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Ging das nicht früher? Oder: Das Problem mit dem "falschen Zeitpunkt"

Begonnen von Feuertraum, 19. Oktober 2019, 19:56:42

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Feuertraum

Sie kennen vielleicht das "Spiel": Der (Action)Held/die (Action)Heldin gerät während der Geschichte in die eine oder andere brenzlige Situation, aus der er sich aber immer wieder mit Ach und Krach und grad so eben befreien kann, und nun, beim Showdown, wendet der Prota eine letzte Fähigkeit an und besiegt so der Antagonisten.
Yes!
Die Geschichte ist also beendet, der Leser bekommt ein Happy End geliefert und legt das Buch zufrieden zur Seite.
So dachte ich.
Inzwischen aber stelle ich mir eine andere Frage, nämlich: Wird es dem Leser sauer aufstoßen, wenn er zum krönenden Abschluss eine Fähigkeit einsetzt, aus denen er durch deren Einsatz auch problemlos aus den Situation 1,3 und 5 gekommen wäre? Dafür aber hat er stets eine andere gewählt. Eine, die vielleicht spektakulär ist.
Droht da nicht ein "Echt jetzt? Erst jetzt?"

Wie sehen Sie als Leser das?

Und wie würden Sie als AutorIn so etwas vermeiden, wenn Sie es denn vermeiden wollen?

Neugierige Grüße
Feuertraum

Was hat eigentlich He-Man studiert, dass er einen Master of the universe hat?

Gwee

Ich mag solche "Logiklücken" tatsächlich gar nicht. Ich denke, als Autorin würde ich versuchen, zu erklären, warum die Fähigkeit erst in der letzten Situation einsetzbar war. Vielleicht gibt es da ja irgendwelche Restriktionen, die mit dem Einsatz der Fähigkeit verbunden sind? Vielleicht muss der Held sich auf den Einsatz auch irgendwie vorbereiten und kann es nicht völlig spontan? Auf jeden Fall wäre es schon gut, es irgendwie zu begründen, denn es gibt ja doch aufmerksame Leser, die einem das nicht verzeihen würden.
Es ist so eine Art Obsession, glaube ich. Das Schreiben fasziniert mich so sehr,
daß, wenn es mir verboten würde, ich langsam daran sterben würde.
Johannes Mario Simmel

Ary

Ich bin da bei Gwee. Diesen "deus ex machina"-Effekt mag ich gar nicht. Dann muss es dafür schon eine wirklich gute Erklärung geben.
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

Yamuri

In einem Projekt hab ich eine ähnliche Situation, wobei der Einsatz der Fähigkeit nicht zuletzt passiert, sondern nur später. Das liegt darin begründet, dass der Charakter zum früheren Zeitpunkt schlichtweg selbst nicht weiß, dass er so eine Fähigkeit hat und dies erst herausfinden muss. Ab dem Zeitpunkt, ab dem er es weiß und die Fähigkeit nutzen lernt, benutzt er sie auch, was aber eben erst im zweiten Band passiert. Ich finde es generell auch wichtig, dass es begründet ist, wenn eine Fähigkeit erst später eingesetzt wird. In meinem Fall ist es so, dass die Fähigkeit zu früheren Zeitpunkten unkontrolliert auftrat und auf eine Weise, die dem Chara nicht ermöglichte zu erschließen, dass die Wirkung von ihm ausgeht, weil es eine Fähigkeit ist, vergleichbar mit Telekinese, die in Anwesenheit Anderer auch von einem Anderen gekommen sein könnte. Und da sie nur sehr selten auftrat, merkte er das erst spät und das zu spät merken hat auch entsprechende Folgen mit denen er leben muss.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Antigone

Zitat von: Feuertraum am 19. Oktober 2019, 19:56:42
Wie sehen Sie als Leser das?

Ich würde mich ziemlich veräppelt fühlen. Bei Filmen/Serien sag ich dann gerne: das macht er jetzt nur , weils so im Drehbuch steht. Das Äquivalent bei Büchern wäre dann wohl: weils der Autor grade so braucht. Aber das genügt halt nicht!
Ich mag so Unlogik in Handlungen gar nicht. Bei "anspruchsloserer" Lektüre nimmt man es vielleicht eher in kauf, aber "gute" Bücher sollten durchgehend gut sein.

ZitatUnd wie würden Sie als AutorIn so etwas vermeiden, wenn Sie es denn vermeiden wollen?

Gut erklären! Ich denke, eine akzeptable Erklärung ist, dass der Held sich (oder seine Fähigkeiten) erst noch entwickeln muss. Oder gar nicht weiß, was eigentlich alles in ihm steckt. So nach dem Motto: man wächst mit seinen Aufgaben.

Inea

Auch ich schließe mich den Vorrednern an.

Als Leser oder Filmzuschauer sitze ich dann oft so auf der Couch: :d'oh:
Es kann dann schon mal vorkommen, dass ich Folgebände/-filme oder andere Bücher des Autors sehr viel kritischer betrachte oder gar nicht erst lese oder anschaue. Hat mich das Buch bis dahin mittelmäßig unterhalten, kann ich das eventuell mal wegstecken und als "passt zum Buch" betrachten. Fiebere ich aber stark zum Ende hin und dann kommt so eine Wendung, bin ich richtig enttäuscht.

