen historischen Ereignissen orientieren. Aber über den Herrn Abercrombie regst du dich auf. Ich sehe das Problem nicht, da ich persönlich keine konkreten Sachen aus der realen Historie in den Klingen-Romanen finden konnte. Wenn du Beispiele nennen könntest, würde ich da vielleicht eher etwas dazu sagen können.

Arielen

Ich habe gemerkt, dass mich historische Elemente/Einflüsse nur dann stören, wenn sie irgendwie nicht zusammenpassen. Das fängt damit an, dass Leute Bill, Bob und Tom heißen, der Hintergrund aber eher an die späte Antike erinnert oder an das Italien der Rennaissance. Das nervt dann zwar, ist aber stellenweise noch zu errtragen. Das erlebe ich gelegentlich bei irgendwelcher Romantasy, die in der Vergangenheit spielt.

Schlimmer finde ich es, wenn der Autor irgendeine historische Begebenheit nimmt und sie eigentlich nur in seine Welt stellt, weil es eine coole Schlacht beinhaltet, ohne dabei zu brücksichtigen, dass das Ereignis nur das Ergebnis vieler Entwicklungen ist. Ich vermisse dann etwa die Gründe für einen Krieg - einfach nur zu sagen, die Guten und Bösen machen das halt so, weil die die Schlacht bei Waterloo nachspielen will oder Caesars Überschreiten des Rubikon.

Es kommt immer darauf an, wie ein Autor das Vorbereitet. George R. R. Martin ist so ein Positivbeispiel. Man weiß, an was er sich orientiert, aber das entwickelt auch seine eigene Dynamik.

Ich habe einen oder zwei Romane von Abercrombie gelesen, aber ich weiß noch, dass ich sie irgendwie nicht gut fand. Was mich daran gestört hat, kann ich jetzt nicht mal genau sagen, aber es könnte auch daran gelegen haben, dass die Versatzstücke nicht vernünftig in seine Welt eingebunden waren.

Was ich damit sagen will ist: Autoren können alles machen, sich auch an der Geschichte orientieren - nur es sollte letztendlich in sich stimmig wirken. Es reicht nicht aus militärische/politische Ereignisse in seine Welt einzubauen, denn alles hat auch noch seinen kulturellen und gesellschaftlichen Unterbau.
Alles liegt im Auge des Betrachters

Mithras

Zitat von: Fianna am 29. Oktober 2012, 03:09:39Ich nehm mal als Beispiel gezwungenerweise Martin: wenn mir jemand sagt "Er hat die Quintessenz der Rosenkriege genommen und in dem Roman untergebracht" finde ich das toll. Wenn ich beim Lesen jedoch merke (was bei den Rosenkriegen nicht der Fall wäre, aber egal), dass da alles 1:1 so wie anno was-auch-immer passiert - fände ich das doof. Weil der Autor sich an die (historische) Geschichte klammert, anstatt sich davon zu lösen und mit der Quintessenz, Prämisse, Inspiration (wie auch immer man es nennen mag) ein eigenes Szenario zu schaffen.
Dann solltest du dich nach Möglichkeit von den Werken von Guy Gavriel Kay fernhalten. In meinen Augen orientiert er sich allzu sklavisch an der realen Geschichte und weicht nur selten davon ab, und wenn man sich mit der entsprechenden Thematik auskennt, findet man nur wenig Überraschendes. In seiner Sarantium-Dilogie existiert zum Beispiel eine Entsprechung zu Tacitus und dessen Werk Germania, aus dem dann auch heiter zitiert wird.
Ich persönlich habe das als sehr unkreativ empfunden, da die Welt zwar in nahezu allen Details der Realität entspricht (wenn man mal von den Namen, diversen Ereignissen usw. absieht), dabei aber nicht ansatzweise an deren Komplexität herankommt. Gerade mit den Religionen hat es sich Kay viel zu einfach gemacht.

