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Die Problematik schöner, realer Orte

Begonnen von Spinnenkind, 18. April 2012, 12:02:31

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Spinnenkind

Ich entschuldige mich für den überaus eloquenten Titel, aber eine bessere Beschreibung ist mir beim besten Willen nicht eingefallen.

Also: Hallo ihr Lieben,

nach längerer Enthaltsamkeit melde ich mich mal wieder, mit einem ziemlich speziellen Problem.

Ich weiß ja, dass es schon mehrere Threads zu real existierenden Orten gibt, aber ich denke, das Thema weicht doch von ihnen ab.

Mein momentanes Projekt spielt in Heidelberg. Eine tolle Stadt für Urban Fantasy, könnte man meinen: Wunderschön, tolle Landschaften, einige Stadtsagen gibt es auch, die lebendig werden könnten.

Aber genau darin besteht momentan mein Problem. Wenn ich über Heidelberg schreibe und bei einer Szene bin, bei der zum Beispiel der Brückenaffe lebendig wird, oder die - Gott bewahre - auf dem Schloss spielt, fühle ich mich immer, als würde ich einen fantastischen Reiseführer schreiben. Meine Protagonisten laufen durch die Straßen Heidelbergs, ich beschreibe die Stadt und fühle mich aber gleichzeitig irgendwie blöd dabei, nicht, weil jeder diesen Ort kennt (so berühmt ist Heidelberg ja auch nicht), sondern einfach, weil...ja, warum eigentlich?

Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, dass wenn ich meine Geschichte in Heidelberg spielen lasse, auf der einen Seite vom Leser erwartet wird, dass die Stadt und ihre Beschreibung eine zentrale Rolle einnimmt, auf der anderen Seite will ich ihm die Stadt aber auch nicht "auf die Nase binden", weil das dann so wirkt, als würde der Plot in den Hintergrund des Ortes rücken. Versteht ihr halbwegs, was ich meine?  :hmmm:

Ich weiß ja nun, dass sich hier im Forum einige Leutchen tummeln, die schon mit realen Orten gearbeitet haben, auch mit berühmten Orten. Die Frage ist also: Wie haltet ihr das mit dem Verhältnis "Stadt - Plot"? Ich meine, so eine Stadt wie London zum Beispiel verlangt ja förmlich danach, beachtet zu werden und in den Plot mit eingebunden zu werden, aber sie ist nun einmal nicht die Hauptperson. Auf der einen Seite ist es blöd, sie völlig außer Acht zu lassen und nicht mit ihren Eigenheiten zu arbeiten, auf der anderen Seite will man auch keinen Reiseführer schreiben.

Ein komisches Problem, ich weiß, aber ich hoffe, ich konnte mich halbwegs verständlich machen  :zensur:

Telas

#1
Hallo Spinnenkind,

wenn du Heidelberg als authentischen Spielort für dein Buch nehmen willst, wirst du meiner Meinung nach fast dazu gezwungen sein, dem Leser die Stadt durch ein paar Sehenswürdigkeiten näher zu bringen. Es kommt schließlich nicht jeder so wie du aus dieser Stadt und wenn der Ort zu oberflächlich beschrieben wird, würde ich mir sagen, dass sie auch jeden anderen Ort hätte nehmen können.
Ein bisschen Reiseführer wirst du also schon spielen müssen, zwangsläufig.
Und wenn einige Heidelberger den Roman lesen wollen? Die erwarten vielleicht auch, dass man die Stadt in deinen Ausführungen wieder erkennt, sonst sind sie vielleicht auch enttäuscht und denken du meinst eine ganz andere Stadt.
Also ich finde, dass man speziell bei kleineren Städten noch eher ins Detail gehen muss als bei Metropolen. Wenn man über London schreibt, braucht man Big Ben nur erwähnen und jeder weiß, wie er aussieht. Soll der Heidelberger Brückenaffe aber lebendig rüber kommen, dann musst du da auch sein Äußeres mehr beschreiben, das ist jedenfalls meine Meinung, ich hoffe, sie war wenigstens einigermaßen verständlich ;).

