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Vom Mut, das Unschöne auszusprechen

Begonnen von HauntingWitch, 23. Dezember 2016, 12:42:51

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Fianna

Zitat von: Evanesca Feuerblut am 10. Januar 2017, 09:51:32
Exakt. Ich trenne immer sehr streng meine Haltung von der Haltung aller meiner Figuren, auch von der einiger "Guten", weil die nicht zwingend mit meiner übereinstimmt.
Und die meisten Leser sind intelligent genug, diese Trennung auch geistig durchzuführen und Autor, Erzähler und POV nicht durcheinanderzubringen. Das sind ja je nach Erzählart gerne bis zu drei verschiedene Instanzen. Das macht mir persönlich die wenigsten Sorgen, wenn ich ehrlich bin.
Ich habe von durchaus lesenden Menschen schon etwas irritierende Reaktionen geerntet. "Ich hätte niiiiie gedacht, dass Du so eine Haltung hast!" - "Ähems, das ist die Figur, die spricht, nicht der Autor." - "ABER Du hast das doch geschrieben. Warum wohl?!" - Ja, warum nur?

Ich denke, die meisten Leser (wenn man die Gesamtheit aller buchlesenden Menschen betrachtet) führen eine solche Trennung nicht durch, und schon gar nicht so dreiteilig wie Evanesca. Aber das sollte einen nicht davon abhalten, so zu schreiben und darauf zu hoffen, dass die eigenen Leser zum hinterfragenderen Teil gehören.

HauntingWitch

@Anjana: Dein Beitrag ist ein super Input. Danke.  :knuddel:

@Evanesca Feuerblut:

Zitat
In meiner neunbändigen Vampirreihe habe ich unter anderem eine Perspektivträgerin, die aufgrund eines ganzen Clusters aus Traumata eine ungesunde Einstellung zu sich selbst und ihren Mitmenschen hat und ihren Ehemann emotional und sexuell missbraucht. Und diese Figur hat so einige Szenen (auch wenn sie in keiner davon direkt damit beschäftigt ist, ihren Ehemann zu vergewaltigen - das war dann meine persönliche Grenze).
Und allerlei andere Szenen.

Sind wir vielleicht seelenverwandt und wissen das nicht? ;-) Spass beiseite, ich habe exakt dasselbe Problem mit meinem zweiten aktuellen Projekt. Nur, dass meine Frau eine Nebenfigur ist und der Protagonist ihr Mann, der von ihr emotional missbraucht und geschlagen wird... Das ist aber auch so etwas, das ich sehr schwierig finde. Einerseits persönlich, das, was du beschreibst, weil mir manche Szenen schon sehr nahe gehen. Andererseits aber auch dieses "es richtig machen wollen", das ganze richtig darzustellen und eben nicht auf eine verklärte, verharmlosende Weise oder gar als Karikatur. Finde ich sehr anspruchsvoll zum Schreiben.

ZitatFür mich hat der Mut, das Unschöne (sowohl im Sinne von "Das Unaussprechliche, das Brutale, das Schreckliche" als auch "das in meinen Augen Unästhetische") auszusprechen, also tatsächlich mit der täglichen Überwindung von Grenzen zu tun.
Mir hilft es dabei sehr, Bücher zu lesen, in denen Grenzen überschritten werden, an die ich mich nicht getraut habe. George Martin war in der Hinsicht für mich eine Offenbarung.

Das ist ein interessanter Ansatz. Für mich geht es aber noch einen Schritt weiter, als das Unaussprechliche oder Schreckliche, teilweise sind es auch viel einfachere Dinge. Zum Beispiel lese ich gerade "Die Soldaten" von Tobias O. Meissner (ein Genie) und da geht es um einige wild zusammengewürfelte Rekruten. Nun kommt irgendwann eine Szene, in der sie alle gezwungen werden, eine Einheitsfrisur zu tragen, während davor alle verschiedene Frisuren haben. Das führt zu einem Riesentheater über zwei Kapitel oder so. Es liest sich mega lustig und natürlich ist es mega peinlich und kindisch und überhaupt, aber das ist ja der Witz daran. Der springende Punkt ist jetzt, dass ich als Autorin sehr schnell denke: Nee, so etwas kannst du nicht bringen, das ist total peinlich und auch ein bisschen lächerlich! Aber Meissner hat überhaupt keine Hemmungen, das zu bringen, weil er ja genau diese Peinlichkeit, diese Situation mit sich bringt, zeigen will. Und das bewundere ich total, weil ich das so schwierig finde. Dass es einem egal ist, wenn es vielleicht ein bisschen lächerlich daherkommt (was es nicht einmal tut, aber das führt jetzt zu weit).