Wenn ich sehe, dass sich ein Autor auf diese Weise mit der Realität auseinandersetzt, bin ich enttäuscht und nicht selten genervt. Es geht aber auch anders: Eines meiner Vorbilder, die Gezeitenwelt, bedient sich fast ausschließlich real existierender Kulturen, erschafft dabei aber etwas völlig Eigenes. Ein Kaiserreich, das auf dem China der Ming-Dynastie basiert, hat sich zur alle beherrschenden Seemacht aufgeschwungen (ein Gedanke, der angesichts der Expeditionen des Admirals Zheng He nicht allzu abwegig ist), und auch das vermeintliche Europa steht unter der Kontrolle von Kaufleuten, die eng mit der Kirche verbandelt sind. Eione der in meinen Augen spannendsten Regionen ist Eulykien, eine Art Delphi-Syndikat der Superlative. Die Idee dahinter war wohl, ein Reich zu erschaffen, in dessen Mittelpunkt ein vermeintlich allwissendes Orakel steht, und die ganze Kultur darauf auszurichten. Eulykien ist daher streng matriarchalisch organisiert, die Sprache entspricht der Koine (das Griechische zwischen ca. 300 v. & 600 n. Chr.), und die Kultur ist deutlich durch die raue Umwelt, die mich persönlich an Feuerland erinnert hat, geprägt.

Solche gelugenen Neuinterpretationen sind genau nach meinem Geschmack und haben Vorbildfunktion für mich. Mit Faulheit und einem generellen Mangel an Kreativität hat das hoffentlich nichts zu tun, denn es kommt für mich natürlich nicht in Frage, die Realität in allen Details nachzuzeichnen. Ich habe mich immer gefragt, was passiert wäre, wenn die Geschichte an entscheidenden Wendepunkten einen anderen Verlauf genommen hätte, und dem versuche ich in meiner Geschichte Rechnung zu tragen. Mich hat zum Beispiel immer genervt, dass Germanen nahezu immer die Rolle primitiver Barbaren übernehmen müssen. Unter welchen Umständen hätte man den Spieß also umdrehen können? Die Lösung, auf die ich gekommen bin: Wären ihre Vorfahren in eine geographisch günstiger gelegene Region eingewandert und dort Dominanz erlangt, hätte ihre Kultur vielleicht floriert. In meiner Geschichte übernehmen meine hypothetischen "Urgermanen" in etwa die Rolle der Hethiter: Sie sind die ersten, die die Eisenverhüttung entdecken, steigen zu einer regionalen Großmacht auf, bis ihr Reich zugrunde geht, können ihre kulturelle Eigenständigkeit aber behaupten und gehen daher nicht unter, wenngleich sich mehrere Stämme und Völker herausbilden, die germanisch oder keltisch angehaucht sind, ihren Vorbildern kulturell aber weit überlegen sind. Kriegerkulte, wie man sie von Germanen und Kelten kennt, gibt es daher natürlich nicht.

Ebenso "verschmelze" ich gerne Kulturen, Religionen usw., die in der Realität nur schwer kompatibel waren. Ich spiele gerne mit Motiven wie dem Hellkenismus/den Diadochenreichen (das ptolemäische Ägypten, das Seleukidenreich, das graeco-baktrische Königreich, ...), dem Sassaniden- und dem Mogulreich, mit synkretischen Religionen wie dem Graeco-Buddhismus oder eigenen Kompositionen wie etwa einer Verbindung von Echnatons Sonnenkult mit der griechischen Mythologie oder einer Verschmelzung von Mithraskult, Zoroastrismus und Hinduismus zu einer universalistischen, in Grundzügen jedoch monotheistischen Religion. Neben all den bekannt anmutenden Völkern gibt es aber auch diverse Neukreationen.

Kurz gesagt: Die Fantasyliteratur bietet mir eine willkommene Gelegenheit, geschichtliche Gedankenexperimente durchzuführen in Reales mit Fiktion zu mischen. Zugleich kann man wunderbar mit den Erwartungen der Leser spielen, indem man bewusst Assoziationen hervorruft und dann alles wieder über den Haufen wirft. Ich als Leser freue mich immer, wenn mich ein Autor auf diese Weise überrascht.

Dennoch birgt eine solche Herangehensweise natürlich Risiken. Man läuft ständig Gefahr, es sich zu leicht zu machen, und es gibt wohl auch Leser, die all dem ablehnend gegenüber stehen - schließlich kann man kaum leugnen, dass man viele Dinge, vor allem die Sprachen, nicht neu erfunden hat, und ich persönlich beneide jeden Autor, der dazu in der Lage ist. Dennoch bin ich immer hoch erfreut, wenn es einem Schriftsteller gelingt, souverän auf dem schmalen Grat zwischen kompletter Neuerfindung und bewusster Anlehnung an die Realität zu balancieren und dabei etwas völlig Eigenes zu schaffen.

