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Wie sehr darf ein Perspektivträger lügen?

Begonnen von Sprotte, 16. Januar 2011, 10:17:21

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Sprotte

Mir flog heute nacht eine so nette Idee zu, ich stehe nur vor dem Problem, wie sehr der Perspektivträger den Leser belügen darf.  :hmmm:

Grundidee (ich habe es derzeit mit der Heroic Fantasy): Ein Paladin soll einen Jungen quer durch ein feindliches Reich eskortieren. Der Junge ist Perspektivträger - und in Wahrheit ein Mädchen. Natürlich - immerhin bin ich die Autorin - bahnt sich etwas zwischen den beiden an. Der Paladin ist weder blind noch doof, er weiß, daß er es mit einem Mädchen zu tun hat. Aber das weiß der Leser nicht.
Geht das?

Berjosa

Du meinst, der Leser soll nicht mitbekommen, dass der Perspektivträger ein Mädchen ist?
Ich glaube, das wird ziemlich schwierig. Das übertrifft noch die Geschichte von Agatha Christie, wo am Ende der Ich-Erzähler als Mörder entlarvt wird.
Vermutlich werden sich etliche Leser schwer verschaukelt fühlen, selbst wenn du die Geschichte als Tagebuch oder nachträglichen Reisebericht oder so tarnst. In dieser Form darf sich dein Perspektivträger ja selbst zensieren bzw. stilisieren, wie er es für nötig hält.

Churke

Wir kennen ja die Thematik, dass die Figur dümmer ist als der Leser.
Jetzt soll der Leser dümmer sein als die Figur.

Eine Frage: Wie willst du überhaupt darstellen, dass der Paladin Lunte gerochen hat, wenn deine Perspektivträgerin den Leser im Ungewissen lassen soll? Das kann doch nur funktionieren, wenn sie selbst nicht weiß, dass der Paladin Bescheid weiß.
Denn sobald sie merkt, dass der Paladin was gemerkt hat, muss sie darüber refklektieren und der Leser bekommt es mit.

Ich glaube also, dass es aufgrund dieser Konstellation nicht geht.

Ansonsten hielte ich so etwas durchaus für möglich. Wenn die Perspektivträgerin dem Leser ihr Geschlecht nicht verraten will, dann wird er es auch nicht erfahren. Das Schwierige ist wahrscheinlich, die Story mit versteckten Hinweisen anzufüllen, anhand derer man es hätte merken können.

Sprotte

Ich fürchtete das schon.  :happs:
Also muß mein Paladin die Perspektive kriegen, was mir gar nicht behagt. Ich lasse meine Helden so gerne von der Perspektivträgerin anhimmeln. Verflixt.

ZitatEine Frage: Wie willst du überhaupt darstellen, dass der Paladin Lunte gerochen hat, wenn deine Perspektivträgerin den Leser im Ungewissen lassen soll? Das kann doch nur funktionieren, wenn sie selbst nicht weiß, dass der Paladin Bescheid weiß.
Das wäre das geringste Problem. Wir werden eine nette Kußszene haben, an deren Ende der Paladin sagt, daß er es schon immer gewußt hat - als sie ihm gerade verraten will, daß sie ein Mädchen ist.

ZitatDas Schwierige ist wahrscheinlich, die Story mit versteckten Hinweisen anzufüllen, anhand derer man es hätte merken können.
Das denke ich, wäre zu meistern.

Julia

Spontan fällt mir eine (dumme?) Frage dazu ein: Welchen Nutzen hat die Tatsache, dass alle außer dem Leser wissen, dass der vermeintliche Junge ein Mädchen ist?

Mika

Und wenn du die Perspektive aufteilst?
Sprich bei deiner Perspektiventrägerin lässt du alles im Dunkel, sie hat nichts davon gemerkt dass der Paladin Lunte gerochen hat, aber wenn du ihm auch ein bisschen Stimme gibst (muss ja nicht die komplette sein) könntest du trotzdem seinen Verdacht reinbringen dass sie ein Mädchen ist ohne dass sie damit konfrontiert wird und folglich das ganze reflektieren muss. Und bei einem aufteilen der Perspektive könntest du natürlich noch überwiegend deinen Helden von ihr anhimmeln lassen.
Wäre das vielleicht etwas das dir weiterhilft?

Churke

Im eigentlichen Sinne "wissen" es nicht alle. Wie Sprotte gesagt hat, tut der Paladin unwissend und spielt gut mit. Damit kommt von dieser Seite kein Störfeuer.

Ich stelle es mir sogar echt lustig vor, wenn das Mädel glaubt, sich so perfekt getarnt zu haben und dann ist alles für die Katz.  ;D
Es braucht halt einen stark personalen Erzähler. Dann müsste es funktionieren.

Zitat von: mika am 16. Januar 2011, 10:50:48
aber wenn du ihm auch ein bisschen Stimme gibst (muss ja nicht die komplette sein) könntest du trotzdem seinen Verdacht reinbringen dass sie ein Mädchen ist ohne dass sie damit konfrontiert wird und folglich das ganze reflektieren muss.

Wenn man da einen *Verdacht* rein bringt, ist die Show vorbei. Der Leser weiß dann sofort, was abgeht.

