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Frage zu jüdischer Perspektivträgerin

Begonnen von Azora, 20. Mai 2023, 21:15:18

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Azora

Hallo Tintenzirkel,

ich habe hier schon lange nichts mehr geschrieben, aber ich würde mich sehr freuen, eure Meinung zu meinem Problem zu hören.
Ich habe ein 80% fertiges Manuskript, nennen wir es "Projekt Lea", an dem ich seit über 10 Jahren schreibe. Es ist keine Fantastik, sondern Gegenwartsliteratur mit historischen Themen, Drama, und einer Prise Surrealismus. Zwischendurch habe ich mal auch jahrelang nicht daran gearbeitet, den Hauptteil habe ich tatsächlich vor 7-10 Jahren geschrieben.
Es geht, kurz gesagt, um eine junge deutsche Jüdin - Lea (19 J.) - die mit ihrer Familiengeschichte kämpft, und auf der Suche nach ihrer Identität nach New York zieht, dort kurz in einer orthodoxen Familie lebt, wieder ausbricht, und sich dann in einen jungen Irish American verliebt, der auf seine Art mit seiner Familiengeschichte kämpft. Die beiden verlieben sich, und dann wird es strange. Lea entwickelt einen Ausschlag/Allergie/Asthma, was immer schlimmer wird je näher sich die beiden kommen. Gleichzeitig beginnt eine abstruse medizinische Behandlung, die Parallelen mit den jüdischen Festen hat, allerdings ohne dass Lea das merkt. Am Ende läuft es darauf hinaus, das sie stirbt... (sorry für den Spoiler).

Mir gefällt die Geschichte und der Text sehr, aber ich habe inzwischen ein paar Probleme damit.
Ich bin selbst nicht jüdisch. Ich habe zum Thema Holocaust-Gedächtnis promoviert und ich lebe in Israel. Ich habe also eine enge Verbindung zum Thema, aber meine Familiengeschichte liegt ganz klar auf der "Täterseite". Und ich bin mir gerade nicht so sicher, wie ich das finde, wenn ich das Thema schon aufmache, eine jüdische Deutsche zu schreiben, ohne selbst diese Erfahrung gemacht zu haben, als Jüdin in Deutschland aufzuwachsen. Klar, man schreibt nicht immer nur sich selbst, aber bei dem Thema ist es vielleicht noch mal etwas schwieriger.

Mich würden einfach mal verschiedene Perspektiven und Gedanken dazu interessieren, da ich es schwierig finde, mich mit mir selbst zu einigen.

Eine Option, die Geschichte umzuschreiben, wäre, dass Lea eben keine jüdische Deutsche ist, aber erfahren hat, dass in ihrem Elternhaus während dem WK2 ein Mädchen namens Lea - wie sie- gewohnt hat, die mit ihrer Familie im Holocaust getötet wurde. Und dass das so eine Identifikationsfigur für sie ist. Vielleicht nimmt sie sogar nach ihrem Umzug nach New York deren Identität an, und versucht sich so von ihrer tatsächlichen Familiengeschichte zu lösen. Aber das wäre eben eine ganz andere Geschichte, und das Umschreiben wäre ziemlich intensiv. Allerdings wäre diese Person familiengeschichtlich eben näher an mir dran.

Vielleicht habt ihr ja noch andere Ideen, wie man damit umgehen könnte? Oder verkompliziere ich mich da, und das ist total in Ordnung, so wie es ist?

Viele Grüße,
Lisa

Mondfräulein

Ich glaube, du könntest da von einer professionellen Beratung profitieren. Ich verstehe auch ehrlich gesagt den Plot noch nicht so recht - warum stirbt sie denn am Ende? Es klingt irgendwie, als würde sie vom jüdischen Brauchtum getötet werden? Ich würde mir zumindest nicht zutrauen, dir da irgendeinen anderen Rat zu geben, als eine Sensitivity-Beratung in Anspruch zu nehmen.  Da kannst du auch nur einen einzelnen Termin buchen und über das generelle Konzept deines Romans sprechen, ohne gleich das ganze Manuskript prüfen zu lassen.

Rotkehlchen

#2
Hallo Azora,

also ich persönlich finde es nicht schlimm, wenn du als Nicht-Jüdin über eine jüdische Protagonistin schreibst. Du hast dich immerhin mit der Thematik intensiv beschäftigt und ich wage Mal zu behaupten, dass du dich selbst nicht als "Täter" identifizierst.
Wahrscheinlich ist es für die Immersion natürlich besser, wenn du selbst diesen Glauben ausüben würdest. Ähnlich wie jemand, der über ein traumatisches Erlebnis schreibt, ohne selbst eine solche Erfahrung in seinen Leben gemacht zu haben.

Wo ich ein bisschen vorsichtig wäre, ist, wie du die Zugehörigkeit zu der Religion darstellst. Mir ist noch nicht ganz klar geworden, warum die Krankheit ausbricht. Ob sie eine psychosomatische Reaktion auf ihr neues Leben ist, ob das im Kontext zu ihren Erfahrungen aus der Vergangenenheit steht.

