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Haarsträubende Erzählperspektiven

Begonnen von Luciel, 08. Oktober 2009, 19:50:54

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Grey

#15
Zitat von: Tenryu am 09. Oktober 2009, 21:34:37
Das wirklich tragische sehe ich darin, daß ein echter Volksschriftsteller heute keine Chance mehr auf eine Veröffentlichung hat, weil es eben praktisch nur noch elitäres Gebrabbel gibt, oder triviale massentaugliche Unterhaltung.

Das - entschuldige meine Direktheit - halte ich für selbstmitleidigen, selbstgerechten Unsinn.
Literarisch ist nicht zwingend gleich elitär, und schon gar nicht gleich Gebrabbel.
Ebenso wenig wie Unterhaltung gleich trivial sein muss, und erst recht nicht ist etwas trivial, nur weil es massentauglich ist.

Ich persönlich habe zwar noch nichts von Herta Müller, wohl aber schon freiwillig das ein oder andere Werk der sogenannten "intellektuellen Literatur der Nobelpreisträger" gelesen und mich davon bestens unterhalten gefühlt - angefangen mit Rudyard Kipling und Selma Lagerlöf, als ich noch keine zehn Jahre alt war und mich kein Stück um Literaturpreise geschert habe. Andersherum habe ich genau so schon etliche klug geschriebene und konstruierte Unterhaltungsromane gelesen, so wie beispielsweise vor gar nicht langer Zeit "Die Bücherdiebin" von Markus Zusak oder "Middlesex" von Jeffrey Eugenides.

Was die Erzählperspektiven angeht: Haarsträubend finde ich so etwas wie im erwähnten Beispiel von Coetzee nicht, eher ziemlich interessant - nichts, was ich mal eben so zur Entspannung lesen würde, aber trotzdem. Stefan hat das schon sehr schön ausgedrückt. Kommt eben drauf an, wonach einem gerade so ist (obwohl ich zugeben muss, dass bei mir meist das Bedürfnis nach leichter verdaulicher Kost überwiegt ...) ;)

LoneRanger


Zitat...und sich damit auch anspruchsvollere Techniken (zB auktoriale Erzähler) abgewöhnt.

:) :) :)

Ja, mach so weiter. In der "alten" englischen Fantasy-Literatur (Inklinks, nicht nur Tolkien...) gibt es eine Erzählstimme, die ich heute so in den Erzählungen vermisse... Und gerade die gehört für mich unbedingt dazu.

Einen schönen Abend, wünsche ich!

LoneRanger

Zitatin Karl May hat mit seinen Büchern mehr zu Toleranz und Völkerverständigung beigetragen, als jeder Nobelpreisträger.

Emm... *räusper*  *denk* Jaaaaa???

Linda

Zitat von: LoneRanger am 10. Oktober 2009, 20:05:42

ja, mach so weiter. In der "alten" englischen Fantasy-Literatur (Inklinks, nicht nur Tolkien...) gibt es eine Erzählstimme, die ich heute so in den Erzählungen vermisse...

witzigerweise bin ich als Schreibender bisher mit der personalen Perspektive (mit auktorialen Anteilen) bei längeren Texten immer gut gefahren. Aber andere Sichtweisen bieten teils schönere Möglichkeiten der Infovermittlung bspw. Es wäre schade, wenn diese Technik ganz verloren ginge.

Ich würde es daher immer vom Projekt abhängig machen - da strebe ich tatsächlich nach einer gewissen Einheit von Form und Inhalt.

Bei meinem neuen Roman habe ich etwa drei personale Perspektiven:

a) Erzählstrang Gegenwart, 1. Hauptfigur
b) Expeditionstagebuch eines anderen Erzählers. Gegenwart. Diese Sicht der Nebenfigur ist enorm wichtig, um kleinere Infos zu streuen, Sachen über die Figur und den Hintergrund zu erleuchten, die sie nie öffentlich zugeben würde etc.
c) Erzählstrang Vergangenheit, 2. Hauptfigur

Auch mal was Neues für mich...