Bei Zombies, Leichen und so körperlichen Sachen habe ich auch Mühe, hauptsächlich aber wegen meinem eigenen Ekel. Naja, ich habe es schon einmal geschafft, also irgendwie geht es.

ZitatDas Verhalten des Freundes ist (leider) vermutlich das, was sehr viele Asexuelle und Demisexuelle (zu denen ich mich zähle) am eigenen Leib erlebt haben. Also nichts, was dir peinlich sein müsste so zu schreiben. Die, die das aus eigener Anschauung kennen, werden an dieser Stelle traurig nicken.

Ja. Und eben deshalb will ich ja auch diese realistische Darstellung haben und nicht eine weichgespülte "alles kein Problem, kommt schon alles gut"-Story. Aber ich stelle mir solche Fragen halt. Ich denke, dass ich es vielleicht auch einfach durchziehen und das fertig schreiben muss (was ich sowieso vorhabe) und damit auch mehr Mut zurückkommt. :)

@canis lupus niger: Das ist aber meiner Ansicht nach ein anderes Problem, ein zweites Problem, wenn man so will. Aber was mich an vielen Mainstream-Romanen oder auch Filmen stört, ist, dass es eben diese Weichspülerei gibt: "Wir haben diese Krankheit, aber das ist kein Problem, wir bleiben cool und bewältigen das mit Happy End" oder die Beziehung ist schwierig, aber beide werden durch irgendein Ereignis total geläutert und bessern sich, happy ever after, Ende. Das ist einfach Quatsch, so schön es auch klingt. Und ganz ehrlich, Leser, die lieber das möchten als das andere, sind dann halt eben nicht mein Zielpublikum. ;)

Churke

Zitat von: Witch am 10. Januar 2017, 12:44:25
Sind wir vielleicht seelenverwandt und wissen das nicht? ;-) Spass beiseite, ich habe exakt dasselbe Problem mit meinem zweiten aktuellen Projekt. Nur, dass meine Frau eine Nebenfigur ist und der Protagonist ihr Mann, der von ihr emotional missbraucht und geschlagen wird... Das ist aber auch so etwas, das ich sehr schwierig finde.

Vielleicht, weil wir die Dinge aus der heutigen Perspektive betrachten. Die "Erfüllung der ehelichen Pflichten" wurde die meiste Zeit der Geschichte als völlig normale Pflichtübung angesehen. Werden sich die Betroffenen als Opfer wahrnehmen? Können sie das überhaupt? Was der Leser als Trauma empfindet, ist für die Figuren möglicherweise eine nebensächliche Alltagserfahrung.

Ein anderes Beispiel: Im alten Rom galten Gladiatorenkämpfe als Kinderpgoramm. Die Traumata betroffener Kinder würden die Jugendämter heute mit einer Armee von Psychologen therapieren.

Kati

Zitat von: FiannaIch habe von durchaus lesenden Menschen schon etwas irritierende Reaktionen geerntet. "Ich hätte niiiiie gedacht, dass Du so eine Haltung hast!" - "Ähems, das ist die Figur, die spricht, nicht der Autor." - "ABER Du hast das doch geschrieben. Warum wohl?!" - Ja, warum nur?