Was mir halt durch den Kopf geht, ist dass das ein sehr sensibles Thema ist. Wenn der Ausbruch der Krankheit irgendwie tiefenpsychlogisch auf ihre Zugehörigkeit zum Judentum begründet wird, könnte es wahrscheinlich so manchem unangenehm aufstoßen.
Wenn du die Möglichkeit hast, wäre es wahrscheinlich sinnig, mit Menschen zu sprechen, die jüdisch sind.
,,Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge."
Kurt Marti

Rotkehlchen

@Mondfräulein, was genau kann man sich unter einer Sensitivity-Beratung vorstellen? Wer macht sowas?
,,Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge."
Kurt Marti

Mondfräulein

Zitat von: Rotkehlchen am 20. Mai 2023, 23:44:37@Mondfräulein, was genau kann man sich unter einer Sensitivity-Beratung vorstellen? Wer macht sowas?

Die Website hier erklärt es besser, als ich es je könnte: https://sensitivity-reading.de/was-machen-sensitivity-reader

Letztendlich ist es eine bezahlte Dienstleistung, bei der eine Person, die einer marginalisierten Gruppe angehört und sich mit dem Thema und den Diskursen um das Thema herum beschäftigt hat und gut auskennt, dabei hilft, ein Thema sensibel und/oder authentisch darzustellen. Einerseits kann das so aussehen, dass sie das ganze Manuskript lesen und Anmerkungen geben, aber man kann zum Beispiel auch ein Beratungsgespräch buchen, um das Projekt eher auf Plotebene als auf Textebene zu besprechen.

Mir scheint die Fragestellung schon irgendwie etwas zu kompliziert, als dass ich mich trauen würde, das mit meinem Hintergrund und Erfahrungsschatz irgendwie zu beantworten. Das Thema ist ja eng mit dem Plot verwoben und ich glaube, es geht hier nicht nur um die Frage "Kann ich als nicht-jüdische Deutsche generell ein Buch über eine deutsche Jüdin schreiben?". Die Frage scheint eher zu sein, ob man das Buch in diesem konkreten Fall so schreiben sollte, und da muss man glaube ich noch viel tiefer in die Darstellung und den Plot selbst einsteigen. Ich persönlich sehe mögliche Probleme mit der ersten Variante, aber genauso mögliche Probleme mit der zweiten Variante, die ich aus dem Eingangsthread heraus nie beurteilen könnte (dafür müsste ich wirklich den kompletten Plot kennen und vielleicht sogar den Text gelesen haben) und wahrscheinlich auch generell nicht, weil ich genauso wenig einen jüdischen Hintergrund habe.

Insofern ist eine Sensitivity Beratung hier spontan das beste, was mir einfällt.

Rotkehlchen

Ahhh! Danke, @Mondfräulein!
Gut zu wissen, dass es sowas gibt. 😃

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Kurt Marti

Evanesca Feuerblut

Jüdische Person mit vielen Fragen hier. Bis zu der Stelle, an der Lea tödlich erkrankt, klingt das Ganze noch so weit okay, wenn auch Sensitivity-Reading definitiv angebracht wäre.
Und zwar idealerweise von verschiedenen Leuten für den deutschen und den US-Teil, weil ich zum Beispiel diese Darstellung gar nicht beurteilen konnte. Orthodoxes Leben in den USA ungleich das in Deutschland.
Ab der Stelle, an der sie durch Jüdische Bräuche krank wird, ist die Message allerdings deutlich feindlich. Gerade bei deinem Hintergrund wäre ich an dieser Stelle raus.
Das Problem ist nicht, dass Lea jüdisch ist. Das Problem ist, dass Jüdisch-Sein sie krank macht/ihr die Heilung verwehrt, wenn ich das richtig verstanden habe.

Volker

Zitat von: Azora am 20. Mai 2023, 21:15:18Gleichzeitig beginnt eine abstruse medizinische Behandlung, die Parallelen mit den jüdischen Festen hat, allerdings ohne dass Lea das merkt.

Wann spielt das, und weshalb sind die Behandlungen abstrus? Wegen ihres Glaubens? Beispielsweise bei Schröpfen mit Blutegeln als Behandlungsmethode wäre ich alleine schon aus nicht-religiösen skeptisch...  (wobei: die isst man ja nicht, eher im Gegenteil - da geht's schnell ins Rabbithole)

Was ist die Ursache, dass ihre Krankheit mit den Feiertagen synchronisiert?

Amanita

Was genau motiviert dich denn dazu, den Plot schreiben zu wollen, der in deiner Zusammenfassung mit "und dann wird es strange" losgeht?
Das soll jetzt keine Aufforderung sein, dass du die Antwort auf diese Frage mit dem Forum teilen musst, aber zumindest für mich erschließt sich durch diese Beschreibung nicht, was Ziel und Botschaft der Geschichte sein soll. Wenn du dir darüber selbst klar wirst, hilft dir das vielleicht bei dem bereits empfohlenen Gespräch, oder du findest schon vorher selbst einen anderen Verlauf.

