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Tresilean und Yestin, der Verschlossene und die Plappertasche

Begonnen von Maja, 12. September 2023, 17:50:26

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Maja

Seit ein paar Wochen sitze ich an der Planung für meinen Nanowrimo-Roman »Funkenschwarz«. Ebenso lange versuche ich, die Motivation meiner Hauptfiguren zu ergründen. Aber auch wenn ich inzwischen schon einiges über die beiden weiß, fehlt mir doch etwas ganz wesentliches: Ich weiß nicht, was die beiden wirklich wollen. Was sind ihre persönlichen Ziele?

Ich habe versucht, mit ihnen in Klausur zu gehen - ergebnislos. Tresilean gibt sich verschlossen und rückt kaum mit irgendwas raus, während Yestin mir eine Frikadelle ans Ohr labern kann, nur nie über das, was ich gerade wissen will. Deswegen hoffe ich, sie hier in den Vorstellungsgesprächen im Doppel-Interview knacken zu können. Vielen Dank im Voraus für eure Mithilfe!



Tresilean ist, wenn er einmal gelernt hat, seine Fähigkeiten zu kontrollieren, ein Blitzmagier. Vorher entlädt sich seine Kraft ungeplant. Als Achtjähriger hat er auf diese Weise seine Eltern getötet, wird dann herumgereicht, landet erst im Waisen-, dann im Arbeitshaus, bevor er in der Freakshow eines Zirkus endet. Von dort gelangt er zu einem Geheimbund, der in seiner Steampunk-Welt elektrischen Strom etablieren möchte und dem Tresileans Gabe gerade recht kommt. Er wird ausgebildet und in die Akademie eingeschleust, um dort eine (wie auch immer geartete) Sabotage vorzubereiten - nur, über dem ganzen Herumgereiche und den Plänen, die andere für ihn haben - was will er selbst? Was liebt er, hasst er, fürchtet er?

Tresilean hat zerzauste schwarze Haare und bekommt, wenn er seine Magie wirkt, auffällige rote Blitzmale (Lichtenberg-Figuren) am ganzen Körper, die nach ein paar Tagen wieder verblassen. Nachdem er als Jugendlicher damit halbnackt in einem Glaskasten zur Schau gestellt worden ist (Slogan: "Der Junge, der dreimal vom Blitz getroffen wurde"), hüllt er sich später in einen langen schwarzen Mantel mit hochstehendem Kragen, um die Male zu verdecken.


Yestin ist ein paar Jahre älter als Tresilean (als sie sich das erste Mal begegnen, ist Tre 12 und Yestin um die 15 Jahre alt) und Hellseher. Er arbeitet im Zirkus, den er als sicheren Hafen betrachtet, wo er ganz er selbst sein kann und nicht wegen seiner Sexualität verfolgt wird. Anfangs befindet er sich in einer nicht unproblematischen Beziehung mit dem Starken Mann Androw, von dem er sich später (wenn er den Zirkus verlässt) trennt. Yestin sieht die Zukunft von allen Menschen außer sich selbst und trinkt, um seine Visionen wieder zu vergessen. Durch eine Methanolvergiftung ist er vorübergehend erblindet, spielt anschließend weiter den Blinden, um das Geheimnis zu wahren, dass Lula, die Bärtige Dame, über magische Heilkräfte verfügt. Er benutzt gezinkte Tarotkarten, um den Menschen ihre Zukunft vorherzugsagen.
 
Yestin hat rotbraune Haare, die ihm ins Gesicht hängen, und benutzt milchige Kontaktlinsen, um blind zu erscheinen. Er trägt auffällige Schaustellerklamotten (zum Beispiel eine rote Jacke mit goldenem Besatz, die er dem Zirkusdirektor abgeschwatzt hat) und Tätowierungen an den Armen.


Beide warten auf eure Fragen und haben versprochen, sie auch wirklich zu beantworten, damit wir hier langsam mal ein bisschen voran kommen mit der Planung. Danke!
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Soly

Dann versuche ich es mal und werfe euch ein paar Fragen zu, in der Hoffnung, damit etwas Licht ins Dunkel bringen zu können.

An Tresilean:
Deine Kraft hat sich früher unkontrolliert entladen - wie ist das abgelaufen? In welchen Situationen ist das passiert, und war es immer gleich oder je nach Situation verschieden stark?
Wenn du magst, erzähl mir doch vom Tod deiner Eltern. Wie war die Situation, die dazu geführt hat? Was hast du in diesem Moment gefühlt?
Und wie fühlt es sich im Vergleich dazu jetzt an, wenn du deine Kraft gezielt einsetzt?
Was denkst du darüber, dass der Geheimbund deine Kräfte für seine Zwecke nutzt? Fühlst du dich benutzt? Oder ist es dir egal, für wen du warum arbeitest?

An Yestin:
Du trinkst und hast sogar eine Methanolvergiftung in Kauf genommen, wegen deiner Gabe. Anscheinend empfindest du deine Visionen als sehr aversiv, richtig?
Wie siehst du deine Gabe generell - als Geschenk oder als Fluch?
Gibt es irgendwelche Situationen, in denen du froh warst, diese Gabe zu haben? Oder die für dich besser ausgegangen sind als wenn du die Gabe nicht gehabt hättest?
Du hattest eine Beziehung mit einem "starken Mann". Wodurch war diese Beziehung für dich charakterisiert? Was hat dich bewogen, sie einzugehen und weiter zu führen? Und was hat dich dazu bewogen, sie schließlich zu beenden?
Und zuletzt - du spielst den Blinden, um das Geheimnis von jemand anderem zu wahren. Warum? Wirst du gezwungen? Bekommst du einen Vorteil dadurch? Tust du es aus Sympathie? Oder einfach nur, weil es das Richtige ist?
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Maja

Vielen Dank für die Fragen! Ich werde sie alle beantworten, aber erst einmal hat sich Yestin gerade vorgedrängt:

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Du trinkst und hast sogar eine Methanolvergiftung in Kauf genommen, wegen deiner Gabe. Anscheinend empfindest du deine Visionen als sehr aversiv, richtig?
Die Vergiftung war nicht beabsichtigt, ich konnte nichts dafür, dass der Fusel gepanscht war. Also ja, natürlich wollte ich mich vergiften, aber natürlich nicht so. Hätte draufgehen können, habe Glück gehabt. Aber die Gabe - was soll ich sagen? Dass sie großartig ist? Alle meinen immer, ich könnte damit reich werden. Die Zukunft vorhersagen, klingt erstmal großartig, nicht wahr? Aber was sehe ich? Das Schicksal von Menschen. Bis zu ihrem Tod. Ich sehe sie sterben, immer wieder, andauernd. *lacht*

Niemand erwartet, dass ein Wahrsager im Zirkus die Wahrheit sagt. Ich könnte denen sonstwas erzählen, und sie würden mich trotzdem bezahlen. Aber nein, ich muss ja die echte Zukunft sehen, und dann sage ich denen das auch. Nur nicht, wie sie sterben werden. Das will keiner wissen, dann würde ich keine müde Mark mehr dafür sehen ... Aber ja, wenn ich könnte, würde ich diese Gabe loswerden. Ich kann sie nicht ausschalten. Selbst als ich blind war, habe ich noch die Zukunft gesehen! Vielleicht wäre es eine bessere Zukunft, wenn wir in einer besseren Welt leben würden, aber so, wie sie ist ... da trinke ich lieber, bis die Bilder verschwinden.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Wie siehst du deine Gabe generell - als Geschenk oder als Fluch?
Sie ist immer noch ein Teil von mir. Ich wär sie gerne quitt, aber ich wäre dann nicht mehr ich selbst. ich nehme nie den einfachsten Weg. Ich vermute, unterm Strich ist sie ein Geschenk. wenn ich sie nur dazu bringen könnte, für mich selbst zu funktionieren. So eine Vorwarnung, dass der Fusel vergiftet ist, das wär doch schon mal was gewesen, oder? Aber auch so. Sie ist schon in Ordnung. Wenn ich einmal rausfinde, wie sie mich reich macht, statt mir dauernd den Tod irgendwelcher Leute, die mich nicht mal interessieren, zu zeigen, werde ich mich auch nicht mehr drüber beschweren.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Gibt es irgendwelche Situationen, in denen du froh warst, diese Gabe zu haben? Oder die für dich besser ausgegangen sind als wenn du die Gabe nicht gehabt hättest?
Ja, sicher. Als mein Vater mich totschlagen wollte, da hab ich das vorher gewusst, da war ich weg, bevor er bei mir war. Oder wenn es mal brennt, das ist im Zirkus ja immer so ein Thema - das weiß ich, bevor es passiert. Dann kann ich alle warnen, alle rechtzeitig rausholen - ich könnte so ein Held sein, wenn die Leute nur auf mich hören würden. Bloß, es glaubt nicht jeder, dass ich wirklich die Zukunft sehe. Denken, ich spiele mich auf, oder ich bilde mir im Suff was ein. Und dann versuch ich das denen zu erklären, wenn ich nicht die Zukunft sehen würde, müsst ich nicht trinken ... Aber man kann sich nicht den Mund fusselig reden, wenn gleich der Zirkus abbrennt. Und wenn sie mir dann nicht glauben, dann sind die selbst schuld, wenn sie verbrennen. Und ich steh da und muss versuchen, die Bilder irgendwie wieder aus dem Kopf zu bekommen ...