Dazu muss man aber auch sagen, dass es wirklich nicht leicht ist im Roman erkenntlich zu machen, dass man nicht die eigene Meinung im Roman auslebt. Und das sollte man, finde ich zumindest, doch tun. Natürlich ist es immer erstmal besser als Leser anzunehmen, dass der Autor nicht selbst solche Meinungen vertritt, aber wenn im ganzen Roman keine Wertung des Verhaltens zu finden ist, kann es trotzdem schwer sein. Es gibt eben einfach fremdenfeindliche Menschen und ich finde nicht, dass Leser blind darauf vertrauen müssen, dass der Autor keiner ist. Das kann man nicht wissen und, wenn es aus der Darstellung im Buch nicht ersichtlich wird, finde ich nicht, dass es dumm ist als Leser dann auch am Autor zu zweifeln, sofern dieser nirgendwo eine Stellungsnahme abgegeben hat. "Der Autor wird schon nicht fremdenfeindlich sein" ist natürlich erstmal eine positive Herangehensweise, aber man kann niemals einfach davon ausgehen, dass das so stimmt, wenn es nichts gibt, woran man das festmachen kann.  :hmmm: Das ist für mich schon eine Problematik. Natürlich will ich keinem Autor irgendwelche Meinungen unterstellen, aber wenn fremdenfeindliches Verhalten im Roman ohne Wertung dargestellt wird, dann weiß ich einfach nicht, was der Autor wirklich denkt und einfach davon ausgehen, dass der schon okay sein wird, kann man da leider nicht. Das hat für mich auch ganz klar etwas mit Hinterfragen zu tun, die Worte des Autors und seine eigene Stellung nicht einfach als "wird schon okay sein" hinzunehmen.

Generell finde ich, dass hier im Thread im Moment ein paar Sachen zusammengeworfen werden, die ich persönlich für mich strikt trennen würde. In einem Roman Missstände aufzuzeigen und das deutlich zu kennzeichnen ist für mich ganz klar etwas anderes, als ungewertete Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und dergleichen einfach deshalb aufzunehmen, weil es das gibt (also ohne Zweck oder Wertung). Tobias O. Meissner (ein Genie, ja) schreibt in "Sieben Heere" auch sehr schonungslos, wie ein paar Dorfbewohner nach und nach eine gesamte besetzende Armee töten. Das Buch war großartig. Aber sowas ist für mich, genau wie faulige Zombies oder Fluchen oder zu einem gewissen Grad auch Gewalt, etwas anderes, als Themen wie Fremdenfeindlichkeit und dergleichen. Nicht, weil ich zu ängstlich oder zu sensibel bin um darüber zu schreiben (Ich schreibe Thriller und Horror, das wäre kontraproduktiv), sondern, weil ich einfach nicht weiß, wieso ich solche Themen ohne Wertung im Roman einbringen soll. Wenn ich über Fremdenfeindlichkeit schreiben wollte, würde ich persönlich das eher aus Sicht des Fremden angehen mit den entsprechenden Nebenfiguren, die dann auch nicht alle komplett böse sind, sondern eben vielschichtige Menschen. Die Bisexualität meines Helden in meinem momentanen Projekt wird auch nicht von allen akzeptiert und es gibt Reibungen. Aber mir entzieht sich einfach ein bisschen, wieso ich so eine Geschichte aus Sicht des "Täters" schreiben soll und wieso das mutiger wäre, als sie aus Sicht des Betroffenen zu schreiben. Ich verstehe noch nicht so richtig, was der Vorteil daran wäre, wieso ich so jemanden, trotz aller Fassaden, die er oder sie haben mag, als "Heldenfigur" unterbringen soll und wieso das mutig ist.

Lothen

Zitat von: Charlotte am 10. Januar 2017, 14:25:16Ich verstehe noch nicht so richtig, was der Vorteil daran wäre, wieso ich so jemanden, trotz aller Fassaden, die er oder sie haben mag, als "Heldenfigur" unterbringen soll und wieso das mutig ist.
Der große Vorteil, den ich daran sehe, ist, sich mit der Frage des "warum" oder "wieso" zu beschäftigen. Wieso entwickelt ein Mensch fremdenfeindliche Neigungen? Wieso verhält sich jemand brutal/gewalttätig? Was treibt ihn an, was sind seine Ziele und Motive, was hat ihn zu dem Menschen gemacht, der er ist? Und - daraus resultierend - was hätte getan werden können oder könnte noch getan werden, um das zu verhindern? Held ist ja auch ein dehnbarer Begriff, es gibt ja schließlich auch den Anti-Helden.

