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Ich-Perspektive im Jugendbuch

Begonnen von Theophilus, 23. August 2019, 10:39:46

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Wildfee

Ich kann nur für mich selbst sprechen, ich bin einer der Lesenden, die mit Ich-Perspektive und Präsens so gut wie nie etwas anfangen können.
Es gibt nur ein, zwei Autorinnen, wo diese Form so umgesetzt ist, dass ich die Bücher nicht wieder nach den ersten Seiten weggelegt habe. Ich-Form in der Vergangenheit ist da allerdings nochmal eine andere Sache, die wirkt auf mich distanzierter und diese Form kann ich viel besser lesen.

Alana

Das ist lustig, denn mit Ich und Präteritum kann ich nichts anfangen. Beim Lesen ist es mir egal, aber zum Schreiben fühlt sich das für mich total unnatürlich an.
Alhambrana

Trippelschritt

Ich liebe die Ich-Perspektive, obwohl ich erst einen Roman so geschrieben habe. Man muss seinen Protagonisten eben sehr gut kennen, sonst geht das nicht.
Aber bei Ich-Perspektive und Präsens klappe ich das Buch wieder zu. Ich möchte doch eine Geschichte erzählt bekommen und keine Reportage lesen. Aber das ist wohl Geschmacksache und ein Trend der letzten Jahre.

@ Alana
Unter einem personalen er-Erzähler, der ich ich-Perspektive erzählt, kann ich mir beim besten Willen nichts vorstellen. Kannst Du da mal ein Beispel geben?

Liebe Grüße
Wolf


Alana

Ich meine damit, das das Buch klingt, als wäre es ein personaler Erzähler in dritter Person. Du könntest Ich einfach durch sie oder er ersetzen und nichts würde sich ändern. Das ist keine echte Ich-Perspektive.
Alhambrana

Wallrabe

Ich denke auch, dass man da nicht wirklich sagen kann, ob sich das eine oder andere mehr eignet. Dritte Person und Ich-Erzähler haben wie hier schon verschiedentlich genannt beide ihre Vor- und Nachteile und letztlich muss man denke ich schauen, was einem persönlich zum Schreiben am besten taugt, was am besten funktioniert für die Geschichte, die ich als Autor erzählen will.

Bei Ich-Erzählungen funktionieren auch mehrere Protagonisten, zumindest nach meiner begrenzten Schreib-/Leseerfahrung damit. Ich habe mich dann zwar immer gefragt, wie ich es anstellen sollte, zu schreiben, sollten sich beide Ich-erzählten Protagonisten eines Tages treffen, habe dieses Problem aber bisher aufgeschoben. Ansonsten hat es meiner Ansicht nach sehr viel für sich, mehrere Ich-Erzähler zu haben, da man so trotz der beschränkten Sicht mehrere Perspektiven bekommt und/oder Handlungsstränge. Allerdings habe ich das selbst bisher nur mit 2 Figuren gemacht und ihnen dann jeweils einzelne Kapitel gewidmet - also nicht innerhalb eines Kapitels gewechselt. Das stelle ich mir als recht verwirrend sonst vor.

Alia

Ich habe jetzt einige Bücher mit zwei Ich-Erzählern veröffentlicht und die beiden sind dabei oft gemeinsam unterwegs. Finde ich nicht schwer. Man muss halt immer schauen, in welchem Kopf man steckt.
Wenn ich die Perspektive wechsel, schreibe ich aber immer den Namen des neuen POV-Charakters als Unterüberschrift drüber. Wobei man aber m.E. alle Ich-Erzähler auseinanderhalten kann, weil sie ganz andere Stimmen haben und anders ticken. Die Gedanken einer romantisch veranlagten 21 Jährigen sind einfach anders als die eines 27 Jahre alten Nerds oder die eines 34 Jahre alten Vaters/Geschäftsmannes.

Trippelschritt

Zitat von: Alana am 04. Februar 2020, 16:39:11
Ich meine damit, das das Buch klingt, als wäre es ein personaler Erzähler in dritter Person. Du könntest Ich einfach durch sie oder er ersetzen und nichts würde sich ändern. Das ist keine echte Ich-Perspektive.

Danke, Alana. Obwohl ich mich sonst grundsätzlich sonst mit Wertungen zurückhalte, frage ich mich hier, was der Autor damit bezweckt. Er verzichtet auf die Vorteile der Ich-Perspektive und behält alle Nachteile.
Ohne seine Gründe zu kennen, ist das zunächst einmal für mich eine schlechte Schreiberei. Ich muss aber zugeben, dass mir so etwas noch nicht begegnet ist. Und ich lese gern Ich-Perspektive. Viele meiner Lieblingsautoren nutzen sie.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Coppelia

#22
In der Erzähltheorie (war ja mein Promotionsthema) gelten manchmal spezielle Ansichten über die Ich-Perspektive. Ich habe eine Theorie verwendet, die davon ausgeht, dass es tatsächlich wenig Unterschied zwischen der personalen und der Ich-Perspektive gibt bis auf die Pronomen. Mir leuchtete das damals ein. Ich wüsste gern, was denn eurer Meinung nach die Vorteile der Ich-Perspektive gegenüber der personalen sind (die ich jetzt mangels besserer Begrifflichkeiten so nenne; ihr wisst, was gemeint ist: Aus der Perspektive einer Figur in der Dritten Person schreiben.) Denn es gibt keinen Zweifel, dass zumindest subjektiv ein ganz großer Unterschied besteht in Hinblick auf die Frage, wie "dicht" man an einer Person "dran" ist. Wobei ich finde, dass auch die personale Perspektive extrem nah ran gehen kann.