Als Autor versuche ich solche Dinge nicht geschehen zu lassen. Ich plotte gerade auch an einem Projekt, bei dem mich aktuell als Leitfrage antreibt: wie kann ich die Fähigkeiten meines Protagonisten weiterentwickeln, dass es eben nicht zu solch einem Effekt kommt. Ich möchte eine drei oder vierbändige Reihe planen, aktuell fällt es mir sehr schwer, jeden "Endgegner" im Buch stärker als den vorherigen zu machen ohne am Ende auf solch eine "wir brauchen jetzt noch eine Superkraft"-Methode zurückzugreifen, die die drei vorherigen Bücher vielleicht sogar infrage stellt.
Das wäre mein persönlicher Supergau. Am Ende einer mehrbändigen Reihe vom Leser ein "Zeitverschwendung. Das hätte der Prota ja schon viel früher machen können." zu erhalten.

Anj

Die einzige Erklärung, die ich bei lebensbedrohlichen Situationen akzeptieren würde (und auch schon habe) wäre die, dass der Preis für den Einsatz dieser Fähigkeit so hoch ist, dass der Prota in den ersten Situationen bewusst darauf verzichtet. Oder vielleicht wenn es andere, transparente Gründe gibt, warum er/sie sie nicht einsetzt. Arroganz, Trotz, ... (So einen Fall hatte ich bisher noch nicht). Aber das muss schon in den ersten Situationen transparent und schlüssig sein. Wird diese Fähigkeit nie vorher erwähnt, ist das etwas, was mir diesen Autoren/diese Autorin komplett verleiden würde und ich würde vermutlich kein weiteres Buch mehr lesen. Es ist der Job eines Autors die Handlungen der Figuren glaubhaft zu transportieren. Kann er das nicht, hat er seinen Job nicht richtig gemacht. Oder sie, natürlich ...

Eine nicht beabsichtigte Aktivierung einer neuen Fähigkeit ist eine Grauzone, muss aber ebenfalls gut aufgegriffen werden, glaubhaft verkauft werden und darf nicht das Ende der Geschichte, sondern nur ein Meilenstein, also ein Teil einer größeren Geschichte sein. Sonst bleibt es für mich als Leser Deus ex Machina und die Verschleierungstaktik macht es nicht besser.

Wie ich es vermeide liegt entweder an der Figur. Warum setzt sie die Fähigkeit nicht früher ein?
oder am Plot selbst: Ist die letzte Situationen richtig aufgebaut, wenn es diese Fähigkeit am Ende braucht?

Eine andere Stellschraube um es zu vermeiden, kann ich mir gerade nicht vorstellen.

Edit: Verzeihen würde ich es nur, wenn es eine Serie und ich ein Fangirl wäre. Trotzdem würde ich es dem Autor/der Autorin als groben Schnitzer auslegen.
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.

Trippelschritt

Ne, geht nicht.

Aber eine Standardlösung, aus diesem Dilemma rauszukommen, ist, diese besondere Fähigkeit mit einem besonderen Opfer zu verbinden, was ihn bisher immer davor gehindeet hat, sie einzusetzen. Aber auch mit dieser Lösung würde ein normaler Erzähler diese Fähigkeit bereits früher problematisieren, damit der deus ex machina Effekt nicht so übel aufstößt.

Lässt sich aber in jedem Fall reparieren.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Silvia

Vielleicht ist es auch so eine Art Geheimwaffe - wenn er die eher einsetzt, merkt der Endgegner das und könnte sich darauf vorbereiten ... aber ja, es sollte gut erklärt sein und nicht - poff, kann ich auch - daherkommen. Oder so wie Gandalfs Adler, die uns ja ganze drei Bände Herr der Ringe hätten ersparen können. :)

Churke

In der klassischen Heldenreise muss der Held erst reifen und lernen, die Fähigkeit einzusetzen, mit der er den Schurken besiegen kann.

Sie können es natürlich auch wie Steven Seagal machen. Aber dessen letzte brenzlige Situation war 1988 in "Nico".

KaPunkt

Die Geschichte erzählt wie die Hauptfigur mit einem inneren und einem äußeren Konflikt umgeht und daran wächst (meistens hängen die beiden zusammen). Die Auflösung am Ende ist deshalb etwas, dass er vorher noch nicht tun konnte, weil er noch nicht weit genug gewachsen / die Lektion noch nicht gelernt hatte.

Liebe Grüße,
KaPunkt
She is serene
with the grace and gentleness of
the warrior
the spear the harp the book the butterfly
are equal
in her hands.
(Diane di Prima)

AlpakaAlex

Ich schließe mich der vorherrschenden Meinung an, dass ich es furchtbar finde, wenn so etwas aus dem nichts kommt - und halte übrigens auch nicht viel davon, zu sagen: "Aber der Held ist gewachsen ...", sofern das Magiesystem nicht explizit an Charaktereigenschaften, Emotionen oder dergleichen gebunden ist. (In dem Fall: Klar, dann geht das. Aber dieses "idealistische Schreiben", das mich immer ein wenig an Shonen-Manga erinnert, wo mit Freundschaft auf einmal alles geht, finde ich wirklich ... anstrengend.)