Malinche

Ja, ich glaube, ich kenne das Problem. Und ob ich es selbst immer so glücklich gelöst habe, sei einmal dahingestellt. Ein Teil meiner »Kondorkinder« spielt in Arequipa, in einer Stadt in Perú, in der ich ja selbst oft und lange war und die ich sehr gerne mag. Und das hat man vor allem in der Ur-Version des Buchs sehr gemerkt, weil ich da einfach mal seitenweise und plotirrelevant von Arequipa geschwärmt habe. Reiseführer lässt grüßen.

Ich denke aber, dass man da einen Mittelweg finden kann – und dass es unter Umständen gar nicht so schwer ist.

Ein schönes Beispiel, denke ich, ist Zafóns »Schatten des Windes«. Das spielt in Barcelona, und ich behaupte einfach mal, dass das Buch einen nicht unwesentlichen Teil seines Zaubers aus genau dieser Tatsache bezieht. Barcelona ist in dem Buch unglaublich wichtig, und wer die Stadt kennt, wird viele Schauplätze wiedererkennen. Ich persönlich finde das schön. (Umgekehrt hat das Buch ja so viel Erfolg gehabt, dass es jetzt in Barcelona Zafón-Führungen zu den »Originalschauplätzen« gibt, und bei meinen Eltern auf dem Nachttisch liegt ein Reiseführer: »Zafóns Barcelona«.) ;D

Ich würde mal sagen, dass du dir bei den von dir genannten Beispielen keine Sorgen machen musst. Setting ist wichtig, und auch, wenn man mit nicht realen Orten arbeitet, gibt man sich ja Mühe, möglichst plastisch und atmosphärisch zu arbeiten.

Ein realer Ort kann eine sehr dankbare Bühne sein und für mich liegt darin auch ein großer Reiz. Ich finde es auch nicht verwerflich, wenn so ein Schauplatz – gerade, wenn es eine reizvolle Stadt ist – das Geschehen dann deutlich mitprägt. Solange die Handlung weiter voranschreitet und nicht zugunsten seitenlanger Beschreibungen ausgehebelt wird – was ich bei nicht-realen Orten aber genauso ankreiden würde -, finde ich es okay. Denn für mich bekommt ein Buch dann noch eine zusätzliche Dimension, meinetwegen eben die eines »fantastischen Reiseführers«: Wenn ich den Ort nicht kenne und ihn irgendwann selbst besuche, werde ich ihn dank des Buches mit anderen Augen sehen. Und er wird mir dann vielleicht wunderbar und verzaubert vorkommen. Wenn ich den Ort kenne, werde ich beim Lesen unter Umständen mehr Spaß haben – wenn ich merke, dass der Autor auch genau weiß, wovon er da schreibt.

Das heißt sicher nicht, dass jedes reale Setting unglaublich viel Raum im Roman einnehmen sollte, aber wenn man sich gerade für eine Stadt / einen Ort entschieden hat, der sich besonders gut anbietet, warum dann nicht? Die Welt hat genug Orte mit eigener Magie zu bieten. Das finde ich persönlich so spannend an Urban Fantasy. :)