Azora

Halle alle,

erst mal danke für eure Antworten.
Ok ich glaube die Darstellung des Plots war so in der Tat ziemlich verwirrend. Aber da ich gerade auch gar nicht in dem Text drin bin, befürchte ich, so richtig gut kann ich ihn gerade nicht zusammenfassen, aber ich versuche es mal:

Die Grundidee ist, dass ihre Beziehung sie krank macht, zu dem jungen Mann, den sie kennenlernt. Und das soll schon tragisch sein, weil sie nämlich eine sehr schöne Beziehung haben, und er ihr gut tut. Das war die Grundidee, die ich irgendwann mal hatte, und die kam mir aufgrund verschiedener eigener Erfahrungen. Nämlich, dass wir manchmal Dinge, die uns gut tun, einfach nicht annehmen können. Oder, dass wir so viele Wege gehen könnten im Leben, und wenn wir uns für einen entscheiden - z.B. eine bestimmte Beziehung - können wir diese anderen Wege nicht gehen. Oder auch, dass wir so stark geprägt sind von unserem Aufwachsen und unserer Sozialisation, dass wir es mitunter nicht schaffen, gute Dinge anzunehmen, bzw uns paradoxerweise sogar eigentlich "gute" Sachen schaden. Und dass vielleicht, im übertragenen Sinne, ein Teil von uns "stirbt" wenn wir eine intensive Beziehung eingehen. Die Idee war auch das so ein bisschen als Gegengewicht zu schreiben zu diesem gesellschaftlichen Trend von "du kannst alles erreichen", "sei die beste Version von dir", und diesem ganzen SElbstverwirklichungs-Gedöns. Weil manchmal geht eben nicht alles, und an einem bestimmten Punkt im Leben merkt man das auch ganz deutlich.

Das hat jetzt erstmal mit dem Jüdisch-sein nicht viel zu tun. Dass Lea jüdisch ist hatte ich so im Gefühl, als ich angefangen habe, sie mir vorzustellen. Ich habe in dieser Zeit angefangen zum Thema Holocaust-Gedächtnis zu promovieren, und habe auch u.a. viele Zeitzeugen-Berichte gelesen, und für mich wurde es immer schwerer in Deutschland zu leben. Und ich habe mir die Frage gestellt, wie sich das wohl für eine junge deutsche Jüdin anfühlt. In der Literatur gibt es da ja auch viel dazu.
Und da geht es eben auch für Lea viel um die Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die schon so lange her ist, dass sie sie nicht "direkt" betrifft, also sie es nicht erlebt hat (Buch spielt Anfang der 2000er), aber durch familiäre und kulturelle Tradierung sie eben schon sehr betrifft und formt.
Ihrem Loverboy geht es ähnlich, wenn auch deutlich weniger akut, da die irische Geschichte und die irische Immigration in die USA schon viel länger her ist. Aber sie sprechen eben viel über die Präsenz von Geschichte in der Gegenwart, und wie sie das jeweils wahrnehmen.

Diese Reise ins Jüdisch-sein und die Feste... ich bin mir gerade nicht mehr so sicher, wie gut sie mit dem Rest des Plots verknüpft ist. Das ist aber auf keinen Fall so, dass das Lea krank macht. Es ist eher so als eine Art Zirkelschluss gedacht. Sie geht da noch mal durch, durch einen Jahreskreis, und das vielleicht auch ohne es zu merken. (wobei ich leider gemerkt habe, dass das nicht so realistisch ist, dass sie in NYC nicht merkt, dass gerade ein jüdisches Fest ist. Ähem.). Aber das ist nicht der Grund, dass sie krank wird, das ist mehr so eine Art strukturierendes Element (?).
Die Behandlungen nimmt ein Arzt vor, die machen sie aber nicht krank, aber helfen eben auch nicht. Aber auch da befürchte ich jetzt gerade, dass das nicht so gut integriert ist mit dem Plot, und ich da noch mal ran muss. Vor allem um solche Missverständnisse zu vermeiden, von *was* sie eigentlich krank macht.

Die Vorschläge mit Sensitivity Readings sind natürlich gut, aber es ist wirklich schwierig da Expertise zu finden, die genau passt. Es gibt ja auch nicht die "eine" Perspektive, die dann richtig ist. Der Text ist ja auch auf deutsch. Und ein richtiges SR alleine im Vorfeld zu bezahlen, das kann ich finanziell nicht stemmen. Aber eventuell schaffe ich es ja, mir zumindest in Gesprächen, oder vielleicht im Austausch von Leistungen, mehr Expertise zu den einzelnen Themen einzuholen in meiner Umgebung.

Danke jedenfalls :)
Lisa