Gruß,
Linda

Maran

Zitat von: LoneRanger am 10. Oktober 2009, 20:10:31
Emm... *räusper*  *denk* Jaaaaa???

So ähnlich erging es mir auch ... ich wollte es nur nicht in Worte fassen ... ;D

Anamalya

Hallo!  :winke:
Ich kenne besagtes Buch von Coetzee nicht, insgesamt finde ich es aber immer wieder interessant, wenn ein Autor etwas vollkommen neues ausprobiert, auch wenn es dann schwer zu lesen ist.
Ich habe ja Deutsch-LK und da gab es einige Bücher, wo ich mir beim Lesen nur gedacht habe O GOTT, aber im Nachhinein würde ich sagen, dass mir gerade diese Bücher wirklich viel gebracht haben. Denn gerade die Bücher, die vollkommen anders sind, regen mich zum Denken oder zum Experimentieren beim Schreiben an.
Kennt ihr vielleicht Woyzeck von Büchner?
Das ist ja ein sogenanntes offenes Drama, d.h. die Szenen haben keine festgelegte chronologische Reihenfolge, sondern sie können beliebig angeordnet werden und es ergibt jedes Mal einen anderen Sinn. So etwas finde ich wirklich faszinierend.
Trotzdem ständig kann ich solche Bücher auch nicht lesen. In Deutsch musste ich mich manchmal schon fast zwingen, bei manchen Werken weiterzulesen, aber ich habe es bis jetzt eigentlich noch bei keinem bereut.

LG
Anamalya

Luciel

Ich bin gerade etwas sorach- und fassungslos darüber, was hier abgeht ... da ich diesen Thread eröffnet habe, fühle ich mich dafür verantwortlich, d.h. ich fühle mich schlecht.

Zum einen ist das Thema irgendwie völlig verrutscht. Das sollte keine Disskussion darüber werden, ob berühmte Personen ein Abo darauf haben, Kunst zu produzieren, bzw. unbekannte Künstler sich genötigt fühlen zumindest erst mal die große Menge zu bedienen. Kunst entsteht bekanntlich im Auge des Betrachters (oder Lesers) und ist dem Wandel der Zeiten unterworfen.
Mir ging es eher um Beispiele für Bücher, die völlig aus der Reihe fallen, egal ob man sie mag oder nicht. Ich selbst entwerfe gerne ungewöhnliche Perspektiven, werde dann aber von meinen Beta-Lesern gern auf den Boden der Tatsachen geholt - extravagante Perspektiven sind nicht für jedermanns Geschmack und man sollte sich gut überlegen, ob es denn sein muss.

Was mich heute aber viel mehr schockiert hat, ist der Umgangston in diesem Thread. Ich verstehe nicht, wieso hier Mitglieder, die nur ihre eigene Meinung kund tun, angegriffen werden. Vielleicht bin ich da etwas zu empfindlich, aber bei mir kommt das so an und ich lese die Beiträge hier wirklich mit Bauchschmerzen.

Linda

#22
@Luciel

ich glaube nicht, dass hier Mitglieder für ihre Meinung angegriffen wurden. Dass aber Meinungen (von Mitgliedern) angegriffen werden, ist in einer Diskussion nicht so ungewöhnlich. Schließlich werden ja auch als Aufhänger des Threads Werke bzw deren Perspektive kritisiert.

Dass Bedarf/Interesse an einer Diskussion besteht, sieht man  anhand des Verlaufs. Und den kleinen polemischen Spruch zu Beginn meines ersten Postings konnte ich mir halt nicht verkneifen. Vielleicht hat diese Feststellung ja einen verschärften Ton reingebracht. Es kam mir eben vor, als sollten bestimmte Werke an den Pranger gestellt werden weil sie ... ungewöhnlich ... sind.
Gleichmacherei und vereinfachende Tendenzen sind mir aber in Sachen Literatur (ob U oder E) schlicht ein Gräuel. Und gerade von Autoren erwarte ich eine differenziertere Sicht als von reinen Lesern.

