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Fremde Moral- und Ethikvorstellungen

Begonnen von AlpakaAlex, 08. Februar 2019, 11:40:03

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Trippelschritt

Führer hatten es schon immer leicht, ihr Volk in einen Krieg zu führen, wenn die Ressourcen knapp wurden, weil ein Krieg Beute verspricht und die Anzahl der Menschen verringert. Wenn man dann noch der Meinung ist, den Überfall oder den Krieg zu gewinnen, braucht man nur noch die richtigen Einpeitscher.

Und dazu gehören bereits die vielen kleinen Grenzkriegen zwischen benachbarten Stämmen. Es geht also auch ohne große Reiche, obwohl ich Dir in Deiner Argumentation leicht folgen kann, denn ganz so eindimensional, wie ich es angedeutet habe, ist es in der Tat nicht.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Amanita

Grundsätzlich finde ich es durchaus interessant, wenn die Kulturen in Fantasy-Welten (teilweise) andere Moral-und Ethikvorstellungen haben als wir. Dabei finde ich aber eine gewisse Balance wichtig. Wenn einem Volk einfach alles aufgeladen wird, was wir heute ablehnen, damit der edle Held von innen oder außen dagegen kämpfen kann, finde ich das sehr eindimensional. In einem Buch gibt es dann ein "böses Volk", das aus sexistischen, homophoben Sklavenhaltern besteht. Es gibt dort zwar Rebellen, aber die Tendenz ist halt doch ziemlich klar.

Genauso wenig gefällt es mir, wenn in der Fantasywelt die üblichen sexistischen Klischees mit "das sind halt fremde Moralvorstellungen" erklärt werden und sich der Autor noch dafür auf die Schulter klopft, dass er "sich das traut". So fremdartig sind halt "du bist nur eine Frau, du kannst das nicht" und "oh nein, das Kind ist nur ein wertloses Mädchen" nicht, da hätte ein Matriarchat deutlich mehr mit fremden Moral-und Ethikvorstellungen zu tun.
Ähnliches gilt für Rassismus, der klar irdischen Konstellationen nachempfunden ist, da bietet Fantasy ja wirklich jede Menge Möglichkeiten Feindschaften, Vorurteile und Unterdrückung zwischen Völkern darzustellen, auch von Seiten der Protagonisten aus, ohne dass es gleich nach einer Entschuldigung für reale Unterdrückung klingt.

Aphelion

Zitat von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 15:22:37
Aber was wäre mit Kannibalismus als Teil eines neuen Humanismusses. Da käme ich aber gewaltig ins Schleudern.
Genau darum geht es in "Karnivoren" von E.M. Jungmann.

In der Geschichte wird das Problem so gelöst, dass die Figuren nach und nach Regeln aufstellen und diese dann schrittweise aufweichen, um ihren Kannibalismus zu rechtfertigen. Am Anfang essen sie nur jemanden, der zufällig gestorben ist, dann stellen sich Erwachsene selbst zur Verfügung und zum Schluss setzen sie schrittweise das Alter von Kindern herauf, ab dem diese erst als "menschlich" gelten und damit nicht mehr gegessen werden dürfen. Das ganze verkommt zu einem organisierten System, mit dem Ziel möglichst viele Kinder zum kannibalistischen Verzehr zu "produzieren" und mit allerhand Rechtfertigungen (z.B. gibt es eine Szene, die als Beispiel dafür dient, dass Ekel/Abscheu gegenüber Blut/Leichen nur anerzogen sei, oder die Versicherung des Erzählers, wie gut es den Kindern während ihres kurzen Lebens ginge usw.).

Allerdings – und das ist ein Knackpunkt – geht es auf der Metaebene natürlich nicht darum, den Kannibalismus gegenüber dem Leser tatsächlich zu rechtfertigen. Es geht der Autorin (anscheinend) darum zu zeigen, wie Menschen schrittweise verrohen, auch wenn diese Verrohung in ein zivilisiertes Gewand gekleidet ist, inkl. demokratische Entscheidungen.

