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Stumme Protagonisten

Begonnen von Stjersang, 06. Februar 2010, 11:17:50

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Dämmerungshexe

Hossa, stummer Prota ... das ist ja mal was.

Ich könnte es mir nur sehr schwer vorstellen so eine Geschichte zu schreiben oder auch zu lesen.
Eine Möglichkeit wäre natürlich alles aus Valnyrs Perspektive zu erzählen, so dass man als Leser seine Gedanken kennt und weiß, was er gesagt hätte.
Das einziges, was ich mir sonst noch vorstellen könnte wäre einen zweiten Prota, zu dem Valnyr eine besonders tiefe Beziehung hat, so das diese Person immer weiß, was er denkt. Das meine ich nicht im Sinne von Gedankenlesen o.ä., eher eine enge Freundschaft seit Kindestagen an, so dass sie die beiden inn- und auswendig kennen. Diese Person könnte dann für Valnyr sprechen und den anderen mitteilen, was er denkt.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Maja

Ich habe in der "Gauklerinsel" auch das Problem einer sprachlosen Figur und lange vor der Frage gestanden, was ich mit ihr machen soll. Ursprünglich war nicht geplant, daß Maris nicht sprechen kann - sie hat sich in der ersten Szene, in der sie auftrat, nur mit Gesten verständlich gemacht, und danach hatte ich Probleme, sie zu einer normal sprechenden Frau überzuleiten. Schließlich habe ich dann anatomisch begründen können, warum sie nichts sagt:

Maris ist eine halbe Meerfrau, und die Meermenschen haben es nicht nötig, zu sprechen, sie verständigen sich telepatisch. Leider hat Maris diese Fähigkeit nicht geerbt, dafür ist aber auch ihr Kehlkopf nicht so gebildet, daß er für normales Sprechen geeignet ist. Das heißt, Maris kann unter Schmerzen einzelne Wörter hervorbringen, aber nicht so artikulieren, daß die Leute sie auch verstehen.

Wenn Maris in ihrer eigenen Perspektive ist, weiß sie, was sie sagen will, und so schreibe ich das dann auch. Aber wenn jemand anderes sie hört, gebe ich phonetisch wieder, was Maris von sich gibt, mit den entsprechenden Mißverständnissen: So will Roashan wissen, warum sie ihr Kind bei ihm abgelegt hat und es nicht mehr abgeholt. Maris will ihm sagen, daß sie den Weg nicht gefunden hat, also sagt sie »Weeeg« - Vokale dehnt sie immer sehr lang, Konsonaten kann sie dafür nicht besonders gut. Roashan versteht daraufhin, daß sie das Kind weggeben wollte - das Mißverständnis ist vorprogrammiert...

Ich habe mich daran orientiert, wie Taubstumme sprechen. Viele Stumme werden ja nicht stumm geboren, sondern verlieren in ihrer Kindheit durch Krankheit das Gehör und infolgedessen die Stimme, haben aber einmal sprechen gelernt, auch wenn sie sich selbst nicht mehr hören können. Ich hatte verschiedentlich mit sprechenden Tauben zu tun - ein Onkel einer früheren Freundin, eine Teilnehmerin in einem VHS-Kurs, in dem ich assistiert habe, oder eine Bekannte meiner amerikanischen Gastfamilie. Ich habe auch vor wenigen Jahren ein Jugendbuch gelesen, "Der Mädchenturm" vom M.E. Kerr, in dem eine taube Schülerin ein Internat besucht. Bedingt durch die Trennung der Gehörlosen von den Hörenden finde ich, es sollte ruhig thematisiert werden, daß viele Taube sich große Mühe geben, sich mit den Hörenden zu verständigen, während viele Hörende auf dem Standpunkt stehen "Ach, die können doch sowieso alle Lippenlesen".

Ich habe auch erbliche Schwerhörigkeit in der Familie und mußte mich lange mit dem Gedanken auseinandersetzen, das Gehör zu verlieren, und wollte schon einen Kurs in Zeichensprache besuchen - habe aber vom Ohrenarzt Entwarnung bekommen und daraufhin den Kurs auf Ultimo verschoben. Grundsätzlich denke ich aber, es sollten viel mehr Hörende Zeichensprache lernen, damit die Welten nicht so komplett unter sich bleiben, sondern sich auf untereinander verständigen können. 2008 hatte ich in Amerika auch das Glück, eine Taubstummenlehrerin zu treffen und mich lange mit ihr über Zeichensprache zu unterhalten, und ich war fasziniert, daß ich diese Sprache intuitiv verstehen kann - und da ich mein Gehirn wahrnehme, anders als die meisten Leute merke ich, welche Region gerade aktiv ist, weiß ich auch, daß ich Zeichensprache mit dem Sprachzentrum verarbeite und nicht mit dem Bewegungszentrum (was gut ist, denn Bewegungsabläufe kann ich mir nicht einprägen, Zeichensprache hingegen schon).