Gruß,
Linda

Lavendel

Zitat von: Luciel am 11. Oktober 2009, 17:06:45
Was mich heute aber viel mehr schockiert hat, ist der Umgangston in diesem Thread. Ich verstehe nicht, wieso hier Mitglieder, die nur ihre eigene Meinung kund tun, angegriffen werden. Vielleicht bin ich da etwas zu empfindlich, aber bei mir kommt das so an und ich lese die Beiträge hier wirklich mit Bauchschmerzen.

Ich beziehe das jetzt auf mich. Ich wollte dir auf keinen Fall Bauchschmerzen bereiten. Wenn man seine Meinung sagt, muss man immer damit rechnen von anderen kritisiert zu werden. Davon lebt eine Diskussion eben auch. Und wenn sich alle nur gegenseitig den Kopf streicheln, wird es auf dauer nicht nur langweilig, sondern sinnlos. Man muss natürlich dabei im Auge behalten, dass es sich dabei um nichts Persönliches handelt, auch wenn der Ton vielleicht mal schärfer wird, wenn man sich absolut uneins ist.

Dass dieser Thread sich entgegen deiner ursprünglichen Intention entwickelt hat, ist richtig. Vielleicht gelingt es uns ja, ihn wieder 'auf Kurs' zu bringen.

Ich könnte dir zum Beispiel John Fowles empfehlen. 'Die Frau des französischen Leutnants' ist eins meiner Lieblingsbücher. Man wird öfters mal aus der Handlung herausgerissen, und es gibt verschiedene Enden. Das Buch hat für mich persönliches sowas wie ein Augenzwinkern 'von Autor zu Autor'.

Romy

Ich hab auch mal ein Beispiel, für eine m.M.n. ungewöhnliche Perspektive, auch wenn der Roman im Vergleich zu Coetzee (hab es nicht gelesen), vermutlich harmlos ist.
"Billard um halb zehn" von Heinrich Böll. Es ist mein bisher einziges Böll-Buch, ich hab mir ja sagen lassen, er soll allgemein oftmals anstrengend sein, aber um das zu beurteilen, will und muss ich noch mal einige weitere Romane von ihm lesen, was ich auf jeden Fall vorhabe ...

Zur Perspektive des Romans: Es gibt zahlreiche Perspektiventräger; die eigentlich Handlung wird zudem häufig von sehr langen Rückblenden unterbrochen und häufig weiß man bei Kapitelanfang über viele Seiten nicht, in welcher Zeit man sich befindet und welche Figur denn gerade überhaupt die Perspektive hat. Manche von den Rückblenden sind auch geradezu traumartig und allein deshalb schon schwer verständlich.
Dann gibt es eine wichtige Situation, deren Minuten vorher insgesamt 4 Mal erzählt werden, aus Sicht von 4 verschiedenen Figuren bzw. Personengruppen. Vor allem im Film ist sowas ja nicht gerade selten, aber in Büchern habe ich so etwas noch nicht sehr häufig gelesen. 

Ich muss zugeben, hätte ich über den Roman nicht ein Referat halten und mich in aller Ausführlichkeit damit beschäftigen müssen, dann hätte ich wohl Vieles nicht verstanden ... So aber schwanke ich zwischen Ablehnung und Bewunderung für Bölls Genialität. Es ist jedenfalls kein Buch, dass man mal so nebenbei lesen kann, nicht nur, was das Thema betrifft ...

Anamalya

Ein weiteres Buch mit ungewöhnlicher Erzählperspektive ist "Lieutnant Gustl" von Arthur Schnitzler (Das lesen wir gerade in Deutsch). Es handelt von einem Lieutnant der denkt, sich umbringen zu müssen, weil seine Ehre verletzt wurde, und ist durchgehend im inneren Monolog geschrieben, d.h. man nimmt die ganze Geschichte durchgehend nur aus der Sicht von Gustls wahr, man muss also selbst entscheiden, was tatsächlich stimmt, welche Urteile subjektiv sind etc.
Das erschwert natürlich das Lesen, ist aber mal wirklich interessant. Das Buch ist auch nicht dick, hat in Reclam etwa 20 Seiten.
LG
Anamalya

Steffi

Zitat von: Lavendel am 09. Oktober 2009, 21:58:16
Nein? Satre ist bedeutungslos? Yeats? Hemmingway? Kipling? Camus? Böll? Beckett? Toni Morrison, Harold Pinter, Günther Grass? Alle nur von ein paar tausend Menschen gelesen?