Außerdem ist das Setting entsprechend gewählt, obwohl es nicht so heftig ist, dass die Figuren gar keine Wahl haben – was in meinen Augen ein wirklich cleverer Erzähltrick ist, denn dadurch wird die ethische Frage eben nicht gelöst, nur zugespitzt. Es geht um Kannibalismus aus Genuss, nicht zum nackten Überleben.

Hier im Thread wurde ja bereits angesprochen, dass es einen Unterschied macht, wie eine Figur auf die Verhältnisse regaiert – aber eben auch, ob die Autorin dem Leser diese (Un-)Moral schmackhaft (;)) macht oder nicht. Bei "Karnivoren" kann man nachvollziehen, warum der Ich-Erzähler sich rechtfertigt(*), aber als Leserin würde ich trotzdem nie auf die Idee kommen zu sagen: "Jo, passt."

(*) Der Ich-Erzähler fungiert allerdings durchaus auch als Leser-Stellvertreter in dieser Hinsicht, insofern sind bei "Karnivoren" mMn beide Techniken vertreten.

Zitat von: Amanita am 09. Februar 2019, 00:29:29
Ähnliches gilt für Rassismus, der klar irdischen Konstellationen nachempfunden ist, da bietet Fantasy ja wirklich jede Menge Möglichkeiten Feindschaften, Vorurteile und Unterdrückung zwischen Völkern darzustellen, auch von Seiten der Protagonisten aus, ohne dass es gleich nach einer Entschuldigung für reale Unterdrückung klingt.
Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt, da Fantasy eben nicht "nur völlig erfunden ist", wie manche bei dem Thema früher oder später argumentieren. Phantastische Literatur verarbeitet immer echte Einflüsse; und sie beeinflusst auch ihrerseits Menschen im echten Leben. Wenn jemand ständig Rechtfertigungen für Sexismus, Rassismus, Homophobie, Wasauchimmer liest, dann muss man sich nicht wundern, wenn dieselben Argumente auch im echten Leben hartnäckig bestehen bleiben. "Man kann nicht nicht kommunizieren" gilt auch hier.

Es geht mir wohlgemerkt nicht darum, Leser überzeugen zu müssen – aber wir können uns als Schreibende aussuchen, ob wir mit unseren Geschichten eher auf der einen oder der anderen Seite stehen wollen. Neutralität gibt es in diesem Sinne nicht, auch wenn nicht alle Fehlgriffe (die mir selbst auch viel zu oft passieren ::)) beabsichtigt ist.

Trippelschritt

Das klingt experimentell spannend. Aber hat der Roman sich auch verkauft?

Neugieriger Trippelschritt

Aphelion

@Trippelschritt

Ich habe keine Ahnung, wie ich das herausfinden könnte.  ;D

Der Roman wird als Horror vermarktet, da ist das nicht sooo experimentell. Mir fällt da z.B. auch eine Kurzgeschichte von King ein, in der jemand sich selbst kannibalisiert, allerdings unter völlig anderen Umständen, sprich mit einer schweren Verletzung, nichts zu essen und einem Koffer voller Drogen. Sowohl Kings KG als auch "Karnivoren" sind allerdings auf einer einsamen Insel angesiedelt. Aber wie gesagt, in "Karnivoren" ist einer der entscheidenden Punkte, dass die Menschen den Kannibalismus nicht zum puren Überleben brauchen.

Coppelia

In dem Möchtegern-Nachfolger von Planescape - Torment, "Tides of Numenera", kommt eine Sekte vor, die Tote isst und auf diese Art ihre Erinnerungen  in sich aufnimmt, bewahrt und ihr Andenken ehrt. Hat mir gefallen, traf meine makaberen Vorlieben. ;P Falls ich das falsch wiedergebe, korrigiert mich gern, denn es ist schon eine Weile her, seit ich das gespielt habe.