Ich finde es gut, wenn in Geschichten nicht nur gesunde heile Welt herrscht, sondern auch Behinderungen vorkommen, und nicht nur bei bemitleidenswerten Nebenfiguren, die dann aus großen hilflosen Augen in die Welt gucken, sondern ruhig auch bei Hauptfiguren. Dann muß sich der Leser eben darauf einstellen - na und?
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Stjersang

Vielen Dank nochmal für die hilf- und zahlreichen Antworten.

Wunderbar, das 'warum' wäre dann schoneinmal geklärt. Beim 'wie' habe ich mittlerweile auch schon konkretere Vorstellungen.
Ich habe in vielen Beiträgen gelesen, dass eine Möglichkeit zur Kommunikation z.B. durch Gebärden oder einen anderen Protagonisten gewünscht wird, aber eigentlich würde ich doch viel lieber den Versuch wagen, Valnyrs Gedanken nur dem Leser mitzuteilen und nicht den anderen Charakteren.

Zitat von: Maja am 07. Februar 2010, 20:59:00
Ich finde es gut, wenn in Geschichten nicht nur gesunde heile Welt herrscht, sondern auch Behinderungen vorkommen, und nicht nur bei bemitleidenswerten Nebenfiguren, die dann aus großen hilflosen Augen in die Welt gucken, sondern ruhig auch bei Hauptfiguren. Dann muß sich der Leser eben darauf einstellen - na und?
Ich muss gestehen, ich arbeite mittlerweile schon fast darauf hin, mit so vielen Klischees wie möglich abzurechnen. Allerdings nicht auf eine satirische oder komödiantische Art und Weise, sondern eher unterschwellig, sodass der Leser immerwieder überrascht wird, wenn nach A kein B folgt.

Romy

#18
Zitat von: Maja am 07. Februar 2010, 20:59:00
Ich finde es gut, wenn in Geschichten nicht nur gesunde heile Welt herrscht, sondern auch Behinderungen vorkommen, und nicht nur bei bemitleidenswerten Nebenfiguren, die dann aus großen hilflosen Augen in die Welt gucken, sondern ruhig auch bei Hauptfiguren. Dann muß sich der Leser eben darauf einstellen - na und?

In einem angefangenen/unvollendeten/z.Z. auf Eis gelegten Roman habe ich mir genau das gedacht und eine von Geburt an taubstumme Nebenfigur erschaffen. Okay, eine Hauptfigur ist es nun doch nicht, aber da die Gute zum "Team" um meine Prota gehört und eine gute Freundin wird, ist sie doch relativ wichtig. Sie wurde als Kind zwar von ihren Eltern, wegen ihrer Behinderung ausgesetzt, hat aber mit ihren Zieheltern doch Glück gehabt, Schreiben gelernt und kommuniziert vor allem über ein Schiefertäfelchen und Kreide, die sie immer und überall dabei hat. Ansonsten ist sie eigentlich ein recht lebensfrohes Persönchen und eine Kämpfernatur, große psychische Probleme wollte ich in dem Fall nicht mit rein bringen, wenngleich ihr Lebensweg sicherlich auch viel bitterer hätte ablaufen können.

Woran man denken muss, wenn man seine stumme Figur über Schrift kommunizieren lassen will: In einer mittelalterlichen Welt herrscht doch überwiegend Analphabetismus. Erst Mal muss man seine Figur in einer Familie o.ä. aufwachsen lassen, wo sie den Umgang mit Schrift lernt. Und dann werden natürlich auch nicht unbedingt alle Menschen lesen können, denen diese Figur begegnet, was die Kommunikation auch wieder erschwert ...

Rika

Spannende Idee, sicherlich schwierig umzusetzen, aber interessant und auf jeden Fall einen Versuch wert, besonders, wenn du darauf Lust hast, bzw dir halt daran liegt!  :)

Stjersang

Zitat von: Rika am 16. Februar 2010, 17:43:39
[...] sicherlich schwierig umzusetzen [...]
Jaah, langsam merke ich das auch. Ich gehe im Moment nocheinmal meinen Plot durch und bemerke, dass viele Szene so ein ganz anderes Gesicht bekommen. Wie reagiert z.B. die Heilerin, wenn Val ihr wortlos eine halbtote Ratte vors Gesicht hält, statt zu Erzählen, er hätte einen ganzen Haufen davon am zentralen Brunnen gefunden und würde gerne eine fachliche Meinung zu halbtoten Ratten in der Wasserversorgung einholen.