Danke, danke, danke.

Jeder, der glaubt solche Autoren seien bedeutungslos sollte sich fragen, woher solche allgemeingütigen Ausdrücke wie "Big Brother" oder "des Pudels Kern" oder "All's well ends well" stammen.
Sic parvis magna

Kati

Was ich ganz schlimm finde ist, wenn eine Geschichte von mehreren Personen aus der Ich-Form erzählt wird. Ich finde das verwirrend, besonders, wenn es zwischen zehn Protagonisten hin und her springt und die einzelnen Kapitel hin und wieder bloß zwei Sätze haben...

LG,

Kati

Luciel

#28
Da fällt mir ein, dass ich ein gutes Buch mit einer sehr extravaganten Perspektive besitze, das sogar in den Bereich Fantasy fällt:

Die Brautprinzessin - S.Morgenstern / William Goldmann
(ich habe sogar noch eine Ausgabe mit rot gedruckten Anmerkungen)

Wahrscheinlich kennen die meisten von euch dieses Buch. Schon das erste Kapitel ist seltsam - ein ganzes Kapitel darüber, warum der Autor dieses Buch veröffentlicht hat. Geschrieben kann er nicht sagen, denn es handelt sich angeblich um die überarbeitete Ausgabe eines alten Klassikers.

Was folgt ist eben jenes alte Buch, das aber immer wieder durch höchst amüsante Einwürfe des Autors unterbrochen wird. Entweder äußert er sich über Morgensterns Schreibstil (meist abfällig) und die Seiten, die er ausgelassen hat.
Oder er wirft Anekdoten ein, aus der Zeit, als sein Vater ihm das Originalbuch zum ersten Mal vorgelesen hat (z.B. wie sein Vater die Handlung vorweg nimmt, um seinen Jungen nicht zu sehr aufzuregen)

Ich finde das Buch sehr amüsant, der unterschiedliche Stil von dem Klassiker und den Anmerkungen sind einfach klasse. Zudem sind die Anmerkungen sparsam gesäht, finden sich oft am Anfang oder Ende eines Kapitels und stehen immer im direkten Zusammenhang zu der Handlung, die man gerade liest.

Nachdem der Verlag wohl von den ganzen Nachfragen schier erdrückt wurde hat man dann irgendwann bekannt gegeben, dass es diesen "Klassiker" gar nicht gibt .. leider.

Feuertraum

Internes Memo für mich: Nightingale nicht fragen, ob sie bei meiner Krimikomödie Betaleserin wird.
Nun aber zum Topic zurück:

Ich möchte einmal eine Lanze brechen für die Menschen, die eben aus mehreren Erzählperspektiven schreiben: das ganze ist verdammt schwierig. Irgendwo ein Drahtseilakt, bei dem man versuchen muss die Balance zu halten zwischen Klarheit und intelligentes Lavieren, zwischen guter Unterhaltung und Lächerlichkeit.
Nein, aus mehreren Perspektiven zu schreiben ist mbMn. bewundernswert, eben weil es nicht so einfach ist, wie es vielleicht scheint.

@ Linda:
Was die "Wir schreiben so wie die Schreibratgeber es vorgeben"-Fraktion angeht: Ich stimme Ihren Worten zu. Die Schreibratgeber haben einen kleinen Nachteil: Sie verschweigen hartnäckig die absolute Rollenspielregel: Halte dich an die Regeln, aber wenn sie der Geschichte schaden, schmeiss diese Regeln weg!!

LG
Feuertraum

Was hat eigentlich He-Man studiert, dass er einen Master of the universe hat?