Und Tre. Den hätte ich doch nie wiedergefunden ohne meine Gabe. Aber ich wusste, wo ich ihn wiedersehen kann, dass er in der Akademie wieder auftauchen wird, und wenn er da ist, dann bin ich auch da. Ich bin ja jetzt nicht der geborene Akademiker. Habe nie lesen gelernt, und he, blind bin ich noch dazu, zwinker-zwonker. Aber der Zirkus ist nicht mehr, was er mal war, und da nutze ich lieber meine Gabe, dass sie mir auch mal hilft, meinen Freund wiederzusehen.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Du hattest eine Beziehung mit einem "starken Mann". Wodurch war diese Beziehung für dich charakterisiert? Was hat dich bewogen, sie einzugehen und weiter zu führen? Und was hat dich dazu bewogen, sie schließlich zu beenden?
Ach, Androw. Stark wie zehn Bären und dabei so sanft, dass er keiner Fliege was zuleide tun könnte. Und ich war allein. Dreizehn, vierzehn Jahre alt, als ich zum Zirkus kam. Brauchte jemanden, der mich beschützt, jemanden, der mich lieb hat. Androw war alt genug, mein Vater zu sein, nur wollte ich keinen Vater mehr und er keinen Sohn. Aber man merkte das eben schon, das Gefälle. Dass er so alt war, oder ich so jung, und paradoxerweise habe ich das mehr gemerkt, als ich älter wurde.

Er ist nie laut geworden, hat nie die Hand gehoben gegen mich - ich, ich habe ihm Sachen an den Kopf geworfen, wenn ich getrunken habe, er hat sich das alles nur angehört und mich ins Bett gepackt - aber man kann mit einem Starken Mann nicht streiten. Ich weiß ja, wenn er wollte, könnte er mich zerquetschen wie eine Fliege. Aber irgendwann war es einfach nicht mehr das, was ich wollte. Und der Zirkus, der war auch nicht mehr der sichere Hafen, der er einmal war. Nicht, nachdem sie Tre einfach weiterverkauft haben. Ich war da in Sicherheit. Aber irgendwann ist sicher nicht mehr alles. Und so bin ich gegangen. Er weiß nicht, wo ich bin, und ich will, dass es so bleibt.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Und zuletzt - du spielst den Blinden, um das Geheimnis von jemand anderem zu wahren. Warum? Wirst du gezwungen? Bekommst du einen Vorteil dadurch? Tust du es aus Sympathie? Oder einfach nur, weil es das Richtige ist?
Ich mache das für Lula. Sie hätt das nicht tun müssen, mich heilen. Sie will nicht, dass es herauskommt, dass sie das kann. Wenn das bekannt wird ... Sie ist ein Freak, aber nicht so ein Freak. Wer so eine Gabe hat, den untersuchen sie, drüben in der Akademie1 - wie, weiß ich nicht, will ich gar nicht wissen, es reicht mir schon, dass sie es tun. Wenn der Blinde plötzlich wieder sehen kann, das wirft Fragen auf. Ich will Lula nicht ans Messer liefern, dafür, dass sie mir geholfen hat. Da spiele ich lieber den Blinden.

Ich meine, das ist ja auch der Klassiker, der blinde Hellseher. Und es macht Spaß, die Leute ein bisschen anzuführen. Ich kann mit den Dingern drin ja noch alles sehen. Und meine engen Freunde wissen, dass ich sehen kann. Aber meine Kunden, der Direktor, die sollen ruhig denken, ich bin wirklich blind. Kleiner Aufwand für mich, große Hilfe für Lula. Sowas tut man, wenn man Freunde hat.



1 An der Stelle frage ich mich, ob Yestins Auftauchen in der Akademie noch einen anderen Grund hat, als nur Tresilean wiedersehen zu wollen - ob es vielleicht auch darum geht, Lula wiederzufinden, die, nachdem ihre Gabe doch noch herausgekommen ist, zu Experimenten in die Akademie gebracht worden ist [ich würde dem Zirkusdirektor zutrauen, sie dorthin verschachert zu haben]. Geh mit der Idee mal herumspielen!

Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Maja

Nachdem ich gestern Abend zu müde für die restlichen Fragen war, kommt jetzt Tresilean an die Reihe. Es hat ein bisschen gedauert, ihm die Antworten aus der Nase zu ziehen, aber er hat zumindest ein bisschen kooperiert.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Deine Kraft hat sich früher unkontrolliert entladen - wie ist das abgelaufen? In welchen Situationen ist das passiert, und war es immer gleich oder je nach Situation verschieden stark?
Mein Elternhaus. Das Waisenhaus. Das Arbeitshaus. Immer das Gleiche. Ein Moment der Anspannung, Hilflosigkeit, Angst - und dann, Freiheit. Der Funke, der aus meinen Fingern strömt. Das Licht, das mich ausfüllt. Wenn ich das hätte steuern können, ich hätte es noch viel öfter gemacht. Nicht erst, wenn ich in die Enge getrieben war, in Panik. Wann immer ich es gewollt hätte. Ich hätte den Zirkus niedergebrannt, doppelt, dreifach - aber ich konnte es nicht steuern. Ich konnte nur fühlen, wie es in mir lebte, wie es darauf wartete, hinausgelassen zu werden, aber ich hatte den Schlüssel nicht.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Wenn du magst, erzähl mir doch vom Tod deiner Eltern. Wie war die Situation, die dazu geführt hat? Was hast du in diesem Moment gefühlt?
Ich habe gar nichts gefühlt, das war das Besondere. Keine Angst mehr. Keine Schmerzen. Einen Moment lang stand die Erde still, und in mir war dieses Gefühl von Macht, zum ersten Mal überhaupt. Und dann habe ich es losgelassen. Und dann bin ich gegangen, einfach so, die Straße hinunter. Das Haus ist abgebrannt. Sie lagen in ihren Betten, als ob nichts wäre, als wären sie die besten Eltern der Welt gewesen, als ob sie es verdient hätten zu schlafen bis zum anderen Morgen. Sie schlafen noch immer.

Ich werde das Gefühl des Friedens nie vergessen in dem Moment, in dem ich losgelassen habe. Ich bereue nichts. Sie waren keine guten Eltern, nicht zu mir. Sie waren nur ... Vielleicht waren sie besser als das, was danach gekommen ist. Die anderen Familien. Das Waisenhaus. Und so. Aber am Ende ... am Ende hat es mich hierher gebracht. Wenn sie damals nicht gestorben wären, ich hätte dort bleiben müssen. So ist es besser. Sie fehlen nicht. Mir nicht, der Welt nicht. Aber wenn ich dort eingegangen wäre - dann würde ich jetzt fehlen.

Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Und wie fühlt es sich im Vergleich dazu jetzt an, wenn du deine Kraft gezielt einsetzt?
Ich muss mich nicht mehr hilflos fühlen. Ich muss keine Angst mehr haben. Mein Funke, jetzt, ist ein kalter Funke. Ich kann ihn aus der Ruhe heraus entfesseln - das ist ein anderes Gefühl, eine Macht, die ich planen kann, aber nicht mehr dieser unbändige Triumph, wenn es sich von selbst entlädt. Manchmal vermisse ich dieses Gefühl, und ich werde es nie wieder zurückbekommen. Die Zeiten ändern sich. Ich ändere mich. Ich bin kein Kind mehr. Ich kann mich kontrollieren, meinen Funken. Es gibt nicht mehr immer einen großen Knall, es brennt nicht mehr immer das ganze Haus nieder. Wenn ich will, kann ich eine Kerze entzünden, so sanft ist der Funke, wenn ich ihn lasse. Ich kann ihn in der Hand halten wie eine Kugel aus Licht, es brennt mich nicht, doch ich fühle, wie sich die Male wieder über meinen Körper ziehen, diese Muster, die ich nicht kontrollieren kann, damals wie heute.

Und dieser Moment, wo es aus mir hinausfließt - dieser glorreiche Schmerz - der ist das Beste. Der war groß, als ich ein kleines Kind war, und ist es immer noch. Wenn ich mich loslasse, wenn ich alles gebe, was ich habe - andere würden viel Geld ausgeben, das einmal erleben zu können. Suchen es in Drogen, in Sex. Ich habe das alles nicht nötig. Ich habe es in mir. Und jetzt, wo ich es steuern kann, habe ich es, wann immer ich will. Ich darf es nur nicht. Ich würde zu sehr auf mich aufmerksam machen. Auf uns. Wenn herauskommt, was ich kann ... Ich tarne mich. Warte für die wirklich großen Blitze, bis ein echtes Gewitter aufzieht, eines, das alles erklären kann. Dass es den getroffen hat oder jenen, das bleibt meine Entscheidung, aber niemand wird es je erfahren - als Kind habe ich zu viele Fragen aufgeworfen, habe Spuren hinterlassen, die ich besser nicht hinterlassen hätte. Jetzt, noch, muss ich mich verstecken. Aber nicht mehr für lange.


Zitat von: Soly am 12. September 2023, 22:07:14Was denkst du darüber, dass der Geheimbund deine Kräfte für seine Zwecke nutzt? Fühlst du dich benutzt? Oder ist es dir egal, für wen du warum arbeitest?
Wer sagt, dass ich mich besnutzen lasse? Ist es nicht genau andersherum? Ich benutze den Bund für meine eigenen Zwecke. Sie haben mich aus dem Zirkus geholt, wo ich ausgestellt worden bin wie ein Tier, sie haben mir Bildung gegeben und mich darin geschult, meine Kräfte einzusetzen, und ich habe alles mitgenommen, was mir später einmal nützen kann.

Und nein, es ist mir nicht egal, was ihre Ziele sind. Dem Funken gehört die Zukunft, und dieser Funken bin ich - ich wäre ein Dummkopf, nicht mitzuspielen, wo ich einmal im Leben eine Chance habe. Vorher, bevor sie mich befreit haben, war ich ein wehrloses Werkzeug, herumgereicht, ausgestellt - jetzt bin ich jemand. Und wenn wir einmal unsere Ziele erreicht haben, wenn wir die Stadt von Rauch und Dampf bereinigt haben, werden auch alle anderen wissen, wer ich bin. Was ich kann. Und dann sehen wir, wer das Werkzeug ist - und wer es führt.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Tasha

#4
@Soly hat ja schon unglaublich gute Fragen gestellt. Ich versuche nochmal ein paar zu ergänzen:

An Yestin:

- Wie fühlt es sich für dich an, wenn Menschen dir nicht glauben, obwohl du die Wahrheit kennst?
- Denkst du, dass du dir selbst genug bist?
- Die Beziehung mit Androw hat dir irgendwann nicht mehr gefallen und auch nicht mehr gutgetan. Kannst du benennen, was in einer Beziehung anders sein müsste, damit du dich wohlfühlst?
- welche Menschen sind dir wichtig und wie weit würdest du gehen, um sie zu beschützen?
- Gibt es etwas, das dir inneren Frieden und Ruhe bringt?


An Tresilean:

- wie fühlt es sich an, wenn du deine Kraft einsetzt? Hast du ein Gefühl von Macht oder Wut oder ist es anders?
- Wie hättest du nach dem Tod deiner Eltern gern gelebt? Gibt es in dir den Wunsch nach Familie und Heimat oder ist der nicht besonders ausgeprägt?
- Du redest darüber, wie viel dir deine Gabe bedeutet und wie viel andere dafür geben würden. Gibt es sonst noch etwas, wonach du dich sehnst? Verbindung zu anderen, innerer Frieden, Leichtigkeit? Oder verblasst das alles hinter deiner Gabe?
- Fühlt sich das Leben mit dem Geheimbund wirklich nur wie Befreiung an? Hast du nicht das Gefühl in eine andere Mühle hineingeraten zu sein?
- Gibt es etwas, das dir inneren Frieden und Ruhe bringt?
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Soly

Oh, da kam doch recht viel bei rum! Ich reagiere mal noch auf ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind.

An Yestin:
Du hast mir jetzt davon erzählt, wie du deinem Vater entkommen konntest und wie du die Leute im Zirkus vor einem Brand retten konntest - jedenfalls die, die dir geglaubt haben. Das sind zwei Situationen, in denen du deine Gabe als nützlich empfunden hast, aber in beiden Fällen hast du dadurch eher etwas Schlechtes vermeiden können. Die einzige Situation, von der du erzählt hast, in der du durch die Gabe etwas Gutes hast erreichen können, war, als du Tre wiedergefunden hast. Und du klingst gleich sehr viel begeisterter dabei, wie du diese Situation beschreibst.
Außerdem sagst du, du beschützt Lula, weil man so etwas tut, wenn man Freunde hat. Ich habe den Eindruck, dass diese beiden dir sehr wichtig sind. Androw scheint dir dagegen nicht mehr so wichtig zu sein, weil er nicht mehr das war, was du brauchtest.
Was würdest du sagen - was ist es, was Tre und Lula von all den anderen Menschen in deinem Leben unterscheidet? Was sind sie für dich? Was bedeuten sie dir? Gibt es etwas, das du dir von den beiden wünschst, das sie dir geben?

Und: Du sagst, wenn du herausfindest, wie deine Gabe dich reich macht, beschwerst du dich nicht mehr. Geht es dir dabei tatsächlich um Reichtum und Gewinn für dich? Oder wäre es für dich gleichwertig, wenn du damit etwas Gutes für andere erreichen kannst?
Was müsste passieren, damit du deine Gabe auf diese Weise nutzen kannst, ohne die Visionen von Toden zu haben?


An Tresilean:
Du sagst, du liebst dieses Gefühl von Macht, wenn der Funke aus dir herausbricht, und du vermisst es, weil es nicht mehr so stark ist, seit du es kontrollieren kannst.
Was genau macht für dich dieses Gefühl aus? Ist es mehr die Freiheit, weil sich buchstäblich angestaute Spannung entlädt? Oder ist es die Macht, die du über das Leben anderer Menschen hast?
Wenn du den Geheimbund für deine Zwecke benutzt, spürst du dann auch eine Art von Macht? Ist das vergleichbar?
Du sagst, du musst dich verstecken, aber nicht mehr lange. Wie fühlt es sich für dich an, dich hinter einem Gewitter zu tarnen? Warum glaubst du, das bald nicht mehr zu müssen?
Und was wirst du tun, wenn du dich nicht mehr verstecken musst?

Wer ist Yestin für dich? Wie würdest du die Beziehung beschreiben, die ihr zueinander habt?
Wenn du wählen müsstest zwischen einem Leben im Verstecken mit Yestin, und einem Leben ohne Verstecken und ohne Yestin, wie würdest du dich entscheiden?
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Maja

Oh, so viele tolle neue Fragen! Ich gehe die mal von oben nach unten durch und schaue, wie viel die beiden jetzt von sich preisgeben mögen! :vibes:

Wieder macht Yestin den Anfang.