Churke

Zitat von: Mithras am 12. November 2012, 21:00:49
Mich hat zum Beispiel immer genervt, dass Germanen nahezu immer die Rolle primitiver Barbaren übernehmen müssen. Unter welchen Umständen hätte man den Spieß also umdrehen können?

Aber wären sie dann noch Germanen?  :engel:
Während Männer wie Geiserich mit einer Hand voll Krieger das Imperium filettierten, durften die Römer nicht mal Waffen tragen. Selbstverteidigung gegen Barbaren nur mit Genehmigung! Das ist kein Witz und ich finde diesen Clash of Cultures viel faszinierender als die historischen Ereignisse.

Mithras

Zitat von: Churke am 12. November 2012, 23:32:17Aber wären sie dann noch Germanen?  :engel:
Das ist Ansichtssache. Wenn sie eine Sprache sprechen, die auf einem germanischen Dialekt basiert, und ihre Religion germanisch angehaucht ist, wird wohl niemand es leugnen können. Schließlich wird auch niemand abstreiten, dass wir Deutsche Germanen sind, zumindest mehr oder weniger.

Zitat von: Churke am 12. November 2012, 23:32:17Während Männer wie Geiserich mit einer Hand voll Krieger das Imperium filettierten, durften die Römer nicht mal Waffen tragen. Selbstverteidigung gegen Barbaren nur mit Genehmigung! Das ist kein Witz und ich finde diesen Clash of Cultures viel faszinierender als die historischen Ereignisse.
Wenn man die historischen Ereignisse betrachtet, die sich im Zuge dieser Entwicklung ereignet haben, kann ich dir nur bedingt zustimmen, auch wenn der von dir erwähnte Clash of Cultures natürlich genau meinen Geschmacksnerv trifft. Allein die Intrigen, die dazu geführt haben, dass Rom an Alarich und Nordafrika an die Vandalen gefallen ist, halten so viele spannende Details bereit, dass ich manchmal aus dem Staunen nicht herauskomme. Es ist in meinen Augen nur legitim, sich davon inspirieren zu lassen, solange man die reale Entwicklung nicht in allen Details nachzeichnet. Ich persönlich freue mich immer, wenn ich auf subtile Anspielungen auf reale Ereignisse bzw. Adaptionen von Ereignissen, die der Mehrheit der Leser nicht bekannt sein dürften, stoße.

Churke

Zitat von: Mithras am 13. November 2012, 17:43:10
Wenn sie eine Sprache sprechen, die auf einem germanischen Dialekt basiert, und ihre Religion germanisch angehaucht ist, wird wohl niemand es leugnen können.

Dinge wie Sprachen und Religionen interessieren mich weniger als Kulturen, Mentalitäten, Staatsformen oder Verhaltensmuster.
Dazu gewinne ich den Eindruck, dass sich die Geschichte gerne wiederholt. Es ergeben sich ähnliche Konstellationen, in denen Menschen ähnliche Entscheidungen mit ähnlichen Folgen treffen. Das lässt m.E. den Schluss zu, dass die handelnden Menschen gleichfalls ähnlich sind. Man hat also ein Vorbild, das man studieren kann, und das macht leichter, die Charaktere und ihre (Minder-)Leistungen überzeugend darzustellen.