»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Thaliope

Hallo Spinnenkind,

ich kann da nur aus meiner Lesererfahrung sprechen ... Ich finde es meistens nett, wenn in Büchern oder auch Filmen Städte vorkommen, die man kennt.
Bei den Münster- und Berlin-Tatorten guck ich dann auch immer nach Orten, die ich kenne, und freu mich dann :) Und in einigen Büchern von Ingrid Noll kommen Weinheim und andere Orte an der Bergstaße vor - es sind immer nur kleine Erwähnungen von Orten, aber ich weiß dann genau, wo das ist und wie es da aussieht.
Aber diese Filme und Bücher funktionieren auch für die, die die Orte nicht kennen, und zwar weil die Ortsbeschreibungen nicht in den Vordergrund treten. Du brauchst die Brücke und die Straßen ja nicht ausführlich zu beschreiben, die Vorstellungskraft der Leser spring ja schnell an. Wenn du das Schloss erwähnst, sieht der Heidelberg-Kenner eben das Heidelberger Schloss, ein anderer Leser füllt die Lücke mit nem Schloss, das er kennt.
An dem Punkt ist für dich wichtig zu entscheiden, welche Eckdaten an Informationen du geben willst, damit du das richtige Bild hervorrufst - und zwar mit wenigen, präzisen Worten. Wenn ich ans Heidelberger Schloss denke, wäre mir zum Beispiel wichtig, dass es auf einem Berg über der Stadt thront, vielleicht noch die bewaldeten Hügel rundrum.

Also charakteristische Merkmale andeuten, skizzieren sozusagen, den Rest macht der Leser schon :) So denke ich mir das jedenfalls :)
LG
Thali

EDIT: Telas war schneller - mit einer ziemlich gegensätzlichen Meinung, wie ich den Eindruck hab :)

Sven

Zitat von: Thaliope am 18. April 2012, 12:13:58
es sind immer nur kleine Erwähnungen von Orten

Genau so würde ich es halten. Wieviel Beschreibung ist für die Geschichte nötig? Wieviel für die Stimmung. Ein realer Ort, den man beschreibt, hat den Vorteil, dass man nicht viel nachdenken muss.
Man muss halt aufpassen, sich nicht in Details zu verlieren. Ein paar Anhaltspunkte reichen meist, um dem Leser eine Szene vor Augen zu führen. Und jemandem, der den Ort tatsächlich kennt, reichen wenige Beschreibungen, um sich zu erinnern.
Es ist nicht nötig zu sagen, das der Prota an einer Bäckerei, einem Fleischerladen, einem Kunstwerk vorbeiläuft und dann am Teleshopladen rechts in die enge Gasse einbiegt. Der Teleshopladen genügt in der Regel.
Beste Grüße,
Sven

Debbie

Hi Spinnenkind,

also erstmal find ich es natürlich toll, dass du Heidelberg als reales Setting verwendest - weil die Atmosphäre der Stadt schon sehr geeignet ist: die alten Häuser, die eine gewisse Romantik ausstrahlen; das Schloss, das über der Stadt thront; die kleinen Gassen, die die Straßen verbinden und die Lichter der Stadt, die sich nachts im Neckar spiegeln. Ein wirklich zauberhaftes Ambiente, mit gut nutzbaren Details, wie der amerikanischen Militär-Basis und dem Königsstuhl.

Zitat von: Malinche am 18. April 2012, 12:13:34

Ein realer Ort kann eine sehr dankbare Bühne sein und für mich liegt darin auch ein großer Reiz. Ich finde es auch nicht verwerflich, wenn so ein Schauplatz – gerade, wenn es eine reizvolle Stadt ist – das Geschehen dann deutlich mitprägt. Solange die Handlung weiter voranschreitet und nicht zugunsten seitenlanger Beschreibungen ausgehebelt wird – was ich bei nicht-realen Orten aber genauso ankreiden würde -, finde ich es okay. Denn für mich bekommt ein Buch dann noch eine zusätzliche Dimension, meinetwegen eben die eines »fantastischen Reiseführers«: Wenn ich den Ort nicht kenne und ihn irgendwann selbst besuche, werde ich ihn dank des Buches mit anderen Augen sehen. Und er wird mir dann vielleicht wunderbar und verzaubert vorkommen. Wenn ich den Ort kenne, werde ich beim Lesen unter Umständen mehr Spaß haben – wenn ich merke, dass der Autor auch genau weiß, wovon er da schreibt.


Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen. Man kann diese Wirkung ja auch sehr schön an dem Bahnhof "King's Cross" oder der Kleinstadt "Forks" erkennen. Im ersten Fall hat der Ort symbolische Wirkung; im zweiten Fall hat die Atmosphäre des Ortes und der Umgebung die Grundstimmung für die Geschichte gebildet - wie ein Rahmen. Und viele Menschen sind deshalb extra an diese Orte gefahren, um sie live zu erleben.

Ortsbeschreibungen sind also, wenn sie richtig eingesetzt werden, ein wichtiger Bestandteil, der die Story unterstützen kann, wie kaum ein anderer Faktor. Vorausgesetzt Geschichte und Setting passen zusammen - denn jeder Ort vermittelt eben diese Grundstimmung, die man entweder unterstützend oder als Kontrast einsetzen kann, bzw. muss. Wählt man einen realen Ort, den vielleicht sogar viele Menschen kennen, kann man den Aspekt der Grundstimmung nicht außer Acht lassen. Ansonsten, wenn der Ort und seine Stimmung keine Rolle spielen sollen, sollte man Ortsbeschreibungen keinesfalls detailliert und/oder im großen Umfang betreiben. Dann sollte der Ort in der Geschichte genau so dargestellt werden, wie er ist: Austauschbar.

Es wäre allerdings eine sträfliche Vernachlässigung, wenn man das Potential eines Ortes zur Untermalung der Stimmung nicht nutzen würde  :pfanne:

Schön finde ich es immer, wenn man bestimmte Orte entsprechend oder konträr der Szenenstimmung wählt. Zusammen oder als Ersatz für das Wetter, Musik, Gerüche, etc.. Und um die Langeweile des Telling unter Kontrolle zu halten, achte ich darauf einzelne Aspekte, vielleicht sogar mit allegorischer Bedeutung, in die Handlungen der Charas miteinzubinden. Also lieber Beschreibung des Ortes aufgeteilt in zwei, max. drei Sätze zur Einleitung und Grundlegung der Stimmung, und weitere Details dann eingebaut in Handlung/Dialog.

Besonders schön finde ich auch immer, wenn mir Hintergründe oder Details über bekannte Orte enthüllt werden, die ich noch nicht wusste, und über die ich mir noch nie Gedanken gemacht hab. So hat mich z.B. "Die Alchemie der Unsterblichkeit" auf das Karlsruhe im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht. Ich komme ja von hier, und die Zustände dieser Zeit sind mir auch bekannt - generell. Aber das im Detail, an Orten die mir vertraut sind, dargestellt zu sehen, hatte nochmal eine ganz eigene Wirkung, die eine bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte von Karlsruhe ausgelöst hat.


HauntingWitch

Es macht auch sehr viel aus, ob man Namen aneinanderreiht oder ob man die Orte wirklich beschreibt. Die Bezeichnung "Heidelberger Schloss" allein sagt mir jetzt beispielsweise nichts - was ist das für ein Schloss? Ist es eher alt und verfallen oder eher prunkvoll und romantisch? Aber, das hat Thaliope ja schon gesagt, so ein Stichwort reicht mir dann in der Regel auch schon, um in meinem Gehirn ein Bild zu erzeugen.  ;) Alles weitere ist natürlich Bonus und sofern es passt ebenfalls gut.

Das komische Gefühl von der Vertrautheit einer Stadt kenne ich auch, aber warum auch nicht? Andere (vermeintlich zu wenig weltliche) Orte in anderen Büchern "funktionieren" auch – warum sollte meine Stadt dann nicht auch funktionieren? Was ich allerdings bei Zürich gemacht habe, um dieses Gefühl etwas zu dämmen war, statt altmodischer Namen einfach allgemeine Bezeichnungen einzusetzen (so steht im Skript jetzt ,,Altstadt" statt ,,Niederdörfli" ;)). Und dann habe ich das natürlich mit den entsprechenden Beschreibungen versehen. Noch hat es niemand gelesen, um das zu bestätigen, aber ich bilde mir ein, das funktioniert ganz gut. So kann ich mich über die Schönheit der schiefen Treppen auslassen, ohne dass es wie ein Reiseführer wirkt.