Das sind alles Gedanken, die ich sehr wichtig finde, weil sie von einer Schwarz-Weiß-Betrachtung wegführen. Nicht jeder Täter ist sofort per se "böse", sondern hat irgendeine Vorgeschichte, die ihn dorthin gebracht hat. Wenn es einem Autor gelingt, diese Ansicht ins Hier und Jetzt zu transferieren, ist das eine große Hilfe, denn das wirkt der Pauschal-Verurteilung bestimmter Menschengruppen massiv entgegen, wenn es gut gemacht ist.

Ob das jetzt besonders mutig ist, sei dahin gestellt. Aber ich halte das für durchaus legitim.

Churke

Das ist auch eine Frage des literarischen Stils. Ich sehe die Neutralität des Autors als die größte Errungenschaft des bürgerlichen Realismus im 19. Jahrhundert. "Mach dich nicht gemein mit einer Sache, auch nicht mit einer guten." Das Ergebnis sind objektive Gesellschaftsporträts, die die Position des Autors häufig gerade NICHT erkennen lassen.

HauntingWitch

Zitat von: Churke am 10. Januar 2017, 13:48:50
Zitat von: Witch am 10. Januar 2017, 12:44:25
Sind wir vielleicht seelenverwandt und wissen das nicht? ;-) Spass beiseite, ich habe exakt dasselbe Problem mit meinem zweiten aktuellen Projekt. Nur, dass meine Frau eine Nebenfigur ist und der Protagonist ihr Mann, der von ihr emotional missbraucht und geschlagen wird... Das ist aber auch so etwas, das ich sehr schwierig finde.
Vielleicht, weil wir die Dinge aus der heutigen Perspektive betrachten. Die "Erfüllung der ehelichen Pflichten" wurde die meiste Zeit der Geschichte als völlig normale Pflichtübung angesehen. Werden sich die Betroffenen als Opfer wahrnehmen? Können sie das überhaupt? Was der Leser als Trauma empfindet, ist für die Figuren möglicherweise eine nebensächliche Alltagserfahrung.

Ein anderes Beispiel: Im alten Rom galten Gladiatorenkämpfe als Kinderpgoramm. Die Traumata betroffener Kinder würden die Jugendämter heute mit einer Armee von Psychologen therapieren.

Spontan hätte ich jetzt gesagt: Deswegen ist ja unsere Gesellschaft so kaputt. Aber ich muss erst einmal darüber nachdenken und möchte mich deshalb nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.

@Charlotte: Lothen hat das bereits viel besser ausgedrückt, als ich es könnte. Für mich geht es auch nicht darum, so jemandem zum Helden zu machen. Sondern darum, zu analysieren, wie es dazu kommt, was auch die gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe sind, die zu solchen Haltungen führen.

Ich habe im Zuge meiner Recherche für weiter oben genanntes Beispiel der Gewalttätigkeit durch die Frau eine Doku gesehen, in der sie eine solche, ehemals gewalttätige Frau interviewt haben. Es stellte sich heraus, dass sie eine sehr kaputte Seele hat, die von massiven Kindheitstraumata herrührte. Ihr war nicht einmal vollends bewusst, was sie ihrem Mann antat bzw. wie weit die Konsequenzen reichen. Das wurde ihr erst später klar, als sie in die Therapie ging. Und genau das finde ich das Interessante, dass eben nichts schwarz-weiss ist. Das Verhalten ist damit zwar nicht entschuldigt, ganz klar, aber erklärt und wie Evanesca finde ich, dass (gegenseitiges) Verstehen ein wichtiger Schritt zu einem besseren Miteinander ist.

canis lupus niger

#22
Zitat von: Witch am 10. Januar 2017, 12:44:25
happy ever after, Ende. Das ist einfach Quatsch, so schön es auch klingt. Und ganz ehrlich, Leser, die lieber das möchten als das andere, sind dann halt eben nicht mein Zielpublikum. ;)

In dieser Hinsicht sind wir absolut einer Meinung. Ich hatte ja bloß geschrieben, dass manche Leser mit der Trennung von Buchcharaktermeinung und Autorenmeinung Schwierigkeiten haben. Einige andere Beiträge geben wieder, dass andere Mitglieder diesen Eindruck auch gewonnen haben. Deshalb halte ich es für sinnvoll zu überlegen, wie ich dem Leser helfe(n kann/muss), diese Trennung nachzuvollziehen.