Mithras

Zitat von: Churke am 14. November 2012, 10:50:30
Dinge wie Sprachen und Religionen interessieren mich weniger als Kulturen, Mentalitäten, Staatsformen oder Verhaltensmuster.
Aber Sprache und Religion sind Teil der Kultur! ;) Ich würde sogar behaupten, dass Religion einer der wichtigsten (wenn nicht gar der wichtigste Faktor) der Kultur ist. Es gibt wenige Dinge, die die menschliche Schaffenskraft und die Mentalität im Lauf der Jahrtausende derart beeinflusst haben (im Guten wie im Schlechten) und die sich dabei durch die menschliche Vorstellungskraft immer wieder gewandelt haben. Man denke nur an den Einfluss der ägyptischen Religion auf ihr Staatswesen, die Bedeutung religiös-mythologischer Topoi in der Literatur und Kunst der klassischen Antike oder den unaufhaltsamen Aufstieg des Christentums, der schließlich im Verbot aller übrigen religiösen Praktiken im römischen Reich und dessen Nachfolgestaaten führte. Religion ist ein Aspekt der Kultur, der alles durchdringt. Dabei kann man letztlich alles auf dieselben Grundmuster reduzieren, die man unabhängig voneinander in vielen unterschiedlichen Religionen findet. Besonders spannend ist in meinen Augen der Transfer religiöser Gedanken. So entstand die heute in Ostasien dominierende Strömung des Buddhismus, der Mahayana-Buddhismus, im hellenistischen Baktrien. Ideen verbreiteten sich in beide Richtungen - Graeco-Buddhismus und stoische Philosophie beeinflussten bzw. bedingten sich wohl gegenseitig, und viele griechische Vorstellungen von Tugend fanden Einzug in die buddhistische Glaubenswelt. Kultur und Religion gehören letztlich immer zusammen.

Lomax

Zitat von: Mithras am 13. November 2012, 17:43:10Schließlich wird auch niemand abstreiten, dass wir Deutsche Germanen sind, zumindest mehr oder weniger.
Lustigerweise fand ich genau das erst vor kurzem in einem Artikel abgestritten ;). Da war die Aussage, dass selbst genetisch die Verwandtschaft zu den Germanen beim Durchschnittsbürger im heutigen Deutschland durch all die Verschiebungen in den letzten 1000 Jahren kaum noch größer ist als die Verwandtschaft zu anderen europäischen Völkern der Vormodernen Zeit. Ich weiß nicht, was ich von der These halten soll. Aber das es "niemand" abstreiten würde, kann man zumindest so lapidar wohl nicht mehr feststellen.
Zitat von: Mithras am 15. November 2012, 09:38:28Aber Sprache und Religion sind Teil der Kultur! ;) Ich würde sogar behaupten, dass Religion einer der wichtigsten (wenn nicht gar der wichtigste Faktor) der Kultur ist.
Ich würde die Abhängigkeit eher anders herum sehen: Die (materielle) Kultur erschafft sich ihre Religion - zumindest diejenigen praktischen Auswirkungen der Religion, von denen man tatsächlich sagen kann, dass sie den Alltag einer Kultur durchdringen (im Gegensatz zu dem eher abgehobenen teologischen Überbau einer Religion, der in der Alltagskultur weniger Einfluss entfaltet). Dafür spricht, dass sich für viele religiös verbrämte Regeln beispielsweise im Eherecht, bei Speise- und Fastenregeln, bei Feiertagen, bei religiös motiviert erscheinenden Rollen- oder Standesbildern regelmäßig handfeste materielle Ursachen oder vorreligiöse Traditionen finden lassen, aus denen sich diese Dinge begründen lassen und von wo aus sie irgendwann, nachdem sie schon da waren, auch zum Bestandteil der Religion geworden sind.
  Religionen mögen also auf den ersten Blick sehr bestimmend und motivierend für eine Kultur wirken - aber über die Frage, ob das nun daran liegt, dass tatsächlich eine Religion da war und daraus abgeleitete Regeln die Kultur bestimmt haben, oder nicht vielmehr daran, dass andere, ganz greifbare wirtschaftliche und gesellschaftliche Mechanismen irgendwann ein religiöses Etikett angehängt bekommen, das man dann natürlich immer sieht und über dem man leicht vergisst, dass der Sachverhalt ohne Religion oder unter dem Dach einer anderen Reiligion sich so ziemlich genauso entwickelt hätte, darüber kann man zumindest lange diskutieren.
  Das einzige, was man meines Erachtens sicher sagen kann, ist, dass Religionen stabilisierend auf an sich außerreligiös motivierte Besonderheiten einer Kultur wirken. Denn wenn beispielsweise eine "Moralvorstellung" als religiöses Gebot gelehrt wird und jeder vergessen hat, welchem wirtschaftlichen Zwang sie ihre Existenz verdankt, dann wird sie leicht auch aus rein religiösen Gründen weiterhin Unterstützer finden, selbst wenn der wirtschaftliche Zwang sich irgendwann verflüchtigt hat. Der durch Religionen erzeugte kulturelle Konservatismus hat auch wiederum einen strikt materiellen Nutzen, weil er dafür sorgt, dass stabile Strukturen entstehen und über einen längeren Zeitraum Bestand haben, dass nicht jedem kurzlebigen Trend folgend gleich die Ressourcen einer Gemeinschaft mit aufwendigen gesellschaftlichen Experimenten vergeudet werden; dass die Grundstrukturen einer Kultur sich also erst dann ändern, wenn eine materielle Veränderung der Lebensverhältnisse sich als langlebig und "drückend" genug erweist, um sich gegen das religiöse Beharrungsvermögen durchzusetzen.
  Aber das ist halt doch ein eher passiver Einfluss der Religion, kein "motivierender". Religion als alles motivierender Bestandteil einer Kultur, und nicht nur als ein verstärkender, formgebender und aus anderen Einflüssen abgeleiteter Faktor, ist meines Erachtens zumindest viel schwerer mit Evidenz zu verknüpfen - und schafft dementsprechend bei literarischer Adaption viel mehr Probleme und Quellen für Plausibilitätsfehler des Autors, als dass er die dargestellte Kultur tatsächlich vertieft.