Ausserdem habe ich darauf geachtet, als Schauplätze statt der grossen Sehenswürdigkeiten eher die kleineren, meiner Meinung nach besonders schönen oder auf andere Weise faszinierenden Dinge hervorzuheben. Oft sind es ja auch gerade letztere, die die Stadtstimmung und das Leben prägen, wo man ist. An Sehenswürdigkeiten geht man nur vorbei, bewundert sie und geht wieder weg. Klar prägen sie das Stadtbild. Aber sind sie für das Leben eines Einheimischen wichtig? Nicht zwangsläufig. Bei Weltmetropolen halte ich es übrigens genau gleich - Meine Protagonistin, die in London lebt, interessiert doch so ein Big Ben nicht. Für uns ist er das Wahrzeichen von London schlechthin, aber jemand der ihn jeden Tag sieht (oder sehen kann) wird sich so sehr daran gewöhnen, dass er sich keine weiteren Gedanken darüber macht. Warum es dann dem Leser unpassenderweise aufdrängen?

Ich denke auch, wie man eine Stadt zeigt, kommt auch darauf an, was man damit bezweckt. Ist die Stadt nur Mittel zum Zweck für die Geschichte, kann man sich auf das absolut zwingend Notwendige beschränken. Ist die Stadt aber um ihrer selbst Willen Träger der Geschichte (wie z.B. bei Heaven von Christoph Marzi), braucht es schon etwas mehr.

Kati

Ich mag es sehr gern, Ortsnamen und Beschreibungen zu lesen, auch, oder besonders, wenn ich die Stadt nicht kenne. Mir gefällt die Bezeichnung "magischer Reiseführer" gerade sehr gut, denn, wenn sich ein Buch ein bisschen so liest, hat auch der Leser nach einigen Kapiteln schon das Gefühl, die Stadt zu kennen. Man muss es aber auch nicht übertreiben. Ich mag deine Idee mit dem Brückenaffen, den ich zwar nicht kenne, aber es gibt ihn dort, warum ihn also nicht lebendig werden lassen?

Ich finde es lustig, dass du London als ein Beispiel für eine Stadt nimmst, die viel Beachtung braucht, denn viele meiner Romane spielen dort. Und, ja, ich schmeiße gern mal mit Straßennamen um mich. Ich finde aber, dass jede reale Stadt, ob es nun London ist oder Heidelberg oder Hahnenklee-Bockswiese, es verdient hat, eine wichtige Rolle im Roman zu spielen, wenn sie schon als Setting ausgewählt wird. Wenn ich Romane lese, die in New York City oder Los Angeles spielen und ich hinterher aber die Stadt von der Atmosphäre her durch jede andere hätte austauschen können, bin ich nicht zufrieden mit dem Roman. Ich liebe die Romane "Heaven" und "Memory" von Christoph Marzi gerade dafür, dass sie einem London so nah bringen, als wäre man da.

Von daher sehe ich bei den von dir erwähnten Beispielen gar kein Problem.  :)