Zit

#23
Mir persönlich als Leser geht es so, dass "Ich" je nach Stimmung bei mir sich wirklich wie ich-Ich liest, also das ist dann so eine sehr merkwürdige Nähe, die mir, je nachdem wie ich mit den Ansichten der Figur konform gehe, auch schnell unangenehm werden kann. (Ich fände es deswegen mal interessant, negativ besetzte Figuren wie Gewalttäter und Tierquäler in Ich-Perspektive darzustellen, eben um beim Leser durch die unangenehme Nähe Unbehagen auszulösen und die Negativität der Figur noch mehr zu unterstreichen.) Ich mag den personalen Erzähler daher lieber, weil er mir zwar Nähe gibt, indem ich die Gedanken der Figur kenne, aber gleichzeitig auch einen Mindestabstand wahrt. So ein bisschen wie der Höflichkeitsabstand, wenn man Menschen gegenübersteht.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Holger

#24
Gerade in Kurzgeschichten nutze ich gerne die Ich-Perspektive - oftmals auch, um den Leser in Sicherheit zu wiegen. Denn viele denken, dass dann nicht viel Schlimmes passieren kann, denn der Protagonist könne ja nicht sterben. Dabei gibt es auch da so einige Möglichkeiten.

Wichtig empfinde ich bei Ich-Perspektive stets: Es muss einen Grund geben, warum eine Person über diese Geschichte schreibt oder sie erzählt. Das wird leider oftmals vergessen. Gibt es aber einen solchen Grund, entsteht eine fiktive Authentizität, die man mit einem personalen Erzähler nur schwer erreichen kann. Das ist zumindest etwas, das ich sehr bei der Ich-Perspektive schätze. Kann ich einen solchen Grund erzeugen, dann nehme ich die Ich-Perspektive. Das empfinde ich auch deswegen häufig als angenehmer, weil der Ich-Erzähler eindeutig unzuverlässig Erzähler ist (was ich bevorzuge) und auch andere Erzählstimmen ermöglicht als bei einem personalen.

Den personalen Erzähler schreibe ich zwar auch gerne unzuverlässig und mit einer spürbaren Erzählstimme, aber gerade diese funktioniert in meinen Augen beim personalen Erzähler nie so gut wie bei der Ich-Perspektive. Außerdem stört der personale Erzähler oftmals die "Suspension of Disbelief". Auch das kann man abmildern, aber ein gut gemachter Ich-Erzähler ist da in meinen Augen förderlicher.

Für mich sind also die Bonuspunkte für den ...

  • ... Ich-Erzähler: stärkere (und dadurch oftmals spannendere) Erzählstimme, fiktive Authentizität
  • ... personalen Erzähler: flexibler und unabhängig von Charakteren, Setting und Geschichte, denn ich muss keinen glaubwürdigen Grund finden, warum und wie dieser Text geschrieben worden ist
"No one asks for their life to change, not really. But it does. So, what are we? Helpless? Puppets? No. The big moments are gonna come, you can't help that. It's what you do afterwards that counts. That's when you find out who you are."
(Buffy: The Vampire Slayer; S02E21: Becoming - Part 1)

Aphelion

Ich benutze zwar auch den Begriff Ich-Perspektive, aber eigentlich betrachte ich sie nicht als inhaltliche Perspektive, sondern als Form. Diese Form legt zwar eine gewisse "Nähe" nahe, aber diese inhaltliche Nähe kann auch in der Er-/Sie-Form dargestellt werden.

Distanzierte Ich-Erzähler, bei denen die Distanziertheit nicht auch ein inhaltliches Merkmal des Ichs sein soll, sondern nur formal genutzt wird, empfinde ich allerdings als unstimmig. Insofern hat die Ich-Form mMn keine exklusiven Vorteile, von der möglichen Wirkung auf Lesende abgesehen (die aber stark zu variieren scheint).

Trippelschritt

Was die Nähe angeht, ist die Ich-Perspektive unübertroffen. Ich bin ich und er/sie ist jemand anderes. Aber der Nachteil, den ich mir dafür einkaufe, ist gewaltig. Es gibt nur einen einzigen Erzählstrang und das Verflechten mehrerer Stränge ist schwierig.
Ich erinnere mich noch an die Zeit, in der es hieß, man müsse sich für eine dieser Perspektiven entscheiden und alles andere ginge gar nicht. Bis dann doch jemand kam und diese Perspektiven mischte. Heute meckert niemand mehr darüber, aber Mischungen sind immer noch schwierig.