Was man aber meiner Meinung nach durchaus machen kann, was auch schon angesprochen wurde, war, die Fähigkeit vorher zu erwähnen und einen Preis einzustellen, der zu hoch ist, so dass der Charakter nicht bereit ist, es zu versuchen. Dabei ist egal, ob der Preis definitiv oder nur mit einer realistisch hohen Chance zu zahlen ist. Was auch immer der Preis ist. Es muss ja nicht immer der Tod sein. Vielleicht verliert man Körperteile. Vielleicht verliert man einen Sinn. Vielleicht eine Emotion. Eine Erinnerung. Irgendetwas in dieser Art. Und dann kann man den Charakter bis Moment X in brenzlichen Situationen zögern lassen: "Ich könnte ... aber will ich das wirklich?" Wobei gefühlt dann auch irgendein Preis zu zahlen ist, wenn es nur einmal am Ende verwendet wird.
 

Sascha

Ich bin bei Trippelschritt. Es gibt Gründe, eine bestimmte Fähigkeit lange Zeit nicht einzusetzen. Sie könnte sehr gefährlich für den Nutzer sein oder für seine Umgebung, er muß so lange wie möglich verbergen, daß er diesen Trumpf in der Hinterhand hat, was auch immer. Aber dann sollte das zumindest schon ab und an angedeutet werden. Sein Sidekick könnte fragen "Warum machst Du jetzt nicht einfach ...", der Held unterbricht ihn, bevor er das aussprechen kann und sagt "Bist Du wahnsinnig? Hier sind Unbeteiligte anwesend!" oder so. Dann weiß der Leser zumindest, er hat noch was auf der Pfanne, kann es aber nicht so einfach einsetzen, und man verrät es auch nicht gleich.

Wobei ... es gibt auch die althergebrachte "Ehre": Einen Karatekämpfer muß ich ehrbar im Nahkampf schlagen, ihn einfach mit der .44er Magnum wegpusten ist unehrenhaft. ;)

Amanita

Ich schließe mich den anderen an. Wenn man so etwas macht, muss es einen vernünftigen Grund dafür geben. Viele gute Beispiele wurden ja schon aufgeführt.
Ich finde durchaus, dass der "psychologische Grund", also die Person hat aus irgendwelchen Gründen große Hemmungen dagegen die Fähigkeit einzusetzen, aber sobald dann richtig viel auf dem Spiel steht, tut sie es dann doch, durchaus funktionieren kann. Das muss dann aber gut beschrieben sein, damit es nicht wie eine künstliche Verkomplizierung wirkt.
Genauso finde ich es auch in Ordnung, wenn es um einen Lernprozess geht und der Protagonist eben erst am Ende dazu in der Lage ist, die Fähigkeit ausreichend effizient einzusetzen.

Um mal ein nichtmagisches Beispiel zu nennen: Jemand hat nach einem Unfall Angst davor vom Fünfmeter-Brett zu springen und in Situation 1, wo es beispielsweise um den Sieg seiner Mannschaft oder Ruhm für seine Schule oder sowas geht, kann er diese Angst nicht überwinden und leidet unter seinem Versagen. Als dann aber am Schluss der Geschichte sein Nichtschwimmer-Freund von einer Klippe ins Meer stürzt, springt er  doch hinterher, um ihm das Leben zu retten.

Das "Unehrenhafte" ist auch eine gute Lösung, wenn es schlüssig aufgebaut ist. Je nachdem inwiefern der Leser die Handlung dann auch unehrenhaft findet, kann das aber den Ton des Endes deutlich verändern.

Ein absolutes No-Go für mich ist es aber, wenn dem Protagonisten dann am Ende plötzlich einfällt, dass seine Magie das bewirken kann, was er jetzt braucht, ohne dass das vorher thematisiert worden wäre, oder noch schlimmer, wenn es vorher als unmöglich galt, aber dann doch geht, weil der Prota so besonders ist.

Gizmo

Ich bin da ebenfalls bei den anderen.

Wenn es mir in einem Buch, einer Serie oder einem Film begegnet, stört es mich immens. Allerdings wesentlich mehr, seit ich wieder aktiv schreibe. Vielleicht habe ich dadurch (oder durch höheres Lebensalter) mittlerweile einen anderen Blick darauf.
Kein Problem habe ich, wenn mir anständig erklärt wird, warum der Held die rettende Fähigkeit nicht benutzt. Langes Training, um die Fähigkeit zu meistern, gefährlich für sich und andere usw. passt alles. Allein von der Erklärung "Ich wusste gar nicht, dass ich das kann, aber es ist einfach passiert, als es wirklich sein musste" bin ich wenig überzeugt. Da denke ich kann einem Besseres einfallen.
"Appears we just got here in the nick of time. What does that make us?"
"Big damn heroes, sir!"
- Joss Whedon's "Firefly", Episode 5, "Safe"