sirwen

Hallo Spinnenkind,
Es wurde ja schon viel gesagt, deshalb nur noch kurz meine Meinung, ich arbeite ja auch mit einem realen Ort. Gerade bei schönen realen Orten finde ich es wichtig, dass das Flair rüberkommt, weil die Geschichte sonst auch an einem beliebig anderen Ort spielen könnte. Als Autor hast du aber die Entscheidung getroffen, dass es eben dieser Ort sein soll, dann darf er ruhig ein bisschen Beachtung finden.
Ich habe mich im Rahmen meiner Masterarbeit unter anderem gerade mit dem Aspekt des Pittoresken beschäftigt. Das spielt zwar mehr eine Rolle in der Landschaftsarchitektur und im Gartenbau, aber wenn dich das Thema im Allgemeinen interessiert, würde ich Mal in die Uni-Bib gehen und Bücher dazu ausleihen. :) Das Interessante dabei ist nämlich, dass Dinge, die wir heute als pittoresk – das Wort hat je leider einen leicht negativen Beigeschmack – empfinden, früher alltäglich waren. Maler und zeichner, die pittoreske Szenerien festgehalten haben, taten das eigentlich mit einem zeitgenössischen Auge. Sie wollten das zeigen, was zu jenem Zeitpunkt eben gerade da war. Ich denke, das darfst du bei all den hübschen Häuschen und Gässlein nicht vergessen. Zeig auch das Banale an dem Ort.
Was vielleicht auch helfen könnte, ist, wenn du dein Heidelberg nicht aus deiner Sicht, sondern aus der Sicht deiner Protas beschreibt. Kann sein, dass die einen eigenen Blick haben. Bei meinem Basiliskenprojekt hatte ich das so gemacht, dass für meine Prota Ambra die Stadt Basel etwas Fremdes ist und sie zu Beginn mit ihrer Heimatstadt vergleicht.
Die Commissario Brunetti Romane finde auch ein gutes Beispiel dafür, wie eine Stadt eine wichtige Rolle spielt ohne aufdringlich zu sein. Oder Alfred Anderschs "Die Rote".
Und ich hatte dir vom Kommissar Hunkeler erzählt, oder? Der eine Krimi spielt gleich bei mir um die Ecke, und ich als Bewohnerin der Stadt und desselben Quartiers fand es toll, als da die Rede von "Milchhüsli" und dem Baum vor der Kantonalbank und der Apotheke auf der anderen Strassenseite war. Es war unheimlich real, vor allem weil der Autor unspektakuläre Orte gewählt hat ...

@Witch: Altstadt und Niederdörfli sind aber nicht das Gleiche ... ich habe da jedenfalls unterschiedliche Bilder im Kopf ;).

HauntingWitch

Zitat von: sirwen am 19. April 2012, 23:45:07
@Witch: Altstadt und Niederdörfli sind aber nicht das Gleiche ... ich habe da jedenfalls unterschiedliche Bilder im Kopf ;).

Weiss ich schon, aber das Niederdörfli ist ja ein Teil der Altstadt und ich denke, vieles macht die Beschreibung dazu. Jemand, der die Stadt kennt, wird wohl einfach an eine bevorzugte Ecke denken, jemand, der sie nicht kennt, kann mit dem Begriff Altstadt vermutlich mehr anfangen. Glaube ich.  ;)

Begründung: Wieder Christoph Marzi, Heaven. (Sorry, das ist einfach das beste Beispiel). Einerseits kann ich Kati insofern zustimmen, dass man wirklich das Gefühl hat, man wäre dort, was toll ist. Andererseits kenne ich London aber nicht so gut wie ich es gerne möchte und hatte da teilweise schon Orientierungsprobleme, als Namen von Bezirken aneinander gereiht und Wege mit Strassennamen angereichert wurden. Natürlich wirkt das auch echt. Aber das überfordert mich, wenn ich nicht weiss, wie die Bezirke aussehen, in welchen Richtungen sie aneinander Grenzen, wie sie aufgebaut sind, was dort besonders ist. Da ist es mir lieber, wenn ein besonderer Ausschnitt herausgepickt wird und dafür mehr Beachtung bekommt. Dann habe ich ein Bild plus eine Ahnung, das reicht dann aber auch und ich kann mich wieder auf die Handlung konzentrieren.

@Spinnenkind: Vermutlich ist aber auch das, wie so Vieles, vor allem auch Geschmackssache. Hast du dir einmal überlegt, welche "Umsetzungsart" du selbst in einem Buch bevorzugen würdest? Ich habe einmal aufgeschnappt, am besten schreibt man das, was man selber gerne lesen würde. Deshalb mache ich diese Überlegung auch immer wieder und meistens bin ich dann zufrieden mit dem Resultat.