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Wie fühlt es sich für dich an, wenn Menschen dir nicht glauben, obwohl du die Wahrheit kennst?
Manchmal ist das frustrierend, aber ich bin dran gewöhnt. Ich würde mir wahrscheinlich auch nicht glauben wollen. Dann wieder - warum stellen sich die Leute bei einem Wahrsager an, zahlen Geld dafür, wenn sie das Ergebnis gar nicht glauben wollen? Sie wollen etwas spektakuläres hören, von der großen Liebe, großen Reichtümern, die sie ihr erwarten. Aber die Wahrheit ist doch, sowas bekommen die wenigsten. Sie schuften sich in ihren Fabriken platt, bis sie tot umfallen oder der Kessel explodiert. Oder sie bekommen auf der Straße eins übergebraten. Will keiner hören. Ruan [der Zirkusdirektor, Anmerkung des Autors] sagt immer, ich soll meine Antworten ein bisschen aufhübschen, ausschmücken, damit die Leute wiederkommen.

Darum arbeite ich mit den Tarotkarten. Das gibt dem Ganzen ein bisschen was Mystisches. Ich sehe, was ich sehe, und ziehe die Karten, die dazu passen - deswegen sind die gezinkt, ich überlasse sowas doch nicht dem Zufall! Dann ein paar blumige Worte, alles ein bisschen hübsch verpacken, und hoffen, dass sie wiederkommen oder mich weiterempfehlen, damit Ruan zufrieden ist. Aber wenn die Leute gehen, lachen sie, als hätte ich einen guten Witz gemacht. Sie glauben mir noch nicht mal das. Lustigerweise, seit sie denken, dass ich blind bin, glauben sie mir eher als früher. Weil ich Sachen weiß, die ein Blinder nicht sehen könnte. Da, wo ich ihnen was vormache, da glauben sie mir. Vielleicht wär es mir umgekehrt lieber? Nein, ich denke nicht. Hätt mich ja genauso gut in eine Fabrik stellen können und meine Gabe ignorieren. *schüttelt sich* Da bin ich doch zehnmal, hundertmal lieber Wahrsager!

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Denkst du, dass du dir selbst genug bist?
Das ist eine seltsame Frage. Mir selbst genug? Die meiste Zeit über bin ich mir selbst zu viel, denke ich. Bisschen weniger ich wäre vielleicht bisschen weniger anstrengend. Oder heißt das, ob ich mit mir zufrieden bin? Ich habe mir nicht viel vorzuwerfen, das nicht. Habe mehr Leben gerettet als verdammt. Ich sollte besser schlafen können, als ich es wirklich tue. Sollte wahrscheinlich auch die Finger vom Fusel lassen, so als Langzeitziel, dann würde ich wahrscheinlich auch besser schlafen. Aber ... nein, ich glaube, die Frage übersteigt mich gerade. Ich mache mehr für andere als für mich, deswegen kann ich das nicht richtig beantworten gerade.

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Die Beziehung mit Androw hat dir irgendwann nicht mehr gefallen und auch nicht mehr gutgetan. Kannst du benennen, was in einer Beziehung anders sein müsste, damit du dich wohlfühlst?
Ich fürchte, ich klinge jetzt nicht besonders romantisch, aber ich wäre froh über eine Beziehung mit etwas weniger Rumgebrülle - und dabei war ich derjenige, der rumgebrüllt hat, nicht Androw. Aber er war mir zu gelassen, immer so überlegen, ich konnte machen, was ich wollte, und er hat immer nur gelächelt - da fühlt man sich irgendwann nicht mehr ernstgenommen. Ich will einen Partner, der zurückhaut, ohne dass ich Angst haben müsste, dann an der Wand zu kleben. Der auch mal ein bisschen laut wird, damit ich selbst ein bisschen leiser sein kann. Etwas, das nicht so ein Gefälle hat zwischen unseren Kräften - und jemand, der mehr so in meinem Alter ist, damit wir uns auf Augenhöhe begegnen können.

Klingt das jetzt zu viel verlangt? Oder zu wenig? Androw war meine erste Beziehung, und die meiste Zeit habe ich mich mit ihm doch sehr wohl gefühlt, sehr sicher. Ich musste keine Angst vor ihm haben. Aber ich denke, dass man keine Angst vor seinem Partner haben muss, sollte kein Ziel sein, sondern das Mindeste. Jetzt ... ich lasse es drauf ankommen. Suche gerade nicht die ganz große Liebe. Hätte zu viel Angst, die zu ruinieren. Androw war zu gut für mich. Ich, wenn ich getrunken habe, ich werde unangenehm. Ich brauche einen, der auch seine Schattenseiten hat, damit das ausgeglichen ist. Einen, den ich genauso oft hassen kann wie lieben, weil das umgekehrt genauso gelten muss.


Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- welche Menschen sind dir wichtig und wie weit würdest du gehen, um sie zu beschützen?
Ganz plump gesagt, ich würde alles tun, was in meiner Macht steht. Jetzt habe ich nicht so entsetzlich viel Macht - aber wenn es drauf ankommt, reiße ich mir buchstäblich den Arsch auf. Gut, ich denke, das würde jeder andere auch so sagen. Wenn man Freunde hat, geht man mit ihnen und für sie durch dick und dünn. und im Zirkus - das ist wie eine große, dichtgestrickte Familie. Wir haben uns nicht immer alle lieb, aber wir halten zusammen. Die Freaks aus dem Tingeltangel - wir wissen, dass wir anders sind als die da draußen, das schmiedet uns zusammen. Leute wie Tre, oder Lula, oder Androw - die einen werden da reingeboren, andere kommen erst später dazu, aber es ist egal, wenn du einmal da bist, gehörst du dazu. Je lauter die da draußen über einen lachen, desto enger schmiedet das einen zusammen.

Außerhalb des Zirkus muss ich immer aufpassen. Darf keinen wissen lassen, dass ich auf Männer stehe, dass ich die Gabe habe - im Zirkus war ich immer sicher. Aber man will nicht immer sicher sein. Man muss sich irgendwann auch wieder nach draußen wagen. Und Ruan hat Sachen gemacht - da war der Zirkus auch nicht mehr das, was er mal war, und die anderen, ohne Tre, ohne Lula - auch irgendwie nicht mehr das Gleiche. Und jetzt muss ich sehen, wie ich zurechtkomme, außerhalb der Zelte. Gibt es noch jemanden, der mich beschützen würde? Oder muss ich das jetzt selbst tun?

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Gibt es etwas, das dir inneren Frieden und Ruhe bringt?
Einfach einmal im Arm gehalten werden, einen Menschen haben, in den man sich blind hineinfallen lassen kann - das ist ein schöner Moment. Oder wenn man trinkt, der Moment, wo die Welt an den Ränden auszufransen beginnt und alles klein und unwichtig wird. Das ist der Moment, wo man eigentlich aufhören müsste. Ist aber schwerer gesagt als getan, meistens trinkt man dann ja doch weiter, und dann hört es auf, schön zu sein, Aber ansonsten ... Ich habe nicht so viel inneren Frieden und Ruhe in meinem Leben. Weiß nicht, ob ich groß danach suche. Vielleicht, wenn die Bilder in meinem Kopf alle einmal schweigen. Wenn ich jemanden treffe, dessen Schicksal ich nicht sehen kann. Das wäre schon mal was!

Aber meistens geht es in mir ja drunter und drüber im Kopf. So viele Leute, so viele Schicksale ... Ich sehe immer alles auf einmal. Andere, andere sehen nur die Gegenwart. Oder sie hängen in der Vergangenheit fest, was auch nicht schön ist. Ich bin so sehr voll von Zukünften, dass ich für die Vergangenheit gar keine Zeit habe. Ich kann das, was passiert ist, loslassen, das ist auch schon mal was. Ich bin niemandem lange böse - nicht mir selbst, was gut ist, nicht anderen Leuten. Wahrscheinlich nicht mal meinem Vater, aber den habe ich sowieso so gut wie vergessen inzwischen. Und ich bin furchtlos. Angst ist ja nur, wenn man nicht weiß, was passieren wird. Ich weiß das. Ich habe keinen Grund, mich zu fürchten. Selbst wenn ich meine eigene Zukunft nicht kenne, seh ich ja doch das drumherum. Also, ich weiß, ich bin halbwegs verkorkst. Aber es könnte schlimmer sein.