Die Ich-Perspektive hat noch eine Besonderheit. Das Ich ist auch die Erzählstimme. Das ist bei der dem personalen er/sie nicht der Fall. Es gibt Autoren, die der Meinung sind, dass über den Erfolg einer Geschichte letztlich die Erzählstimme entscheidet. Aus diesem Streit halte ich mich raus, obwohl diese Position viel für sich hat. Damit besitzt die er/sie Persktive gleich zwei wichtige Stimmen mit denen der Autor spielen kann, wenn er sein Metier beherrscht, und die Ich-Perspektive nur eine.
Zwar lässt sich auch bei der Ich-Perspektive eine unabhängige Erzählerstimme einführen, aber das ist äußert schwierig und wird auch nur ganz selten gemacht. Ich könnte auf Anhieb kein Werk nennen, wo das gemacht wurde. Vielleicht ist es auch nur eine theoretische Möglichkeit.

Orson Scott Cart hat diesem Thema mit "Character & Viewpoint" einen guten Schreibratgeber gewidmet.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Klecks

#27
In Gay Romances sind Präsens und Ich-Perspektive auch das Gängigste. Für mich ist das dermaßen Standard, dass ich Gay Romances im Präteritum, vor allem aber mit "er" statt "ich", ehrlich gesagt kaum lesen kann, so doof ich selber das auch finde. Bei den momentan populären New Adult-Romanzen von Bianca Iosivoni, Laura Kneidel, ect. geht es mir ähnlich, allerdings ist mir da gleich, ob es Präteritum ist oder Präsens. Hauptsache "ich". Das "er" oder "sie" hat mich noch nie so sehr gefangennehmen können.

Ich selber habe schon immer tausendmal lieber aus der Ich-Perspektive geschrieben, gerade bei Gay Romances und Young/New Adult. Wie hier schon mehrfach erwähnt wurde: Diese Perspektive macht es leichter, der Figur nahe zu kommen, und gerade bei jungen Lesern kann das unverzichtbar wichtig sein. Meine Gay Romances habe ich aber auch schon immer so geschrieben. Manchmal noch im Präteritum, mittlerweile nur noch im Präsens.

Für mich das wichtigste Argument: Es fühlt sich natürlicher und flüssiger an, in Ich-Perspektive und Präsens zu schreiben. Vielleicht, weil man dann in diesen Stunden wirklich die Person wird, aus deren Sicht man schreibt. Zumindest fühlt es sich für mich so an.

Churke

Zitat von: Trippelschritt am 06. Februar 2020, 07:17:23
Aber der Nachteil, den ich mir dafür einkaufe, ist gewaltig. Es gibt nur einen einzigen Erzählstrang und das Verflechten mehrerer Stränge ist schwierig.

Das braucht kein Nachteil zu sein. Die Beschränkung auf eine Erzählperspektive bietet auch Möglichkeiten, denn man entscheidet sich aus dramaturgischen Gründen dafür, dem Leser Informationen vorzuenthalten. Das ermöglichst Plots und Erzählungen, die mit mehreren Handlungssträngen nicht funktionieren. Die optimale Erzählform hängt von der Geschichte ab.

Zitat von: Trippelschritt am 06. Februar 2020, 07:17:23
Die Ich-Perspektive hat noch eine Besonderheit. Das Ich ist auch die Erzählstimme. Das ist bei der dem personalen er/sie nicht der Fall.

Da melde ich Zweifel an. Wenn ich mich von meiner Figur distanziere, ihr Handeln und Denken kommentiere, reicht der Wissenshorizont über den der Figur hinaus. Ich erzähle dann auktorial.

Klecks

Zitat von: Churke am 06. Februar 2020, 11:12:33
Zitat von: Trippelschritt am 06. Februar 2020, 07:17:23
Aber der Nachteil, den ich mir dafür einkaufe, ist gewaltig. Es gibt nur einen einzigen Erzählstrang und das Verflechten mehrerer Stränge ist schwierig.

Das braucht kein Nachteil zu sein. Die Beschränkung auf eine Erzählperspektive bietet auch Möglichkeiten, denn man entscheidet sich aus dramaturgischen Gründen dafür, dem Leser Informationen vorzuenthalten. Das ermöglichst Plots und Erzählungen, die mit mehreren Handlungssträngen nicht funktionieren. Die optimale Erzählform hängt von der Geschichte ab.

Für mich ist das sogar einer der größten Vorteile der Ich-Perspektive. Ich sehe die Welt durch die Augen einer bestimmten Person, eingefärbt durch ihre ganz individuellen Gegebenheiten (Meinungen, Überzeugungen, Wünsche, Erfahrungen, ...) - für mich ist das Lese- und Schreiberlebnis dadurch intensiver und realer.