Antennenwels

Ich habe erst kürzlich ein Buch gelesen, indem Kannibalismus vorkam, allerdings auf eine Art und Weise, die wie ich finde kein gutes Beispiel dafür abgibt, wie man mit so etwas umgehen sollte.
In der Codex Alera Reihe von Jim Butcher gibt es eine Rasse von "Barbaren", welche ihre Gegner essen (diese Leben dabei noch!) um deren Stärke aufzunehmen. Ein Teil dieser Stämme schliesst sich dann den "Guten" an und von da an wird diese Tradition niemals mehr wirklich angeschnitten. Beschrieben wurde es nur bei den "bösen" Stämmen und während erwähnt wird, dass alle Stämme dies praktizieren, so gibt es doch nur eine einzige Szene, in welcher der Love-interest des Protagonisten jemanden essen will, dann aber von ihm davon abgehalten wird (mit der Ausrede, sie hätten jetzt keine Zeit dafür). Sie unterhalten sich nie darüber und diese extrem unterschiedlichen Moralvorstellungen scheinen auch keinen Einfluss auf die Beziehungen der Figuren zu einander zu haben.

Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass ich die Reihe noch nicht beendet habe, vielleicht kommt es also irgendwann doch noch zur Sprache, ich bezweifle es allerdings. Es kommt mir vor, als wäre dies im ersten Band nur eingeführt worden um den Leser zu schockieren und in den nachfolgenden Büchern war es dem Autoren eher im Weg und wurde deshalb grösstenteils ignoriert.
"You still prided yourself on three things: firstly, bloody-minded composure; secondly, an inhuman intellect for necromancy; thirdly, being very difficult to kill."

- Muir, Tamsyn. Harrow the Ninth

Churke

In der letzten Staffel von "The 100" werden Verbrecher in der Arena hingerichtet und die Leichen zu Protein-Sticks verarbeitet, um das Überleben zu sichern. Die Serie setzt auf mehr oder wenige einfältige Schockeffekte und ich halte das nicht für ein gutes Vorbild.

Trippelschritt

Erinnert mich an Soylent Green, den SF-Film mit Charlton Heston. Anfang der Siebziger?

Trippelschritt

Churke

Wenn ich mich richtig erinnere, wollten die in Soylent Green aber nur Geld verdienen. Moral heißt ja, dass *die Leute* etwas tun, weil sie es gut & richtig finden. Das ist auch etwas anders als Gleichgültigkeit durch Verrohung.

Trippelschritt

Da streite ich nicht mehr. Den Film habe ich einmal gesehen, und das muss über vierzig Jahre her sein. Ein Wunder, dass ich mich überhaupt noch an Charlton Heston erinnere.  :vibes:

Trippelschritt

FeeamPC

Letzten Endes können wir nur mit Moralvorstellungen arbeiten, die wir uns irgendwie noch vorstellen können. Auf der anderen Seite hat die Menschheit in den paar Tausend Jahren belegter Geschichte schon so ziemlich alles ausprobiert, was Menschenhirne denken können. Das heißt, was immer in unseren Büchern steht (und einigermaßen folgerichtig aufgebaut ist), kann dem Leser verständlich gemacht werden, wenn auch nicht notwendigerweise sympathisch.
Die Gesellschaft ist ein Patriarchat, in dem Mädchen mit Erreichen der Geschlechtsreife als erwachsen gelten und von der väterlichen Familie an die des Ehemannes mehr oder weniger verkauft werden? Wenn alle darin aufwachsen, werden sich nicht einmal die Mädchen selbst daran stören, mit 12 Im Bett eines fremden Mannes zu landen. Allerhöchstens werden sie besorgt sein, bei einer frühen Schwangerschaft nicht zu überleben.
Und wenn die Figut gut geschrieben ist, wird der Leser diese Sichtweise sogar nachvollziehen können.