Tresilean:

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- wie fühlt es sich an, wenn du deine Kraft einsetzt? Hast du ein Gefühl von Macht oder Wut oder ist es anders?
Macht, denke ich, trifft es ganz gut. Das Gegenteil von Ohnmacht. Und ich war zu oft und zu lange ohnmächtig. Es klingt immer so negativ, wenn jemand sagt, dass er Macht liebt, aber es ist nur ehrlich, nicht wahr? Wer ist schon gern ohnmächtig? Aber in der Hand zu haben, dass man nicht mehr ausgelacht wird, nicht mehr geschlagen, nicht mehr auf kommando schuften muss, sondern selbst derjenige zu sein, der sagt, wo es langgeht ... Mit Wut, denke ich, hat das weniger zu tun. Ich bin kalt in mir drin. Wut kenne ich natürlich, aber ich nehme sie als Ohnmacht und Hilfloskigkeit wahr, das ist kein gutes Gefühl, nichts, woraus ich Kraft schöpfen möchte. Ich bin am Besten, wenn alles in mir still ist. Und dann, wenn niemand damit rechnet, den Funken entfachen. Das gefällt mir.

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Wie hättest du nach dem Tod deiner Eltern gern gelebt? Gibt es in dir den Wunsch nach Familie und Heimat oder ist der nicht besonders ausgeprägt?
Ich hatte den Tod meiner Eltern nicht geplant, mir keine Gedanken darüber gemacht, was danach kommen sollte. Ich war acht Jahre alt. Sowas plant man nicht, nicht in dem Alter. Alles, was ich gewollt hätte, wäre meine Ruhe gewesen. Aber ich bin herumgereicht worden. Als Arbeitskraft. Ein Mund, den es zu füttern galt. Eine Last. Jemand, der arbeiten muss, um ein Recht auf Leben zu haben. Vielleicht hätte ich gern einfach nur gelebt. Wäre einfach nur ein Kind gewesen.

Familie hatte ich mehr, als mir lieb sein kann, aber keiner von denen wollte mich wirklich haben. Wenn es das ist, was eine Familie ausmacht, kann ich darauf verzichten. Auch Heimat - was ist Heimat, die Stadt? Sie fühlt sich nicht wie eine Heimat an. Die Stadt, das sind nur hohle Gebäude, und die Menschen darin ... Ich weiß, dass ich sie mit einem Fingerschnipsen zerstören könnte, Blitz um Blitz um Blitz, es würde immer den Richtigen treffen. Manchmal, ganz selten, habe ich jemanden gefunden, der mein Freund sein wollte. Einfach so, ohne etwas von mir zu verlangen, ohne eine Gegenleistung zu verlassen. Diese Menschen haben mir, damals, viel bedeutet. Heute habe ich sie nicht mehr so sehr nötig. Aber ich vergesse nicht. Und es wird der Moment kommen, da werde ich mich erkenntlich zeigen, und sie können sich freuen, im entscheidenden Moment meine Freunde gewesen zu sein.

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Du redest darüber, wie viel dir deine Gabe bedeutet und wie viel andere dafür geben würden. Gibt es sonst noch etwas, wonach du dich sehnst? Verbindung zu anderen, innerer Frieden, Leichtigkeit? Oder verblasst das alles hinter deiner Gabe?
Hinter dieser Gabe verblasst alles. Jetzt, wo ich sie zu meiner Verfügung habe, bin ich mir selbst genug. Verbündete sind wichtiger als Freunde. Freunde können unberechenbar sein, auf Verbündete kann man sich verlassen. Früher, als ich noch machtlos war, waren meine Freunde ein Lichtblick in meinem Leben, aber ich habe das nicht mehr so nötig. Meinen Frieden habe ich in mir gefunden, ich kann ihn fühlen, wenn ich einen Blitz festhalte, dieser Moment, bevor ich ihn loslasse. Da hat die ganze Welt kein Gewicht. Und ich habe es in meiner Hand, die Macht über Leben und Tod. Das entschädigt für alles, was ich in meinem Leben einstecken musste. Wenn ich die Gabe nicht hätte - ich wäre niemand. Natürlich ist sie mir die Welt.

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Fühlt sich das Leben mit dem Geheimbund wirklich nur wie Befreiung an? Hast du nicht das Gefühl in eine andere Mühle hineingeraten zu sein?
Es ist eine Herausforderung, aber eine, der ich mich gewachsen fühle. Zugegeben, manchmal ist es auch nur eine andere Form von Freakshow. Damals haben sie mich wegen meinen Malen angestarrt - und die waren die Hälfte der Zeit über auch noch nur aufgemalt! - heute starren sie mich an wegen meiner Gabe, studieren mich, versuchen, zu ergründen, wie sie die für ihre Zwecke nutzen können. Aber damals haben sie über mich gelacht, und heute fürchten sie mich, das ist der Unterschied. Ich werde lieber gefürchtet als ausgelacht.

Wie es jetzt weitergeht? Fragt Yestin. Ich kann die Zukunft nicht sehen. Ich weiß aber, das ich alles erreichen kann, wenn ich es nur will. Meine Gabe, mein Wille, das geht Hand in Hand, das eine gibt es nicht mehr ohne das andere. Ich fürchte es nicht, die ganze Stadt brennen zu sehen. Wo gehobelt wird, müssen Späne fallen. Ich war zu lange ganz unten. Es geht nur noch aufwärts für mich. Und mit dem Bund habe ich Menschen an der Hand, die an mich glauben, an den Funken, an meine Macht. Sie wissen, ohne mich wären sie nichts. Und sie wissen auch, dass ich das weiß.

Zitat von: Tasha am 13. September 2023, 11:34:55- Gibt es etwas, das dir inneren Frieden und Ruhe bringt?
Dieser Moment, nachdem ein Blitz eingeschlagen hat - dieser Augenblick der völligen Stille, nach dem großen Knall und vor dem Knistern der Flammen, wenn der Schmerz nachlässt und die Fingerspitzen taub sind nach all dem Kribbeln - den möchte ich festhalten können. Der ist alles wert. Überhaupt, Stille. Wenn niemand mehr herumschreit. Wenn niemand mehr schwätz. Wenn alles Lachen plötzlich verstummt. Ich bin kein lauter Mensch, und ich mag es still. Wenn ich der letzte Mensch auf Erden wäre, ich weiß nicht, ob ich dann den Rest der Menschheit vermissen würde, oder ob ich dann da wäre, wo ich immer hinwollte ... Aber ich muss nach meinem Frieden meistens nicht lange suchen. Ich trage ihn in mir. Und ich kann ihn herausholen, wann und wo immer ich ihn brauche.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Maja

Jetzt komme ich zu den weiteren Fragen von @Soly. Langsam werden Dinge klarer!

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Du hast mir jetzt davon erzählt, wie du deinem Vater entkommen konntest und wie du die Leute im Zirkus vor einem Brand retten konntest - jedenfalls die, die dir geglaubt haben. Das sind zwei Situationen, in denen du deine Gabe als nützlich empfunden hast, aber in beiden Fällen hast du dadurch eher etwas Schlechtes vermeiden können. Die einzige Situation, von der du erzählt hast, in der du durch die Gabe etwas Gutes hast erreichen können, war, als du Tre wiedergefunden hast. Und du klingst gleich sehr viel begeisterter dabei, wie du diese Situation beschreibst.
Es ist ja auch ein Unterschied, ob etwas Schlimmes passiert oder etwas Schönes. Wobei ich nicht weiß, ob sich Tre über das Wiedersehen so sehr gefreut hat wie ich - ich glaube, es hat ihn etwas überrumpelt, er hatte nicht damit gerechnet, mich nochmal wiederzusehen, während ich ihn nur im richtigen Moment abpassen musste. Wie gut das jetzt also für Tre war, kann ich nicht sagen, aber mich hat es schon sehr gefreut.