*Argh, ich hab den letzten Satz korrigiert. War ja zum Fußnägel-Hochrollen!*

Lothen

#23
Zitat von: canis lupus niger am 10. Januar 2017, 15:21:17Meine Überlegung dazu ist einfach, dass ich mir als Autor überlege, wie ich dem Leser helfe(n muss), diese Trennung nachzuvollziehen.
Das ist wirklich die interessante Frage daran, denn ich glaube, die Tendenz, den Autor und die Einstellungen der Figuren irgendwie in Einklang bringen zu wollen, ist bei jedem Menschen vorhanden. Das lässt sich kaum ausschalten.

Ich könnte mir vorstellen, dass der Kontakt zu den Lesern wichtig ist, sei es über Facebook, Twitter, Homepage oder Messen. Ich denke, so lassen sich Vorurteile oder Vorverurteilungen am effektivsten ausräumen. Ich denke, man kann dazu auch aktiv selbst Stellung beziehen, in Form eines Blogartikels oder Ähnlichem. Aber ob man das ganz eliminieren kann? Ich weiß nicht.

Eine andere, werk-immanente Möglichkeit könnte sein, verschiedene Perspektiven darzustellen, sodass nicht der Eindruck entsteht, der Autor würde für eine Seite Partei ergreifen. In den wenigsten Fällen wird ja einfach nur Gewalt gezeigt, ohne eine alternative Option oder eine ablehnende Haltung ebenso darzustellen. In dem Fall ist die Identifikation des Autors mit der einen Seite, die Gewalt/Homophobie/Fremdenhass befürwortet, schwieriger, weil sie andererseits ja auch abgelehnt wird.

Zit

Einerseits kann ich Charlotte verstehen – andererseits finde ich es aber genauso schwierig automatisch am Autor zu zweifeln und ihm zu unterstellen, böse zu sein, nur weil Figuren auftauchen, die eine andere Moral und Ethik haben als der Leser. Um ehrlich zu sein, habe ich es mir lange abgewöhnt, irgendetwas aus Werken auf den Erschaffer zu beziehen. Wenn ich weiß, dass er Anwalt ist und dann einen recht trockenen Stil an den Tag legt (der nicht unbedingt auf den Perspektivträger zurückzuführen), kann ich 1 und 1 zusammen zählen. Aber ich würde mich hüten, eine wie auch geartete Aussage einer Figur dem Autor in den Mund legen zu wollen.

Meiner Meinung nach leiten sich Verhaltensweisen und Äußerungen aus der Welt und dem Hintergrund der Figuren ab. Wenn die halt negative Erfahrungen mit Fremden gemacht haben, sind die eben vorsichtig (vor jedem Fremden, nicht unbedingt nur vor dem Klischeebild Refugee) und wem ein Böller in der Hand explodiert ist, überlegt zweimal, ob er so ein Ding nochmal in die Hand nimmt. Das heißt nicht, dass ich Fremdenfeindlichkeit als trivial betrachte. Ich frage mich nur manchmal, warum man Angst hat oder sich schämt, etwas zu schreiben, wenn es nicht gerade mit einem eigenen Traumata einher geht. Mir geht es gelegentlich auch so, so ist es nicht. Ich frage mich dann nur, ob das noch der Geschichte dient oder ob das nur menschliche Sensationsgeilheit ist. Wenn es der Sache dient, dann muss ich da wohl durch.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Tejoka

Echt eine interessante Diskussion. :pompom: Ihr habt mich schon ein paar mal zum Nachdenken gebracht.

Als Leserin finde ich es bei den meisten Büchern leicht, zu sehen, ob der Autor eine bestimmte Position eines seiner Charaktere als richtig darstellt oder nicht. Das hängt vielleicht damit zusammen, ob der Charakter generell eher positiv oder negativ dargestellt wird, wie andere darauf reagieren, ob er letzten Endes Erfolg hat, seine Meinung ändert oder sie ihm Probleme bereitet - aber manchmal kann ich gar nicht genau sagen, wieso, ich glaube einfach zu wissen, dass hier nur der Erzähler spricht, nicht der Autor. Ob das jetzt immer stimmt, weiß ich nicht :P

Das Problem, so etwas wie Missbrauch angemessen darzustellen, hat für mich wenig mit dem vorhergehenden zu tun. Hier habe ich den Eindruck, dass man oft unabsichtlich die Sachen herabmildert beim Schreiben. Zumindest weiß ich, dass ich da aufpassen muss. Gerade in der Fantasy ist es ja oft einfach, jemandem eine traumatische Backstory zu geben oder ihm etwas Schlimmes zustoßen zu lassen, um die Spannung zu vertiefen oder dem Charakter einen Stein in den Weg zu schmeißen oder so. Aber auch wenn man sich dann mit den Folgen davon befasst, ist das vielleicht nicht immer realistisch. Gerade die Langzeitfolgen diverser Traumata kommen meiner Empfindung nach oft nicht wirklich zum Vorschein. Wobei ich natürlich auch keine Psychologin bin.
Ich will hier niemandem etwas unterstellen, das ist mir nur aufgefallen.



Mondfräulein

Ich habe das Gefühl, hier wird über verschiedene Dinge gesprochen. Automatisch kann ich von den Meinungen einer Figur nicht auf die des Autors schließen, das wissen und merken die meisten Leser ganz automatisch, weil das, was eine Figur tut, denkt und sagt nie außerhalb des Kontextes existiert, in das der Leser dies setzt. Natürlich liegt es erst einmal nahe, die Werte des Protagonisten mit denen des Autoren gleichzusetzen, aber ich kann als Autor eine Menge tun, damit dem nicht so ist. Wenn meine Figur denkt, dass Frauen minderwertige Menschen sind, dann kommt es darauf an, ob das Buch/die Geschichte ihm Recht gibt oder widerspricht. Das kann alleine dadurch passieren, dass ich eine Frauenfigur in das Buch einbaue, auf die die Vorurteile der Figur nicht zutreffen, wodurch der Leser deutlich merkt, dass das so nicht stimmen kann. Ich kann ein Buch über eine ziemlich rassistische Mitarbeiterin einer Ausländerbehörde schreiben und gleichzeitig Rassismus kritisieren, indem ich zum Beispiel die Folgen ihres Tuns thematisiere und zeige, oder indem ich die Figur in ihrem Rassismus vorführe.

Wenn ich aber eine rassistische oder sexistische Figur schreibe und gleichzeitig nichts da ist, was darauf hindeuten könnte, dass die Figur nicht Recht hat und ich dabei nur darauf setze, dass der Leser schon wissen wird, dass Sexismus schlecht ist, dann weiß ich nicht, wie ich darauf kommen sollte, dass der Autor Sexismus nicht ganz so geil findet wie der Protagonist. Zum Beispiel eine ziemlich rassistische Bemerkung nebenbei, die die ziemlich rassistische Haltung des Protagonisten zeigt, ohne Folgen für den Plot oder irgendetwas, ohne Reflexion durch irgendetwas an irgendeiner anderen Stelle im Buch, ohne Widerspruch und ohne, dass der Protagonist sonst allgemein unsympathisch wirken soll. In diesem Fall weiß ich aber auch nicht, warum ich so eine krasse Meinung überhaupt ins Buch einbringen sollte, außer einfach um mich mal geil zu finden, weil ich etwas tue, was sonst niemand tut. Und ich weiß nicht, warum man erstreben oder darauf stolz sein sollte, dass man als Autor nach dem Lesen eines Buches mit Werten assoziiert wird, die man überhaupt nicht teilt.

Die Haltung der Protagonisten deckt sich nicht zwangsläufig mit dem, was ich hier mal die Grundaussage des Buches nenne - das, von dem ich als Leser am Ende denke, dass der Autor es mir sagen wollte. Das Buch über die rassistische Mitarbeiterin der Ausländerbehörde kann ziemlich schnell zu einem eindrucksvollen Plädoyer gegen Rassismus werden, wenn ich zum Beispiel für den Leser deutlich mache, welche Folgen diese Haltung für die Menschen hat, die sie betreuen soll, auch wenn die Mitarbeiterin diese Einsicht am Ende nicht teilt. Ich habe als Autor tausend und eine Möglichkeit, die Taten und Ansichten meiner Protagonisten für den Leser zu reflektieren, zu analysieren und zu kritisieren. Ich kann jedoch nicht erwarten, dass der Leser sich das schon irgendwie selbst zusammen reimt, weil er ja schon kein Rassist sein wird. Im besten Fall tut er das und denkt, ich als Autor bin rassistisch und liest keine Bücher mehr von mir. Im schlechtesten Fall stimmt er dem Buch zu. Denn warum sollte ein Autor, der nicht rassistisch ist, ein Buch schreiben, in dem der Protagonist Rassist sein darf, ohne dass es irgendwo einen subtilen Hinweis darauf gibt, dass Rassismus falsch ist?

Ein gutes Beispiel ist für mich Oscar Wilde. Immer wieder tauchen Zitate seiner Figuren als Zitate von ihm auf, obwohl man davon ausgehen kann, dass er das bestimmt alles nicht so gemeint hat, wie sie es gesagt haben, weil er auch durch seine Figuren teilweise sehr scharfe Gesellschaftskritik geübt hat. Das merkt man, wenn man das Buch oder Stück liest, nicht aber, wenn man nur das Zitat vor sich hat. Der Unterschied ist aber, dass man es im Buch merkt. Er hat sie das alles nicht einfach so sagen lassen, ohne sich darum zu scheren, wie das am Ende rüber kommt. Nach allem, was ich über Oscar Wilde weiß (und solange @Charlotte nicht kommt und mich korrigiert, die kennt sich da eindeutig besser aus als ich) hat er sich darüber wahrscheinlich sogar sehr, sehr viele Gedanken gemacht.

Meine persönliche Meinung ist, dass man seine Protagonisten schon krasse Meinung geben kann, aber nicht einfach so, weil "cool, niemand macht das sonst, aber ich, die große Autorin traue mich das". So ein Thema einzubringen ist einfach kompliziert und schwierig, die Thematik anspruchsvoll und die Gefahr, aus versehen etwas rüberzubringen, was ich gar nicht rüberbringen wollte, ziemlich groß. Ich würde das vielleicht damit vergleichen, einen ganzen Roman chronologisch rückwärts zu erzählen - das kann schon ziemlich geil werden und ein komplexes Meisterwerk - aber es ist auch einfach viel schwieriger, als es klassisch zu machen, braucht Planung, Fingerspitzengefühl, denn es ist viel einfacher, das in den Sand zu setzen als es gut zu machen. Viele meiner Figuren haben Meinungen und Haltungen, die ich nicht teile, aber ich überlege mir jedes Mal dennoch, was ich mit dem Buch sagen will und sorge dafür, dass das so auch rüber kommt.

Fianna

Wieso sind wir auf einmal bei Rassismus, Sexismus und den ganz harten Kamellen angelangt?
So etwas würde ich auch nicht unwidersprochen lassen, sei es durch Aktion oder Handeln.
Doch ich finde, eine Figur kann auch in weniger kriminellen Ansätzen eine destruktive Meinung vertreten, die man dementsprechend auch nicht stante pede auf Teufel komm raus negieren muss. Und da wünsche ich mir durchaus, dass Leser nicht automatisch alle möglichen Dinge auf den Autor projizieren, rechne aber damit, dass sie es doch tun (und bin bei Bekannten gleichzeitig genervt, wenn sie nicht trennen.
Ein Beispiel aus meinem Schreiballtag habe ich grad nicht zur Hand, aber es würde zum Beispiel passen "Du kannst nicht über Dein Schicksal bestimmen" oder sonst etwas in diese Richtung...  Ich dachte bei meinem Beitrag weiter oben eher an solche Dinge und nicht "Frauen sind minderwertig, sie verdienen es, dass ich auf ihnen herum trample und dann auf die Trümmer spucke!"
(Ersetze "Frau" durch beliebiges anderes Nomen.)

HauntingWitch

Zitat von: canis lupus niger am 10. Januar 2017, 15:21:17
Zitat von: Witch am 10. Januar 2017, 12:44:25
happy ever after, Ende. Das ist einfach Quatsch, so schön es auch klingt. Und ganz ehrlich, Leser, die lieber das möchten als das andere, sind dann halt eben nicht mein Zielpublikum. ;)

In dieser Hinsicht sind wir absolut einer Meinung. Ich hatte ja bloß geschrieben, dass manche Leser mit der Trennung von Buchcharaktermeinung und Autorenmeinung Schwierigkeiten haben. Einige andere Beiträge geben wieder, dass andere Mitglieder diesen Eindruck auch gewonnen haben. Deshalb halte ich es für sinnvoll zu überlegen, wie ich dem Leser helfe(n kann/muss), diese Trennung nachzuvollziehen.


*Argh, ich hab den letzten Satz korrigiert. War ja zum Fußnägel-Hochrollen!*

Dann habe ich dich einfach falsch verstanden, alles gut.  :)

Zitat von: Zitkalasa am 10. Januar 2017, 17:11:16
Meiner Meinung nach leiten sich Verhaltensweisen und Äußerungen aus der Welt und dem Hintergrund der Figuren ab. Wenn die halt negative Erfahrungen mit Fremden gemacht haben, sind die eben vorsichtig (vor jedem Fremden, nicht unbedingt nur vor dem Klischeebild Refugee) und wem ein Böller in der Hand explodiert ist, überlegt zweimal, ob er so ein Ding nochmal in die Hand nimmt. Das heißt nicht, dass ich Fremdenfeindlichkeit als trivial betrachte. Ich frage mich nur manchmal, warum man Angst hat oder sich schämt, etwas zu schreiben, wenn es nicht gerade mit einem eigenen Traumata einher geht.

Genau das. Diese Hemmungen möchte ich überwinden.

Okay, bevor es ausartet mit Rassismus, Sexismus usw. Ich bin zwar kein Mod, aber als Threadstellerin fühle ich mich doch ein bisschen verantwortlich. Ich denke, wir sind uns hier alle einig, dass diese Dinge nicht in Ordnung sind und man sie nicht verherrlichen oder verharmlosen sollte. Es wäre deshalb schön, wenn wir zum ursprünglichen Thema zurückkehren könnten, nämlich der Frage: Wie baue ich Hemmungen oder Angst, über etwas Bestimmtes/ein Thema zu schreiben, ab. ;)

Trippelschritt

Jetzt sind wir bei einem spannenden Punkt auf der Grenze zwischen Handwerk und Anspruch.

Zunächst einmal, so denke ich, kann man über alles schreiben und sollte es auch. Ich schreibe Fantasy in einer Art mittelalterlichen Welt und diese Welt ist sexistisch. So wie es wahrscheinlich auch das reale Mittelalter war. Und ich schreibe vor allem darüber, wie einige Frauen dait umgehen, und ob es Auswege gab oder Zwänge. Aber das nur am Rande, denn ...

Wo versteckt sich der Autor Trippelschritt in seinen Romanen? Klar ist, seine Figuren denken und handeln eigenständig und sprechen mit allerlei stimmen, aber keine mit der vom Trippelschritt. Und das weiß der Leser auch, denn anders als bei Romanen in der Ich-Perspektive, gibt es gleich mehrere Figuren mit widersprüchlichen Standpunkten. Wer soll denn da der Autor sein.
Vielleicht in der Erzählerstimme, wenn es denn so etwas gibt? Wohl auch nicht. die ist doch sehr anonym.

Der Autor steckt überall in winzigen Details, denn er hat die Geschichte ersonnen und die Figuren geschaffen. Aber damit lassen sich keine Rückschlüsse auf Meinung oder Intention ziehen. Aber die Möglichkeit besteht. Unbewusst können sich Worte einschleichen, die nicht von einem bestimmten Charakter stammen können. die müssen dann vom Autor sein. Und wenn der sie bewusst setzt, dann ist das an dieser Stelle hohe Kunst.

Wen das interessiert, der kann ja mal James wood lesen. "Die Kunst des Erzählens." Wood ist Literaturkritiker und kein Schriftsteller. Vielleicht kann er genaud eshalb so treffend darüber schreiben. Aber vorsicht, es ist keine ganz leichte Kost. Aber dafür eine Offenbarung. Kehlmann hat ein recht treffendes Vorwort zu diesem Buch geschrieben.

Liebe Grüße
Trippelschritt