Churke

Zitat von: Lomax am 15. November 2012, 14:03:06
Lustigerweise fand ich genau das erst vor kurzem in einem Artikel abgestritten ;). Da war die Aussage, dass selbst genetisch die Verwandtschaft zu den Germanen beim Durchschnittsbürger im heutigen Deutschland durch all die Verschiebungen in den letzten 1000 Jahren kaum noch größer ist als die Verwandtschaft zu anderen europäischen Völkern der Vormodernen Zeit.

Wie Bob Dylan neulich in einem Interview sagte: Die Vergangenheit wird ständig geändert.  ;)
Aber was ist überhaupt ein "Durchschnittsbürger?" Jemand, der zu genau 8,8 % Ausländer ist?  ;D

Zitat
Ich würde die Abhängigkeit eher anders herum sehen: Die (materielle) Kultur erschafft sich ihre Religion - zumindest diejenigen praktischen Auswirkungen der Religion

Das ist wohl in der Mehrzahl der Fälle so. Bei der Islamisierung dürfte das aber ein wenig anders gelaufen sein. Ich glaube, die treibende Kraft, sich der neuen Religion (und Kultur) zuzuwenden, war, dass man von der spätantiken christlichen Abzocke die Nase gründlich voll hatte.

Lomax

Zitat von: Churke am 15. November 2012, 15:25:38Das ist wohl in der Mehrzahl der Fälle so. Bei der Islamisierung dürfte das aber ein wenig anders gelaufen sein. Ich glaube, die treibende Kraft, sich der neuen Religion (und Kultur) zuzuwenden, war, dass man von der spätantiken christlichen Abzocke die Nase gründlich voll hatte.
Ich dachte immer, die treibende Kraft der spätantiken Islamisierung waren die arabischen Krieger, die ihren Glauben mit in das Reichsgebiet brachten ... und die Regeln zur Besteuerung von Gläubigen, die eine Konvertierung in den von ihnen besetzten Gebieten dann auch materiell attraktiv machte ;).

Aber, gut. Der Prozess der frühen Genese des Islam ist ja ohnehin ein Thema für sich. In der konkreten Ausgestaltung sehe ich allerdings nicht, dass da etwas anders gelaufen ist - auch im Islam haben sich ja viele Regeln und Traditionen niedergeschlagen, die in der Region schon vorher üblich waren. Andere Traditionen haben sich gehalten und werden heute regional als religiöse Tradition geführt, obwohl sie nie wirklich eine islamische Glaubensregel waren (was beispielsweise für das leidige Thema der Mädchenbeschneidung gilt). Und alltägliche Details in der Ausgestaltung des Glaubens und dessen Einflüsse auf die Kultur, beispielsweise die Einstellung zum Bilderverbot, zur Wissenschaft, zur Dichtung etc., haben sich ja auch im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, je nach den realen materiellen und politischen Gegebenheiten, je nachdem, was die gerade innerhalb der Religion dominanten Volksgruppen ohnehin schon für gut und richtig hielten und je nachdem, wo der Islam gerade hinkam. Und jede dieser unterschiedlichen Ausprägungen beanspruchte auch jedesmal, das zu sein, was "der Glaube" gebietet.