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Außerdem sagst du, du beschützt Lula, weil man so etwas tut, wenn man Freunde hat. Ich habe den Eindruck, dass diese beiden dir sehr wichtig sind. Androw scheint dir dagegen nicht mehr so wichtig zu sein, weil er nicht mehr das war, was du brauchtest.
Was würdest du sagen - was ist es, was Tre und Lula von all den anderen Menschen in deinem Leben unterscheidet? Was sind sie für dich? Was bedeuten sie dir? Gibt es etwas, das du dir von den beiden wünschst, das sie dir geben?
Es ist nicht so, dass ich Androw nicht manchmal vermissen würde. Die Geborgenheit, die er mir gegeben hat, die fehlt mir - mehr als er selbst, vermute ich, und deswegen war es die richtige Entscheidung, ihn zu verlassen.

Lula - ich werde nie vergessen, was sie für mich getan hat, und welches Riskiko sie dafür eingegangen ist. Ich war zwei Wochen lang blind und darauf gefasst, das bis zum Ende meines Lebens zu sein, und dann ist sie zu mir gekommen und hat mich geheilt, einfach so. Sie ist auch jemand, mit dem man echt über alles reden kann, sie hört zu, aber nicht nur das, sie gibt auch zurück, sie erzählt von sich selbst - ich bewundere sie dafür, wie offensiv sie sie selbst ist. Sie hätte sich auch einfach rasieren können und ein normales Leben leben, sie hätte es in der Hand, etwas anderes zu machen, als sich im Tingeltangel anstarren zu lassen, aber sie trifft ihre Entscheidungen und zieht sie durch. Ich weiß, wie sehr es an ihr nagt, dass sie ihre Gabe verstecken muss. Sie könnte so vielen damit helfen und darf es nicht, weil sie ihr eigenes Leben damit in Gefahr bringt. Und doch hat sie mir geholfen. Ich glaube, das bedeutet ihr selbst fast so viel wie mir. Sie ist einfach eine sehr gute Freundin, über die Familienbande innerhalb der Freaks hinaus.

Tre - das ist nochmal etwas anderes. Als er ankam, dieser verlorene kleine Junge, wusste ich gleich, dass er anders ist als der Rest. Auch anders als die anderen Freaks. Er will nicht dazugehören und tut es zugleich doch, aber ich wusste, sein Schicksal liegt nicht im Zirkus. Die beiden Karten, die ich für ihn gezogen habe, sind der Magier und der Turm, Perfektion und Zusammenbruch. Meine eigenen Karten, übrigens, sind der Gehängte und das Rad des Schicksals. Habe ich mir selbst ausgesucht. Aber Tre - erst war er einfach jemand, der Hilfe gebraucht hat, einen Freund, und er ist einfach in meiner Nähe geblieben, und es hat ihm gutgetan, und mir, dass er da war. Hat bei mir im Wahrsagezelt unter dem Tisch gesessen, unter dem Tischtuch, wo ihn keiner sehen konnte, und wenn gerade kein kunde da war, haben wir geredet.

Er redet nicht mit vielen, aber mit mir hat er das getan. Er war ja nicht lange im Zirkus, bis Ruan ihn an diesen Kapuzentypen verschachert hat, aber nachdem er weg war, hat einfach etwas gefehlt. Ich hab weniger getrunken in der Zeit, einfach weil ich mit meinen Kunden nicht mehr so allein war und jemanden hatte, mit dem ich über die Sachen, die ich gesehen habe, reden konnte. Ich habe ihm zum Abschied meine Karten geschenkt, und als ich ihn wiedergetroffen habe, hatte er die immer noch, und immer noch bei sich. Er hat sich verändert, in der Zwischenzeit, mehr als ich, würde ich vermuten, aber er ist immer noch ein Freund.

Was wünsche ich mir von ihm, oder von Lula? Ich weiß nicht - muss ich mir etwas wünschen? Freundschaft ist doch über das, was man gibt, nicht das, was man rausbekommt. Und ich habe von den beiden schon so viel bekommen, einfach indem sie sind, was sie sind. Wir drei, die wir mit einer Gabe geboren sind - ich wüsche uns dreien, dass wir uns damit nicht mehr verstecken müssen.

*seufzt* Doch nicht so, wie Tre sich das vorstellt. Ich bin ja auch dafür, dass sich die Dinge ändern. Aber wenn er die Stadt in Schutt und Asche legen will, werde ich ihn aufhalten. Er ist mein Freund. Man muss Freunden auch sagen können, wenn sie zu weit gehen. Ich kenne sein Schicksal und meines nicht. Das, was ich sehe, erscheint in Stein gemeißelt. Und trotzdem werde ich es versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Und wenn es das letzte ist, was ich tue - wahrscheinlich ist es das dann wirklich - ich werde versuchen, ihn aufzuhalten. Das bin ich ihm schuldig.

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Und: Du sagst, wenn du herausfindest, wie deine Gabe dich reich macht, beschwerst du dich nicht mehr. Geht es dir dabei tatsächlich um Reichtum und Gewinn für dich? Oder wäre es für dich gleichwertig, wenn du damit etwas Gutes für andere erreichen kannst?
Was müsste passieren, damit du deine Gabe auf diese Weise nutzen kannst, ohne die Visionen von Toden zu haben?
Ach, Geld wäre nett, aber das ist es wirklich nicht, worum es mir geht. Sonst könnte ich den ganzen Tag an der Rennbahn herumhängen und auf die Windhunde wetten, ich weiß ja schon, wie es ausgeht. Ich habe das ein, zweimal gemacht, und es ödet mich an. Es ist einfach nur Geld, ich hab es gebraucht, um an die Akademie zu kommen, und es ist schön, nicht mehr so arm zu sein. Aber es entschädigt mich nicht für meine Gabe. Nicht mal als Schmerzensgeld. Meine Gabe und ich, das bleibt eine Hassliebe, egal wie arm oder reich ich bin.

Etwas Gutes tun mit der Gabe - dafür ist sie da, nicht wahr? Nicht, um irgendeinem Hansel zu sagen, wen der einmal heiraten wird, aber um zu wissen, dass Tre dabei ist, die Stadt zu zerstören. Und das zu verhindern. Die Stadt wird es mir nicht danken, das tut sie nie. Ich mag die Stadt ja noch nicht mal. Aber trotzem. Retten muss man sie trotzdem.

Ich habe so viele Leute sterben sehen, und so viele davon auf die gleiche Weise - durch Tre und seine Gabe. Schon bevor ich ihn das erste Mal getroffen habe. Ich wusste, dass er es ist, als er dann vor mir stand. Und trotzdem mochte ich ihn, von Anfang an. Er weiß nicht, was ich gesehen habe. Er versteht nicht, in was er sich da hat reinziehen lassen, was er im Begriff ist zu tun. Er ist so oft verletzt worden, er will der Welt diesen Schmerz zurückgeben - nur, das ist nie der richtige Weg, Schmerz mit Schmerz vergelten. Wenn ich auch nur einen Tod, den ich gesehen habe, verhindern kann, dann kann ich wieder schlafen. Dann weiß ich, sie können alle leben. Dann bin ich mit mir im Reinen. Aber wenn ich mir einen aussuchen könnte, den ich retten will - dann ist das Tre. Vor sich selbst.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Maja

Hier kommen dann auch die Antworten von Tresilean:

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Du sagst, du liebst dieses Gefühl von Macht, wenn der Funke aus dir herausbricht, und du vermisst es, weil es nicht mehr so stark ist, seit du es kontrollieren kannst.
Was genau macht für dich dieses Gefühl aus? Ist es mehr die Freiheit, weil sich buchstäblich angestaute Spannung entlädt? Oder ist es die Macht, die du über das Leben anderer Menschen hast?
Es ist alles. Es ist Macht, und Freiheit, und die Möglichkeit, ich selbst zu sein - es ist das Gefühl, das Leben eines anderen Menschen zwischen zwei Fingern zu fühlen, und ich müsste nur schnipsen, um über Leben und Tod zu entscheiden. Es ist die Spannung, die sich entlädt - jeder hat Angst im Gewitter, und doch liebt es jeder, weil es vorher so unerträglich ist. So ist das mit meiner Gabe. Jeder fürchtet sie - und jeder soll sie fürchten - und doch versteht jeder, wie großartig sie ist.

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Wenn du den Geheimbund für deine Zwecke benutzt, spürst du dann auch eine Art von Macht? Ist das vergleichbar?
Ja, natürlich. Ich habe Macht durch den Bund, und ich habe Macht über den Bund, und in der Kombination ist es etwas Großes, das mir niemand wegnehmen kann.

