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Alles zur Perspektive

Begonnen von Lastalda, 01. Januar 1970, 01:00:00

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Paka

*kicher* Ja, das mit den Zetteln war unglaublich. 🤣
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

Fluide

#541
Hallo miteinander,

am Ende steht für mich bei der Perspektive - aber auch anderen Faktoren im Schreiben - immer die Frage: Funktioniert es? Wenn es funktioniert, dann: Super!

Wenn es nicht funktioniert, finde ich es hilfreich, zu verstehen: Warum funktioniert es nicht? Was ich nicht hilfreich finde, sind Kommentare wie: Das macht/darf man so nicht, ist ein handwerklicher Fehler, verletzt irgendwelche Konventionen/Regeln etc.   

Ich habe lange am Er-Erzähler rumgeknabbert (und knabbere immer noch) und der Unterscheidung in personal und auktorial. Nach und nach lüftet es sich ein bisschen, aber ich finde die Begrifflichkeiten nach wie vor schwierig. Wenn ich lese: auktorial mit personalen Einschüben oder personal mit auktorialen Einschüben, dann kriege ich jedes Mal einen Knoten im Kopf. Oder jemand hat auch mal geschrieben: Da wechselt dann der Erzähler, von einem personalen zu einem auktorialen ... zB für einen Absatz über das Wetter oder irgendwelche Infos oder so ... Auch da krieg ich einen Knoten im Kopf, mitten drin wechselt für einen Absatz der Erzähler? Da finde ich das Bild von der Krähe (liebe @Paka, deine Artikel haben mir gut gefallen) viel besser, die mal hoch oben fliegt und mal nicht.

Es gibt eine Internetseite auf der literaturtheoretische Grundbegriffe erklärt werden, die ich sehr hilfreich fand: http://www.li-go.de/_pages/wissensbereiche/prosa/dertextalssprachlicheszeichensystemdiscours.html
Dort wird unterschieden in: Wer spricht? und: Wer nimmt wahr? Und ich finde interessant, dass es auf dieser Webseite den Begriff "personale Perspektive/Erzähler" nicht gibt und auktorial "Nullfokalisierung" bedeutet (also Wahrnehmungsinstanz ist nicht an eine Figur gebunden, liegt außerhalb der Geschichte). Dort steht auch, dass bei den meisten Texten eine variable Fokalisierung vorliegt (also schaut Pakas Krähe von oben = Nullfokalisierung, sitzt die Krähe bei jemandem auf der Schulter = internale Fokalisierung). Ich sortiere das für mich mittlerweile so, dass es eher eine auktoriale Perspektive ist, wenn es jemanden gibt, der außerhalb der perspektivtragenden Figur etwas bewertet (nämlich der Erzähler), während eine personale Perspektive "nur" die Bewertungen der perspektivtragenden Figur weitergibt.

Ich würde zB auch sagen, dass eine Ich-Erzählerin, die etwas aus der Vergangenheit berichtet und einsortiert und bewertet usw eher eine auktoriale Perspektive hat, weil sie viel weiß, viel mehr als die Figur zu der Zeit des Geschehens und andere Bewertungen mit reinbringen kann als die Figur (sie selbst) zu jener Zeit. Zb Damals war ich jung und naiv und ich ging in das Restaurant, offen und neugierig, wer mich dort erwarten würde.
Sie kann auch über die Vergangenheit berichteten und sich weniger mit eigenen Kommentaren etc einmischen, das würde ich dann eher als personal bezeichnen. zB Ich ging ins Restaurant, war neugierig, wer mich dort erwarten würde.
Oder aber auch eine Ich-Erzählerin im Präsens, das ist dann absolut personal, weil sie natürlich über die Situation und wohin sie sich entwickeln wird, nicht mehr weiß als die Leser:innen.

Ein anderen Artikel über personal vs. auktorial, den ich hilfreich fand, ist dieser hier: http://editorial.ie/head-hopping/
Darin wird sehr schön deutlich, dass aus einer auktorialen Perspektive heraus, durchaus das Innenleben verschiedener Personen beschrieben werden kann und es "funktioniert", dass aber in eher personalen Perspektiven es dann einfach auch Spannung rausnimmt, weil alles so übererklärt wird. Besser ihr lest es selbst.

Und falls es noch jemanden interessiert, poste ich hier mal meine Aufzeichnungen entsprechend der li-go.de Website, wobei eher Punkt 2 und 3 interessant sind (Modus und Stimme), ich aber der Vollständigkeit halber auch die Infos zur Zeit eingefügt habe. Bei mehr Details bitte auf der Website schauen (hoffe, das ist ok, diese ZUsammenfassung mit Angabe des Links hier zu posten).