Notrya

Ich kann Sirwen nur zustimmen, bei mir ist es auch immer sehr wichtig, wie der Prota den jeweiligen Ort wahrnimmt. Da ich bei meinem Romanprojekt gerade mit Zeitreisen arbeite, schildere ich das Aussehen des Ortes meist über Vergleiche zwischen der Heimat des Prota (die über 3000 Jahre in der Vergangenheit liegt) und dem Ort, an dem er sich gerade befindet (ein Teil meiner Geschichte spielt zum Beispiel im gegenwärtigen Hamburg); wobei ich sagen muss, dass es gar nicht so einfach ist, sich vorzustellen, wie man mit damaligen Augen wohl unsere heutigen Städte wahrnehmen würde, und dann fehlen einem ja die einfachsten Wörter wie "Auto", "U-Bahn", etc., weil der Prota mit soetwas nicht vertraut ist. Mittlerweile kämpfe ich noch damit, das überhaupt für den Leser verständlich herüberzubringen, was mein Prota gerade sieht...  :wart:

Und was die Schönheit der Orte angeht: Ich finde, Hamburg hat wirklich einige wunderschöne Ecken, aber da mein Prota etwas Konkretem hinterherjagt und zudem noch völlig andere ästhetische Vorstellungen und Ideale aus seiner Heimat mitbringt, kann er die Schönheit der Stadt überhaupt nicht erkennen. Auf der einen Seite finde ich das sehr schade, auf der anderen Seite ist es vielleicht gar nicht so schlecht, da ich so nicht in die Verlegenheit gerate, das für Hamburg vielleicht typische Flair in meiner Beschreibung dann doch zu verfehlen, da ich mich in der Stadt auch nicht so wahnsinnig gut auskenne...

Viel einfacher finde ich es da, Orte zu beschreiben, die mein Prota sowohl in seiner als auch in der heutigen Zeit bereist, da sind die Vergleiche viel offensichtlicher, und der Ort kann viel leichter eine wichtige Rolle in der Geschichte übernehmen, ohne dass alles wie eine überflüssige Ortsbeschreibung wirkt. Der Roman setzt nämlich erst ein, als der Prota schon in unserer Zeit gelandet ist, sodass der Leser über die Beschreibungen sowohl die Heimat des Prota als auch das aktuelle Aussehen des Ortes kennenlernt. Da mein Prota ständig auf der Suche nach Personen und Dingen ist, habe ich auch die Möglichkeit, relativ ausführlich von den Orten zu berichten, an denen er sucht - aber der Fokus liegt immer auf der Suche und auf allem, was damit in Zusammenhang steht; ich habe nach einigem Überlegen dann doch darauf verzichtet, noch weitere Gebäude, Landschaften etc. zu beschreiben, die nicht plotrelevant sind, weil mir die Beschreibungen zu lang wurden und ich außerdem Angst hatte, dass der Leser dann erwartet, dass alle beschriebenen Dinge noch eine Rolle in der Geschichte spielen werden, denn den Eindruck hatte ich sogar selbst beim ersten Drüberlesen ... :pfanne:

Bianca Jones

Ja, darüber habe ich letztens auch nachgedacht - gerade im Regional-Krimi spielt das ja eine große Rolle, hier lesen die Menschen diese Krimis ja, um alles wiederzufinden, was sie aus dem "echten Leben" kennen, aber ich glaube, in anderen Romanformen ist das ja eher weniger der Fall.

Ich finde aber, wenn man einen realen Ort nimmt, dann sollten die Beschreibungen passen. Ich finde den Weg, den Thomas Mann in "Buddenbrooks" nimmt, ganz passend - denn jeder weiß ja, dass es in Lübeck spielt, viele Straßennahmen kommen darin vor, aber niemals der Namen "Lübeck". Das wäre doch auch eine Möglichkeit. Dann wird es immer so ein bissl in der Schwebe gehalten und so kann man vielleicht auch ein bissl freier mit der Stadt umgehen.

Grüßle, Bianca

metajinx

Schilderung von dem Protagonisten unbekannter Orte finden sich genialst verpackt in dem etwas älteren Buch "Briefe in die Chinesische Vergangenheit", wo ein kastenniedriger Beamter durch eine Zeitverzerrung nach Deutschland gelangt, und Briefe an seinen Kollegen in der Vergangenheit unter einem Stein versteckt.

Malinche

Zitat von: metajinx am 23. April 2012, 15:20:46
Schilderung von dem Protagonisten unbekannter Orte finden sich genialst verpackt in dem etwas älteren Buch "Briefe in die Chinesische Vergangenheit", wo ein kastenniedriger Beamter durch eine Zeitverzerrung nach Deutschland gelangt, und Briefe an seinen Kollegen in der Vergangenheit unter einem Stein versteckt.

Herbert Rosendorfer heißt der Autor, wenn ich mich richtig erinnere. :) Ein tolles Buch!  Nicht nur wegen der Ortsbeschreibungen, generell die ganze Wahrnehmung und Schilderung der Gegenwart aus der Sicht dieses chinesischen Beamten ist sehr witzig. Und ja, sicher ein gutes Beispiel, wie man das machen kann.
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Lemonie

Ich denke auch, dass es stark vom Protagonisten abhängt, ich hab ein ähnliches "Problem" und auch schon darüber nachgedacht.

Bei mir ist es eigentlich ganz genau so, da ich auch Heidelberg habe (aber noch so gut wie nicht darin geschrieben habe). Deshalb passt das Thema jetzt irgendwie wie die Faust aufs Auge. ;)
Allerdings habe ich den Unterschied, dass mein Plot gleichzeitig in einer Parallelwelt spielt, und ich drei verschiedene Protagonisten habe: Eine, die schon ewig in der Stadt lebt, sich total auskennt und für die alles ganz normal ist (die wird sich auch nicht mehr über den Affen oder die Schneeballen wundern). Einen, der erst seit fünf Jahren dort lebt, allerdings auch schon vorher dort war, der hat sich zwar daran gewöhnt, aber da die Kultur, aus der er kommt, vollkommen anders ist, wird ihm einiges vielleicht immer noch erwähnenswert vorkommen. Und dann habe ich eine, die wird aus einer Parallelwelt in der eher mittelalterlich gelebt wird (ursprünglich nur fünf Menschen - keine wirkliche Gesellschaft) nach Heidelberg praktisch geworfen. Für die ist dann allerdings nicht nur die Stadt an sich fremd sondern auch der Begriff einer Stadt allgemein (Autos, viele Menschen und Häuser, etc.) Damit habe ich schonmal drei unterschiedliche Ansätze und muss das entsprechend so hinkriegen, dass Heidelberg dreimal sehr unterschiedlich rüberkommt.

Bei der ersten Perspektive bin ich mir auch nicht so sicher, was man ausführen sollte und was nicht. Ich lebe nicht in Heidelberg, aber wenn ich etwas lesen würde, dass in meinem Wohnort spielt, würde ich erwarten, zumindest etwas wiederzuerkennen. Andererseits muss es sich auch für jeden, der nicht dort wohnt (auch für mich, deshalb bin ich für mich selbst sozusagen die beste Testperson), so anfühlen wie "Zuhause", wenn die Protagonistin davon spricht.
Ich denke, dass das eines der Hauptprobleme bei realen Orten ist: Dass man den Kompromiss finden muss, damit es sowohl für diejenigen die den Ort kennen als auch für Fremde gut zu lesen ist (und sich so anfühlt, wie es der/die Prota wahrnehmen würde).