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41u sagst, du musst dich verstecken, aber nicht mehr lange. Wie fühlt es sich für dich an, dich hinter einem Gewitter zu tarnen? Warum glaubst du, das bald nicht mehr zu müssen?
Und was wirst du tun, wenn du dich nicht mehr verstecken musst?
Es gehört zu den Schattenseiten von Geheimbünden, dass sie gezwungen sind, im Geheimen zu operieren. Unsere Stunde wird kommen, der Siegeszug des Funken über den Dampf, es wird eine Zeit kommen, in der diese schnaufenden, stinkenden Maschinen nur noch ein Zeugnis der Vergangenheit sind und man wieder saubere Luft atmen wird, in der Maschinen mit der Macht des Blitzes angetrieben werden, und sie werden zu mir aufsehen und mich bewundern und mir danken dafür, dass ich meinen Funken mit der Welt geteilt habe. Aber noch ist es nicht soweit. Noch muss ich mich mit meiner Gabe verstecken - es ist nicht nur mein Leben, das daran hängt, sondern auch das meiner Verbündeten, ich bin verantwortlich für den Bund und seine Mitglieder, weil niemand dort kann, was ich kann, weil der Bund ohne mich buchstäblich aufgeschmissen ist und eine gute Idee ohne mich verloren.

Wenn ich mich einmal nicht mehr verstecken muss - dann werde ich mir all diejenigen vornehmen, die mich jemals misshandelt haben. All diejenigen, die im Zirkus mit den Fingern auf mich gezeigt haben und gelacht. Und diesmal werde ich lachen. Nicht laut, das habe ich nicht nötig. Aber ich werde niemanden verschonen. Und sie werden sich noch wünschen, mir Respekt gezollt zu haben, damals, als ich noch nicht der Herr über Leben und Tod war.

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Wer ist Yestin für dich? Wie würdest du die Beziehung beschreiben, die ihr zueinander habt?
Yestin war mein Freund, als das, was ich am dringendsten brauchte, ein Freund war. Das werde ich ihm nicht vergessen, und ich wünschte, ich könnte ihn verschonen. Aber er ist auch von allen Menschen, allen Menschen auf der Welt, derjenige, der mir am gefährlichsten werden kann. Er weiß, was ich tun werde - und kaum, dass ich aus meinem Versteck gekommen bin, ist er da, als wollte er keinen Zweifel daran lassen, dass er über mich Bescheid weiß. Ich werde ihn nie vergessen. Selbst wenn ich ihn töten muss, um mich und mein Geheimnis zu schützen.

Aber wenn ich eines weiß, ist, dass ich Yestin nicht unterschätzen darf. Er ist nicht irgendein Zirkusclown. Er ist klug, zumindest wenn er nüchtern ist, er hat nur diese Schwäche, dass er sich an anderen Leuten zu sehr aufreibt. Er sieht Menschen sterben, ich töte Menschen - wem von uns beiden macht das etwas aus? Jeder stirbt irgendwann, dafür muss ich kein Hellseher sein. Trotzdem, ich habe ihn immer als meinen Freund gesehen. Wahrscheinlich ist er der Grund, dass ich den Zirkus nie niedergebrannt habe. Nicht, weil er mich verraten hätte - das hätte er nicht, er hält zu seinen Freunden - und nicht, weil er versucht hätte, die Leute zu warnen und ich es darum auch ganz hätte sein lassen können. Aber weil ihm der Zirkus so viel bedeutet hat, dass ich ihm den nicht hätte wegnehmen wollen.

Aber er hat mir schon gefehlt, das muss ich zugeben. Ich habe seine Tarotkarten geerbt - also, er lebt natürlich noch, er hat sie mir geschenkt. Manchmal ziehe ich zwei und überlege, was sie mir sagen sollen. Das ist nicht das gleiche, als wenn er das getan hätte. Er redet zu viel, er trinkt zu viel, dann redet er noch mehr, dann fängt er an, herumzuschreien - ich mag keine lauten Leute, aber bei ihm ist das anders. Vielleicht, weil er auch eine Gabe hat, versteht er mich besser als andere. Es ist natürlich eine völlig andere Gabe. Und er hat nie gelernt, sie zu kontrollieren. Sie ist bei ihm immer an, er kann nicht filtern - es ist kein Wunder, dass er trinkt. Es wird mir wirklich leid um ihn tun, und es hat mir noch nie um jemanden leid getan. Aber vielleicht ist es besser so. Eine Erlösung von seinen Visionen. Ich will gerne glauben, dass es so ist.

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 12:13:41Wenn du wählen müsstest zwischen einem Leben im Verstecken mit Yestin, und einem Leben ohne Verstecken und ohne Yestin, wie würdest du dich entscheiden?
Ich bin das Verstecken leid - aber das Gegenteil, das Ausgestelltwerden, ebenso. Ich möchte die Kontrolle darüber haben, was ich von mir zeige und was nicht. Das ist mir wichtiger als die Frage, ob Yestin dabei ist oder nicht. Ich hatte eine schöne Zeit mit ihm in einer Situation, in der es mir ansonsten schäbig ging, aber als ich dann da rausgeholt wurde und eine bessere Zeit hatte, bin ich auch wieder gut ohne ihn ausgekommen. Eine Welt, in der wir einfach nur Freunde sein könnten - oder von mir aus auch mehr als das, jetzt, wo er sich von Androw getrennt hat - wäre schön. Ist aber utopisch. Ich muss meine persönlichen Freundschaften meinen Zielen unterordnen, die Welt ist wichtiger als der einzelne, der Funken größer als der Mensch.

Und ich ahne, dass wir auf unterschiedlichen Seiten stehen. Das ist bedauerlich. Yestin ist ein feiner Mensch. Ich habe ihn gern, und ich habe eigentlich niemanden gern. Wenn er sich uns anschließen würde - sicherlich hat der Bund auch Bedarf für seine Gabe - dann hätten wir vielleicht eine Chance miteinander. Wäre das dann die Variante im Versteck, mit Yestin? Wahrscheinlich. Das würde mir gefallen. Aber es wird nicht passieren. Yestins Gabe ist dem Bund nützlich, aber seine Schwächen machen ihn unzuverlässig, er ist zu weich und würde an unseren Zielen zerbrechen. Ich werde mich an der Vorstellung festhalten, dass wir in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, glücklich miteiandner geworden wären. Ich habe noch nie geweint, nicht mehr, seit ich acht Jahre alt war. Aber um ihn werde ich weinen, wenn ich ihn töten muss. Und ich fürchte, das muss ich.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Soly

Dann fasse ich mal zusammen, was ich gerade für ein Bild im Kopf habe.

Yestin, du scheinst viel über andere Menschen nachzudenken, wegen deiner Gabe von Haus aus, aber auch darüber hinaus. Du siehst das Schlechte, das passieren wird, und du möchtest es gern verhindern, du möchtest Menschen vor Schlechtem bewahren, auch wenn du selbst gar keinen Vorteil davon hast. Du definierst dich über das, was du für andere tust, und ich habe das Gefühl, du hast Angst davor, nicht genug zu tun - dass etwas Schlechtes passiert und du es nicht verhinderst, obwohl du es könntest.
Und gleichzeitig glaube ich, dass du schon nach etwas suchst in Tre und Lula. Du suchst Geborgenheit, gehört und verstanden zu werden in dem, was du bist und was du tust. Aber du würdest niemals deine moralischen Prinzipien über Bord werfen, um das für dich zu bekommen.

Tresilean, du scheinst vor allem viel darüber nachzudenken, was du mit deiner Macht anfangen kannst. Du möchtest gesehen werden, wie Yestin, aber nicht geliebt sondern gefürchtet. Du möchtest, dass die Menschen um dich herum deine Macht mit all ihrer Tödlichkeit genauso spüren wie du sie spürst.
Du hast einen starken Sinn für Gerechtigkeit, wie Yestin, aber für dich gilt "Auge um Auge, Zahn um Zahn", du suchst Vergeltung, um Ruhe finden zu können.
Du hast Angst davor, eingesperrt zu sein und dein Potential nicht voll entfalten zu können, du willst lieber einen gewaltsamen Umbruch erzeugen als deine Macht einzuschränken. Und das ist dir wichtiger als alle Bindungen, die du hast.