Discours – Wie wird erzählt, welche Mittel werden verwendet

    1. Zeit = Erzählzeit im Discours
        1. Ordnung: Hält sich der Discours an die Ordnung der Ereignisse?
            1. Einhalten der Ordnung: A B C
            2. Prolepse: A C B – Ereignis wird berichtet, bevor es passiert
            3. Analepse: B A C – Ereignis wird später berichtet, als es passiert
        2. Tempo:
            1. Zeitdeckendes Erzählen: zB Szene
            2. Zeitdehnendes Erzählen: zB Pause, Dehnung
            3. Zeitraffendes Erzählen: zB Raffung/Zusammenfassung, Ellipse
        3. Frequenz:
            1. Singulativ
            2. Iterativ
            3. repetitiv
    2. Modus = Grad an Mittelbarkeit und Perspektivierung
        1. Distanz: Skala von unmittelbar/szenisch bis mittelbar/narrativ
            1. Unmittelbar: kein erkennbarer Erzähler, keine Reflexionen, Kommentare etc. = show
            2. Mittelbar: starke Erzählerpräsenz mit Reflexionen, Kommentaren etc. = tell
        2. Fokalisierung – wer nimmt wahr? Nur selten liegt einheitliche F. über gesamten Text vor, normalerweise variabel mit dominanter Strategie
            1. Nullfokalisierung: ,,auktorial", Wahrnehmung an keine Figur gebunden, der Erzähler weiß mehr als die Figur
            2. Interne Fokalisierung: Wahrnehmung an Figur gebunden, Erzähler weiß so viel wie Figur; fixiert = bleibt an eine Figur gebunden, variabel = wechselt zwischen Figuren
            3. Externe Fokalisierung: Wahrnehmung an keine Figur gebunden, geht aber vom Inneren der erzählten Welt aus, Erzähler weiß weniger als Figur
    3. Stimme = Wer spricht bzw. erzählt?
        1. (fiktiver) Zeitpunkt des Erzählens:
            1. Früheres Erzählen – Ereignisse werden erzählt, bevor sie sich ereignen
            2. Gleichzeitiges Erzählen – Ereignisse werden erzählt, während sie passieren
            3. Späteres Erzählen – Ereignisse werden erzählt, nachdem sie passiert sind
            4. Eingeschobenes Erzählen – Ereignis noch nicht abgeschlossen, gleichzeitiges und späteres Erzählen durchmischen sich
        2. Ebenen des Erzählens – primär, sekundär, tertiär ...
        3. Beteiligung des Erzählers am erzählten Geschehen
            1. Homodiegetischer Erzähler = Teil der erzählten Welt (Hauptfigur, Nebenfigur, beteiligter Beobachter, unbeteiligter Beobachter)
            2. Heterodiegetischer Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt
 

Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman

Rotkehlchen

Mir geht es im Moment sehr ähnlich, @Fluide. Ich knabbere auch am personellen Erzähler. Ich habe mir auch die Beispiele, die du gepostet hast, durchgelesen. Das ist für mich recht eindeutig. Trotzdem tun sich bei mir noch Unsicherheiten auf.
Ich verstehe z.B. noch nicht, was mit "Fokalierung" gemeint ist. Vielleicht kannst du das nochmal mit deinen Worten erklären, Fluide?

Wenn ich deinen Beitrag und den von @Paka ein bisschen zusammenfasse:

Die meisten Fiktionen der heutigen Zeit werden aus der Sicht eines personellen Erzählers geschrieben.
Das empfindet der Leser als harmonisch, weil er diese Erzählweise gewohnt ist. Nah am Protagonisten zu sein und sich mit ihm identifizieren zu können, empfindet man als spannend.
Diese Nähe kann aber sowohl durch die personelle als auch durch die autoriale  Erzählerform vermittelt werden.

Oftmals ist es nicht immer möglich, den personellen vom auktorialen Erzähler zu unterscheiden, je nachdem in welcher Erzähldistanz der auktoriale Erzähler erzählt.

So ist es z.B. möglich, als auktorialer Erzähler zu beginnen (quasi aus der Vogelperspektive) und im Laufe der Geschichte näher an die Figur heranzuzoomen (sich dann quasi wie ein Vogel auf die Schulter des Protagonisten zu setzen).

Ich sollte mich aber beim Schreiben eines Romans auf eine Erzählform festlegen. So verstehe ich das.

Meine Frage:
Wenn ich jetzt meine Geschichte z.B. auktorial beginne und im Laufe eines Kapitels an eine Figur heranzoome, quasi dann aus ihrem Blickwinkel das Geschehen schildere ("personale Erzählform mit auktorialen einschüben", wie Paka es vorhin erwähnte), muss dann in den darauffolgenden Kapiteln immer ersichtlich werden, dass es sich um einen auktorialen Erzähler handelt?

Oder kann ich dann in den darauffolgenden Kapiteln die Erzähldistanz direkt so wählen, als wenn es ein personaler Erzähler wäre? (Also quasi auktorial, aber ohne vorher aus der Distanz sichtbar "heranzuzoomen"?)

Ich bin mir sicher, dass das den Lesern so ziemlich egal ist, solange es sich flüssig liest. Vielen Lesern wird der Unterschied nicht geläufig sein oder sie achten nicht darauf.
Mir stellt sich nur die Frage, wie es ist, wenn ein Lektor das Ganze liest.
,,Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge."
Kurt Marti