Sprotte

ZitatWelchen Nutzen hat die Tatsache, dass alle außer dem Leser wissen, dass der vermeintliche Junge ein Mädchen ist?
Für die ersten sagen wir 100 Seiten weiß nur die Heldin, daß sie ein Mädchen ist. Ja, ihre alte Kinderfrau und der Opa, der sie dem Paladin und seinen Leuten anvertraut, wissen es, aber die kommen nur in dem Moment der Übergabe vor.
Danach ist sie auf sich alleine und ihre Verkleidung gestellt.

Zitatsie hat nichts davon gemerkt dass der Paladin Lunte gerochen hat
Exakt das ist der Plan. Daß er schon lange alles weiß (Mädchen bewegen sich anders als Jungen und was noch alles, er weiß es eben von Anfang an), erfahren sie und der Leser erst bei der ersten Kußszene.

Ich müßte mich nur etwa 100 Seiten mit dieser Perspektivträgerlüge durchschummeln.

ZitatWenn man da einen *Verdacht* rein bringt, ist die Show vorbei. Der Leser weiß dann sofort, was abgeht.
Exakt! Danke fürs Verstehen meiner Gedanken.

ZitatEs braucht halt einen stark personalen Erzähler. Dann müsste es funktionieren.
Kannst Du mir das bitte etwas mehr erklären? Vielleicht hänge ich nur an dem Begriff.

Smaragd

Ich verstehe die Frage nicht ganz. Was genau willst du dem Leser vorenthalten? Dass der angebliche Junge ein Mädchen ist oder dass der Paladin darüber Bescheid weiß? Oder beides?

Sprotte

Beides!  ;D

@ Churke: personaler Erzähler nachgeschlagen. Alles klar, Danke.

Rumpelstilzchen

Ich kann mir nicht vorstellen, dass beides zu verschleiern funktionieren wird. Als Mädchen denkt sie anders und nimmt ihre Umgebung anders war, denn nur weil sie sich als Junge verkleidet wird sie zu keinem, es sei denn sie ist wirklich wie ein Junge erzogen worden. Vielleicht verletzt sie sich oder ist ängstlicher, etc. Die Wahrnehmung ist häufig eine andere.

Die Idee es dem Paladin zu verheimlichen finde ich allerdings gut, aber dann könnte ich mir vorstellen, das vielleicht bewusst versucht sich wie ein Junge zu verhalten, weil sie Angst hat, dass er hinter das Geheimnis kommt. Diese Angst spielt vermutlich auch eine wichtige Rolle, denn sie wird sie doch bestimmt haben. Diese Gedanken wegzulassen, stelle ich mir schwierig vor.

Julia

Meine Frage war vielleicht etwas missverständlich ausgedrückt. Ich meinte sie mehr im Sinne von "Welchen Nutzen hat der Leser davon, dass er nicht weiss, dass der vermeintliche Junge ein Mädchen ist?" Mehr Spannung? Ein besonderer Aha-Effekt?

Grundsätzlich möchte man als Leser ja gern eine (wie auch immer geartete) Beziehung zu dem Protagonisten/in aufbauen. Sollte ich dann nach 100 Seiten plötzlich feststellen, dass ich mit dieser Figur bewusst getäuscht wurde, würde ich (als Leser) schon gern einen triftigen Grund dafür haben wollen. Denn woher soll ich sonst wissen, dass es nach weiteren 100 Seiten nicht erneut (und völlig grundlos) heisst: "Ätschebätsche :ätsch:, schon wieder ganz anders ..."

Sprotte

Da legst Du einen Punkt in die Wunde, Julia. Ich weiß es noch nicht. Es ist eine nächtliche Idee, und mir ging es nun zuerst um das "Darf ich das?". "Kann ich das?" - Ja, ich denke, das kann ich.

Nutzen wäre nach meiner bisherigen Sicht der Dinge, daß ich vermeintlich einen Hauch Homoerotik hineinbringen könnte, die sich dann als Ätschebätsch entpuppt. Sonst habe ich noch keine weitere Erklärung. Ich mußte nur im Halbschlaf über die Geschichte lachen.

zDatze

Es werden sich sicherlich einige Leser verschaukelt vorkommen, andere werden es möglicherweise genial finden. Kommt dann doch wieder sehr auf den inidviduellen Lesegeschmack an und ob man sich gerne auf Experimente einlässt. ;)

Ich erinnere mich ganz dumpf an ein Buch, von dem mir meine Mutter erzählt hat. Da ging es auch darum, dass die Protagonistin die ganze Zeit über sich selbst für eine Frau gehalten hat und sich am Schluss herausstellte, dass sie eigentlich ein Mann ist. (Oder vielleicht war das auch umgekehrt, ist schon ewig her und hat mich von der Thematik auch nicht sonderlich interessiert. ::) ) Dieser ganze Schwindel funktionierte über ein stricktes Netz aus Tabu-Themen. Soviel hab ich noch im Kopf.
Das passt jetzt von der Ausgangsbasis gar nicht zu deiner Idee, aber diese Männlein-Weiblein-Verwirrung hat die Erinnerung wieder geweckt.

Thaliope

Matt Ruff hat das in den beiden Büchern "Ich und die anderen" und "Bad Monkeys" ganz prima hingekriegt.
Also ja, ich glaube, man kann es machen. Aber ich glaube auch, dass es nicht ganz einfach ist.

LG
Thali