Gibt es das in etwa wieder?
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Maja

Danke, @Soly, das hilft mir sehr weiter!

Zitat von: Soly am 13. September 2023, 19:23:54ibt es das in etwa wieder?
Ich glaube, bei Yestin triffst du den Nagel auf den Kopf - wobei ich sagen muss, ich glaube ihm nicht alles. Diese beiläufige Erwähnung, dass sein Vater ihn umbringen wollte, ohne in die Details zu gehen, kommt mir ein bisschen wie eine Schutzbehauptung vor, ich glaube, da ist etwas anderes passiert, über das er nicht reden möchte - überhaupt ist er sehr verschlossen über seine Vergangenheit, bevor er im Zirkus gelandet ist. Da nehme ich ihm auch nicht ganz ab, dass er wirklich mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat. Ich nehme an, da kommt noch mehr, aber ich denke, das bringe ich noch aus ihm raus, er scheint ja doch langsam Vertrauen zu fassen.

Bei Tresilean bin ich noch etwas skeptisch. Ich glaube, er hat sehr gezielt versucht, ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln - kaltblütig, berechnend, machtgeil. Da glaube ich mehr an den Jungen, der sich bei Yestin im Zelt unter der Tischdecke versteckt hat. Tresilean hat seine Traumata nie aufgearbeitet, und der Punkt, wo ich wirklich Fragezeichen vor den Augen habe, ist, ob er sich selbst wirklich mag oder ob er eine gehörige Portion Selbsthass mit sich herumträgt. Er hat den Tod seiner Eltern nie verarbeitet - er akzeptiert, dass er ein Mörder ist, und nimmt daraus die Berechtigung, auch in Zukunft über Leichen zu gehen, aber was er von sich gibt, erscheint mir alles etwas aufgesetzt, um den Effekt bedacht. Da bin ich mir noch nicht sicher, ob ich ihn wirklich nachhaltig geknackt habe.

Aber dank dir, Soly, und den Fragen von @Tasha weiß ich jetzt viel, viel mehr über mein Buch als früher. Dass Yestin Zeugnisse von Tresileans Zukunft kannte, bevor er den Jungen überhaupt das erste Mal getroffen hat, gibt ihrer Freundschaft einen interessanten Anstrich. Es zeichen sich auch Dinge über Ruan, den Zirkusdirektor, ab - der scheint, aus reiner Geldgier, mindestens zweimal seinen eigenen Zirkus in Brand gesetzt zu haben. Und offenbar hat er mit der Aufnahme Tresileans darauf gebaut, dass der dafür sorgen sollte, dass ihm der Zirkus vom Blitz getroffen wird (ich wittere Versicherungsbetrug). Er ist jedenfalls kein angenehmer Zeitgenosse, so viel weiß ich schon mal.

Ich sehe auch, dass Lula etwas zugestoßen sein muss, dass ihr Geheimnis heruasgekommen ist, und ich vermute, sie könnte auch irgendwo in der Akademie festgehalten werden. Yestin wird versuchen, sie zu befreien, ich weiß nur nicht, ob er noch rechtzeitig kommt - jedenfalls wird er dafür Tresileans Mithilfe brauchen, auch wenn das Tre von seinem Zeitplan abbringt (was genau Tre in der Akademie sucht, wird sich noch zeigen müssen - ich weiß auch noch zu wenig über seinen Geheimbund).

Überhaupt scheint Yestin eine sehr positive Figur zu sein. Ja, er ist verkorkst, aber er hat das Herz am rechten Fleck und ist sogar bereit, sein Leben zu opfern, um die Menschen der Stadt zu retten - die meisten meiner Figuren denken da deutlich selbstsüchtiger. Er neigt dazu, sich selbst auszubrennen, weil er zu selbstlos ist, und ich glaube ihm, dass er das auch wirklich ist und nicht nur versucht hat, einen entsprechenden Eindruck zu hinterlassen.

Die beiden haben ja jeweils sehr positive Sachen über den anderne zu sagen. Ich mag die Vorstellung nicht, dass sie wirklich zu Feinden werden - Friends-to-Enemies ist ein Trope, das ich wirklich hasse, und ich hatte das schon im Finale der Neraval-Sage - deswegen hoffe ich, dass sie am Ende doch am gleichen Strick ziehen werden und Tresilean nicht wirklich versuchen wird, Yestin umzubringen, sondern sie wieder Freude werden. Oder vielleicht noch mehr? Zumindest Tresilean scheint da ja nicht ganz uninteressiert zu sein - nur, ob er der ideale Partner für Yestin ist und ihm geben kann, was er braucht, weiß ich nicht. Sicherlich ein anderes Extrem als die Partnerschaft mit Androw, aber auch nicht unbedingt unter einem guten Stern ...

Danke nochmal! Jetzt habe ich jedenfalls schon mal eine Menge zum Denken und interessante Anregungen für meinen Nanowrimo-Plot.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Tasha

Ich würde gerne nochmal von jedem der beiden einen Traum hören, den sie im Schlaf geträumt haben.
Manchmal kommt man damit ja noch etwas unter die Oberfläche.
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Maja

Zitat von: Tasha am 14. September 2023, 19:34:45Ich würde gerne nochmal von jedem der beiden einen Traum hören, den sie im Schlaf geträumt haben.
Manchmal kommt man damit ja noch etwas unter die Oberfläche.
Das ist eine spannende Aufgabe! Hier meldet sich interessanterweise Tresilean zuerst:


Da ist ein Traum, den ich schon öfters hatte. Ich wache auf, und es ist dunkel, richtig schwarz, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann. Irgendwo In der Ferne höre ich stimmen, die sich streiten. Das sind meine Eltern. Ich will zu ihnen, ich will ihnen sagen, dass sie still sein sollen und mich in Ruhe lassen, aber ich kann mich nicht rühren, ich stecke in einem gläsernen Kasten, ich kann nicht weglaufen. Dann sind andere Stimmen um mich herum, sie lachen mich aus. Ich sehe noch immer niemanden, aber ich fühle die Finger, die auf mich gerichtet sind. Ich fühle mich klein und hilflos, und der Glaskasten rückt immer enger um mich zusammen, dass ich nicht mehr atmen kann. Und über allem höre ich imemr noch die Stimmen meiner Eltern. Dann zuckt ein Blitz vom Himmel, ein einzelner Blitz, er erhellt die Dunkelheit, aber niemand außer mir ist da. Der Blitz schlägt in den Glaskasten ein, und der zerspringt in tausend Stücke. Ich bin frei. Die Stimmen sind verstummt, für immer. Und alles, was ich noch tun muss, ist gehen, gehen und mich niemals mehr umsehen.
Es ist kein schöner Traum, und ich träume ihn nicht gerne, aber ich mag das Ende.



Und ich melde mich nochmal, wenn ich eine Antwort von Yestin habe!
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Tasha

Interessant und eindrucksvoll beschrieben.
Ich habe das Gefühl, dass sich Tresileans Charakter da recht gut zeigt.
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Maja

Zitat von: Tasha am 15. September 2023, 19:20:21Interessant und eindrucksvoll beschrieben.
Ich habe das Gefühl, dass sich Tresileans Charakter da recht gut zeigt.
Danke! Ja, ich hatte auch das Gefühl, dass er da endlich einmal etwas von sich und seinem Innenleben preisgegeben hat.

Was hingegen Yestin angeht ... Da habe ich die Fragestellung nicht vergessen, und ich schreibe wirklich gerne (und, meiner Ansicht nach, auch gute) Traumsequenzen - aber Yestin, ausgerechnet, stellt sich da gerade noch quer. Meint, dass er sich an seine Träume sowieso nicht erinnern kann, und dass sie keinen Eindruck auf ihn hinterlassen, weil er so mit seinen Zukunftsvisionen beschäftigt ist. Ich glaube ihm kein Wort. Ich glaube, er macht sich (und mir) da etwas vor. Und es gibt etwas in seiner Vergangenheit, das er ausblendet. Aber vielleicht schaffe ich es beizeiten ja doch noch, ihn zu knacken.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt