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Wenn die Realität die Geschichte überholt

Begonnen von Guddy, 14. November 2015, 10:32:21

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Guddy

[Ich meine, dass es das Thema schon irgendwo gegeben hat, ich habe es auch gesucht, aber nicht gefunden. Möglicherweise wurde es auch nur im Quasselthread mal angesprochen. Falls es jemand findet, wäre ich natürlich über den Link dankbar!]

Hi,

wie ihr wohl auch bin ich erschüttert über das, was in Paris und Beirut passiert ist. Was tagtäglich passiert, natürlich, aber was sich sowohl geographisch, als auch dem Gefühl nach leider immer weiter nähert und daher umso realer wirkt.

Als Autor oder auch nur "Schreibender" finde ich es wichtig und richtig, reale Ereignisse zu thematisieren oder solche Thematiken wie Gewalt, Terror, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc. mit in die Geschichten einfließen zu lassen. Nicht nur, um es selber zu verarbeiten, sondern auch als eine Art Kritik und Reflexion. Nur: Wann fängt es an, geschmacklos zu werden? letztlich schreiben die meisten von uns "nur" Unterhaltungsliteratur.

Ich habe aktuell Bauchschmerzen, was meinen NaNo-Roman angeht, denn dort behandle ich auch solche Themen.  Auf keinen Fall möchte ich diese respektlos behandeln. Ich glaube zwar nicht, dass ich es tue, ich achte durchaus darauf, es gleichzeitig zu reflektieren und im Gesamtkontext zu bewerten, sodass sich letztlich eine Gesellschaftskritik daraus formt. Aber das schlechte Gefühl bleibt.

Wie geht ihr damit um, wenn Schreckliches aus euren Geschichten "plötzlich" allzu real ist?


Sascha

Ich bin ja einer, der solche Sachen ganz bewußt thematisiert, und das nicht immer bierernst und mit Feingefühl. Ganz bewußt. Und ich sehe es so:
Du kannst nie alles vermeiden, was in der Realität tatsächlich passiert. Dann darfst Du weder Flugzeuge abstürzen noch Schiffe sinken oder eben Bomben hochgehen lassen. Und das solltest Du auch nicht.
Geschmacklos wird es in meinen Augen dann, wenn man aus sowas einen Actionreißer macht oder einen Schmachtfetzen für die Tränendrüsen. In der Bücherei gibt es eine DVD mit 'nem Actionfilm über den 11.9., und ich weigere mich, den zu schauen. Weil ich es pervers finde, mit einem relativ kurzen "Anstands"-Abstand sowas auszuschlachten.
Aber gerade als Schriftsteller sollten wir sowas auch thematisieren, nach gründlichem Nachdenken und mit – sagen wir – Botschaft. Oder Aussage. Aber eben nicht einfach nur, um damit Kasse zu machen.

Lothen

#2
Ich glaube, solche Themen zu verschweigen, wäre grundsätzlich der falsche Weg. Egal, ob es sich um "ernste" oder "Unterhaltungsliteratur" (bewusst in Anführungszeichen) handelt.

Terror, Gewalt und Unterdrückung sind Themen, die die Menschheit seit Jahrhunderten quälen, und die uns vermutlich auch noch viele Jahrhunderte begleiten werden. Deswegen finde ich es auch wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, auch und gerade im Unterhaltungssektor.

Warum tun Menschen solche Dinge? Was bringt sie dazu, so unmenschliche Gewalt auszuüben? Wie gehen die Opfer damit um? Was ist der richtige, was der falsche Weg, Terror und Gewalt zu begegnen? Das sind wichtige Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Ich finde, gerade die Literatur ist ein guter Weg, Menschen zum Nachdenken zu bringen und sich mit verschiedenen Motivationen auseinanderzusetzen.

Sicher wird es Leser geben, die sich nicht damit beschäftigen wollen, aber die können solche Themen ja auch einfach umgehen.

Ansonsten bin ich da bei Sascha: Die Realität auszunutzen, um auf reißerische Weise Aufmerksamkeit zu erhaschen, ist geschmacklos. Solche Themen aufzugreifen und zu problematisieren, nicht.

Ich denke, es ist normal, dass man sich nach solchen Ereignissen diese Fragen stellt und ein komisches Gefühl hat. Aber ich glaube, es wäre der falsche Weg, danach bewusst nur noch über rosa Blümchen und Friede-Freude-Eierkuchen zu schreiben (überspitzt ausgedrückt).

Churke

Zitat von: Guddy am 14. November 2015, 10:32:21
Wie geht ihr damit um, wenn Schreckliches aus euren Geschichten "plötzlich" allzu real ist?

Ich glaube, ich weiß, was du meinst.
Ich erlebe leider auch nur zu oft, dass Dinge, die ich mir als Satire ausdenke, plötzlich grausige Realität werden. Objektiv bedeutet das nur, dass man als Autor gut gearbeitet hat. Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt nur, dass die Leute nicht wissen, dass ich mir das vorher ausgedacht also im Prinzip vorausgesagt habe.

Dämmerungshexe

Ich denke es lässt sich ganz einfach nicht vermeiden, dass es zwischen Realität und Fiktion solche Überschneidungen gibt. Denn ganz ehrlich: egal was für schreckliche Dinge und Greultaten wir uns "ausdenken", in der Wirklichkeit sind sie alle schon passiert. Es ist vor allem die Art, wie wir damit umgehen, wie wir beschreiben und darstellen, die wichtig ist. Ein Statement zu geben oder zum Nachdenken anzuregen.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Katha

Zitat von: Guddy am 14. November 2015, 10:32:21
Ich habe aktuell Bauchschmerzen, was meinen NaNo-Roman angeht, denn dort behandle ich auch solche Themen.  Auf keinen Fall möchte ich diese respektlos behandeln.

Ich verstehe dein Unwohlsein, denn mir erging es vor einiger Zeit ähnlich. Nicht mit einem Buch, sondern mit einem Computerspiel, das ich mitentwickelt habe. Dort wird dem Spieler innerhalb einer Mission aufgetragen, ein Flüchtlingslager zu bauen, um Flüchtlinge aus einem Krisengebiet evakuieren und sicher unterbringen zu können. Das Konzept für diese Mission entstand vor anderthalb Jahren, damals konnte keiner von uns die aktuelle Flüchtlingskrise vorausahnen. Dennoch fühlt man sich unbehaglich, wenn dieses Spiel dann mit diesen Inhalten auf den Markt kommt.

Das sind leider Sachen, die man nicht verhindern kann. Wie von Sascha bereits erwähnt, müsste man schon gänzlich auf jedes tragische Ereignis in den eigenen Geschichten verzichten, wenn man sich davor schützen will, dass ein solches nicht während des Schreibens real wird. Als Hobbyschreiber hat man glücklicherweise immer die Option, eine Geschichte abzubrechen. Bei Verlagsautoren mag das anders sein. Ratsam ist es immer, wenn man sich von Anfang an fragt, ob man mit der gewaltsamen Thematik der eigenen Geschichte feinfühlig und respektvoll umgehen kann. Denn wenn man sich dem nicht gewachsen fühlt oder die Thematik nur deshalb wählt, weil man sie für besonders "brutal", "schockierend" und damit für einen grandiosen "Eyecatcher" hält, dann sollte man eine solche Geschichte gar nicht erst angehen. Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, ob die Geschichte zur grausamen Realität wird oder nicht.

HauntingWitch

Ich unterschreibe bei Lothen und Dämmerungshexe. Mir ist gerade erst gestern wieder etwas untergekommen, das mich unsicher macht, ob mein neuestes fertiges Skript nicht doch ein bisschen zu, wie du schon sagst, geschmacklos ist. Ich denke mir dann immer, meine Texte sind grenzwertig und politisch unkorrekt und überhaupt sowieso viel zu abgründig. Aber letztendlich, wie könnte man diesen schrecklichen Dingen entgegen wirken, wenn man sie nicht thematisiert? Ich versuche immer, solche Sachen mehr aus einer analytischen Sicht heraus anzugehen, was passiert, warum passiert es, was bringt Menschen dazu und vor allem auch: Was macht es mit den Opfern? Ich hoffe, dass ich das respektvoll und korrekt darstellen und somit etwas Verständnis schaffen kann. Was der Gewalt und Grausamkeit entgegenwirkt.

Sicher sein, ob man das alles auch wirklich schafft, kann man, denke ich nie und irgendjemandem wird man immer auf die Füsse treten. Ich denke aber auch, dass man, allein dadurch, dass man etwas Positives bewirken möchte und sich Gedanken darüber macht, schon vieles richtig macht.

Angela

Minette Walters hat mal in einem Interview gesagt, dass sie sich schon bald nichts mehr auszudenken wagt, weil das dann in der Realität ebenfalls passiert. Wer ihre Bücher kennt, ahnt um was für Abgründe und Grausamkeiten es geht.
Ich denke, es ist eher anders herum: Erst wenn wir diese Dinge denken, nehmen wir die Ungeheuerlichkeiten der Welt wahr, die wir sonst schlicht ausblenden oder nicht so wirklich an uns heranlassen.

Sanne

Zitat von: Guddy am 14. November 2015, 10:32:21

Als Autor oder auch nur "Schreibender" finde ich es wichtig und richtig, reale Ereignisse zu thematisieren oder solche Thematiken wie Gewalt, Terror, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc. mit in die Geschichten einfließen zu lassen. Nicht nur, um es selber zu verarbeiten, sondern auch als eine Art Kritik und Reflexion. Nur: Wann fängt es an, geschmacklos zu werden? letztlich schreiben die meisten von uns "nur" Unterhaltungsliteratur.

Ich habe aktuell Bauchschmerzen, was meinen NaNo-Roman angeht, denn dort behandle ich auch solche Themen.  Auf keinen Fall möchte ich diese respektlos behandeln. Ich glaube zwar nicht, dass ich es tue, ich achte durchaus darauf, es gleichzeitig zu reflektieren und im Gesamtkontext zu bewerten, sodass sich letztlich eine Gesellschaftskritik daraus formt. Aber das schlechte Gefühl bleibt.


Genau das, liebe Guddy, ist der Grund, warum ich aus meinem Roman keine Schnipsel mehr einstellen möchte, weil mich das so mitnimmt, dass ich Angst habe, gerade jetzt irgendwo eine schwammige Formulierung vorzunehmen, die einen vor den Kopf stoßen könnte.

Ich bin immer noch total fassungslos - und wütend!


Slenderella

Ich versuche sehr solche Settings und Gegebenheiten zu vermeiden, einfach weil es mir selbst zu unangenehm ist - irgendwer könnte sich davon auf den Schlipps getreten fühlen und das möchte ich nicht. Ich möchte mit meinen Büchern unterhalten und Leute zum Träumen bringen und nicht jemaden verletzen, weil er Angehöriger oder Überlebender einer solchen Sache ist. Daher bewege ich mich weit entfernt von so realistischen Dingen und wenn ich einen Transfer vornehme, ist der so verfälscht, dass ich selbst schon nicht mehr weiß, weshalb es da ist.
Ich brauch noch eine Katze
Und ein Beil wär nicht verkehrt
Denn ich gehe heute abend
Auf ein Splatter-Pop-Konzert

LinaFranken

Das Thema spricht mir auch aus der Seele.
Ich habe oft Angst, das eines der Monumente, die meine Charas auf ihrer Reise besuchen und dort Unfug treiben, bis zu einer möglichen Veröffentlichung schon Schauplatz einer echter Tragödie sein könnten. -Aber ich denke davor kann man sich nicht schützen, wenn man die Handlung in der echten Welt ansiedelt.
Was Respektvollen Umgang mit heiklen Themen angeht, da halte ich mich an folgendes Rezept:
Ich lasse immer mehrere Charas auftreten. Einer stellt immer provokativ dumme Fragen, damit die anderen ihm die geschichtlichen Fakten oder kulturellen Hintergründe erläutern können. Ein anderer zeigt sich wiederrum herzlos, damit ein weiterer dann die menschlichen Aspekte aufzeigen kann. Ich lasse also mehrere Charas verschiedene Sichtweisen beleuchten, gerade wenn es um kulturelle Unterschiede geht.
Meine eigene Meinung als Autor lasse ich meist nicht durchblicken, zumal ich denke, das sie oft zynisch oder pessimistisch verstanden werden könnte.

Slenderella

Ich habe zuletzt meine "Helden" (ich begleite die bösen als "Gute") in Paris eine ziemliche Massenpanik auslösen lassen ... die Geschichte ist 14 Jahre alt und ich habe sie neu geschrieben, aber Paris als Setting ist geblieben, weil ich die Stadt liebe und mich dort gut auskenne ... tja ... nun haben wir den Salat. Ist mir jetzt selbst unangenehm, habe es allerdings ein paar Wochen vor den Attentaten an einen Verlag geschickt.
Mir ist das dieser Tage erst aufgefallen wie ungut das jetzt so kommt, wenn man das liest. Ich glaub die Geschichte hake ich mal besser ab.
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LinaFranken

Zitat von: Slenderella am 05. Dezember 2015, 19:10:08

Mir ist das dieser Tage erst aufgefallen wie ungut das jetzt so kommt, wenn man das liest. Ich glaub die Geschichte hake ich mal besser ab.
Wenn du deine Geschichte sonst magst und von ihr überzeugt bist, solltest du dich dadurch nicht entmutigen lassen.
Also ich muss es ganz ehrlich sagen, das ich es erschreckend finde, wenn Autoren jetzt plötzlich Angst haben, ihre Geschichten deshalb weiterzuverfolgen. Ich finde "JETZT ERST RECHT!" Gerade Künstler sind es, die normalerweise zuerst den Mut haben etwas Neues auszuprobieren oder etwas Falsches an den Pranger zu stellen.
Auch wenn man ein "böses" Szenario kreiert hat, was letztendlich später so ähnlich geschehen ist, darf man meiner Meinung nach nicht aufhören. Das ist genau das, was solche Anschläge bewirken wollen: Das die Menschen Angst haben vor freier Meinungsäußerung. Ich finde, da sollten wir als Autoren (egal ob Hobby oder beruflich) mit guten Beispiel vorangehen und sagen: Ich schreibe, was ich will!


Slenderella

Da ich es eh schon weggeschickt habe, hab ich darauf keinen Einfluss mehr.
Soll der Verlag entscheiden, wie er das handhaben möchte. Ich nehme nur gerne Orte, an denen ich mich selbst auskenne, damit ich keinen Unsinn schreibe (oder ich habe akribisch Google Street View offen, um wenigstens Straßennamen zu haben und eine grobe Übersicht). Deswegen ist auch meine Wahl auf Paris gefallen, weil ich dort einfach so oft bin.
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FeeamPC

Wenn wir bei so etwas sicher sein wollen, nicht mit der Realität zu kollidieren,müssen wir konsequent auf unmögliche Katastrophen ausweichen- z.B. Überfälle von Ogern und Drachen.
Ansonsten kann die Wirklichkeit uns immer einholen.
Andererseits- wie oft ist die Titanic verfilmt oder als Buch geschrieben worden?