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Historische Ungenauigkeit - wie viel davon verzeiht der Leser

Begonnen von Feuertraum, 30. Oktober 2013, 12:09:38

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Churke

Mittelhochdeutsch... ist eine literarische Kunstsprache der Höfe. Der deutsche Michel hat so eher nicht geredet. Aber es hat sich, glaube ich, auch noch niemand beschwert, dass Jerry Cotton so gut deutsch spricht.  ;D

Drachenfeder

Zitat von: Pygmalion am 10. Januar 2014, 16:41:53
Und wieso braucht man dazu erfundene Städte, Burgen und gar Berge? Einen Berg zu erfinden, den es nie gegeben hat, ist nicht nur historisch, sondern auch geologisch falsch :D Es gibt soviele Städte, Dörfer, Berge und Burgen, wieso die Notwendigkeit, sie zu erfinden?

Warum nicht? Ich zum Beispiel benötige einige fiktive Dinge, da es keine geeigneten Dörfer, Burgen usw. gab, die ich für eine bestimmte Idee nutzen kann. Trotzdem bleiben Fakten (König, Bischof, das Umland, die Hauptstadt, Sterbedaten, Krönungsdaten, allg. das Leben im Mittelalter usw.) erhalten und korrekt umgesetzt. Ich bin auch dagegen historische Fakten zu missachtent. Dabei denke ich gerade an Majas Schuhputzmachine. Ich kann auch keine Droschke in eine Story aufnehmen, wenn es die damals noch nicht gegeben hat. So etwas muss recherchiert werden. Aber warum keine Kreativität mit hineinbringen die niemanden wehtut?  Dann dürfte es auch keinen Lincoln geben, der Vampire jagt, da das historisch ja schließlich nicht belegt ist.



Kati

Zitat von: Sternlichtch habe nicht über Genres geschrieben, sondern über den Inhalt und Schwerpunkt der Geschichte. Da liegt für mich der entscheidende Punkt.
Deine kategorische Abgrenzung von "Fantasyanteil" und "echter Welt" kann ich nicht nachvollziehen. Der Autor entscheidend, was er von der echten Welt übernimmt. Das kann sich nur auf die Vampire beziehen oder auch auf andere Teile der Geschichte. Ich könnte mich für einem Vampirroman auch begeistern, wenn der historische Hintergrund nicht historisch korrekt beschrieben wird. Das könnte sogar den Reiz ausmachen, mich überraschen und neugierig machen oder ein besonderes Stilmittel sein. In der Fantasy sind der Kreativität für mich keine Grenzen gesetzt, aber da sind wir wohl unterschiedlicher Meinung  :).

Das denke ich auch.  :) Ich habe ja auch nicht gesagt, dass alle es so machen müssen, nur, dass ich das so mache. Ich könnte mich zum Beispiel für einen Vampirroman nicht begeistern, wenn große historische Fehler gemacht werden, die mit der Handlung überhaupt nichts zu tun haben. Da ist für mich einfach kein Unterschied zwischen Fantasy und nicht-Fantasy. Ich glaube, das was du meinst, ist aber auch viel eher alternative Geschichte. Das ist ein eigenes Genre, in dem man nach Belieben mit der Geschichte spielen, Fakten verdrehen und anders auslegen kann. Ich mag das Genre, weil ich es spannend finde zu sehen, wie etwas hätte laufen können, was anders verlaufen ist. Aber, wenn ein Roman nicht als alternative Geschichte gekennzeichnet ist oder halt vorgibt, ein historischer Roman zu sein, ist es mir egal, ob Krimi oder Fantasy. Wenn ein Autor da Fakten verdreht, also zum Beispiel den Beginn von Weltkrieg I auf 1910 vorzieht, weil es ihm gerade besser passt, ist das für mich ein Grund, den Roman wegzulegen. Und da ist es egal, ob der Roman ein Kriegsdrama ist, ein Krimi oder eben ein Fantasyroman, in dem Vampire vorkommen.

Ich hatte es ja schon gesagt. Für mich (!) ist auch in der Fantasy nicht alles erlaubt. Genauso wie ein Fantasyroman für mich logisch sein muss (wenn auch nicht realistisch, großer Unterschied), muss er auch historisch authentisch sein, wenn drauf steht, es ist ein historischer Phantastikroman. Das ist ganz einfach, denke ich. Andere sehen das ganz anders, aber für mich ist das eben so und ich schreibe auch so meine eigenen historischen Fantasyromane. Nur, weil mein Protagonist Geister sehen kann, ist das halt keine Entschuldigung, ein paar historische Ereignisse anders hinzulegen, weil ich das gerade so will. Ich wollte zum Beispiel eigentlich das Zugunglück von Montparnasse im Roman haben. Das war nur leider fünf Jahre vor meiner Handlung. Natürlich könnte ich das einfach nochmal passieren lassen. Aber nein, da muss ich mich entscheiden, ob mir mein Setting wichtiger ist, oder dieses Zugunglück. Ich kann entweder den Roman in dem früheren Jahr spielen lassen, oder ich muss das Zugunglück rauslassen und meine Jahreszahl behalten. Beides kann ich dann aber nicht haben.

Zitat von: AphelionDazu gehört v.a. die generelle Denkweise von Figuren ... Emanze im Mittellter kann ich nichtmal mehr ansehen. 

Dabei darf man aber auch nicht vergessen, dass nur, weil eine andere Gesellschaftsform herrschte, alle Figuren gleich denken und alles tun müssen, was die Gesellschaft ihnen vorgibt. Ist das heute so? Nein. Was wichtig ist, ist einfach deutlich zu machen, wie die Gesellschaft denkt. Das Individuum ist aber nicht die Gesellschaft. Wenn ich eine emanzipierte Frau im Mittelalter schreiben möchte, muss ich halt bedenken, was für Gedankengut die Frau von ihrer Gesellschaft gelernt hat, womit sie aufgewachsen ist und was man ihr immer und immer wieder gesagt hat. Danach wird sie sich richten. Wenn sie Gedanken hat, die gegen diese Norm gehen, dann finde ich es wichtig, auch genau zu zeigen, dass es eben keine Gedanken sind, die jeder hatte oder die in dieser Zeit willkommen waren. Da muss man dann den Konflikt in der Figur sehen zwischen dem, was sie immer gelernt hat und dem, was sie neuerdings für richtig hält. Auch in früheren Epochen waren nicht alle Menschen passiv und haben konform alle Gesellschaftsnormen toll gefunden. Auch, wenn es erst mit der Aufklärung akzeptierter wurde, selbst zu denken (überspitzt gesagt), heißt das nicht, dass es keiner vorher gemacht hat.

Das ist eh ein großes Problem im Genre. Manche Leute kratzen bloß an der Oberfläche und schauen nicht weiter. Wenn es irgendwo heißt Viktorianer waren prüde, dann übernehmen sie das so und schreiben bloß prüde Figuren, die rot werden, wenn sie einen Fußknöchel sehen und auf Fotos nie lächeln. Wenn man mal richtig weiter recherchiert, findet man aber einiges, dass dieses Klischee wiederlegt. Es gibt haufenweise heftige viktorianische Pornographie, es gibt Tagebücher, in denen viktorianische Mädchen schildern, wie makellos ihr Ruf ist und wie gut sie ihre Schandtaten geheim halten können, es gibt eine Unterwelt für allerlei Gauner und Gesindel. Wenn alle Viktorianer so prüde waren, wie wir glauben, wer hat dann die pornographischen Magazine und Bilder gekauft?  ;) Das gilt für alle Zeiten. Das gilt auch dafür, dass Marie Antoinette angeblich eine hohle Nuss war und dafür, dass es vor 1900 keine schwarzen Menschen in Europa gab und dafür, dass es im Mittelalter keine Frauen gegeben hat, die weiter gedacht haben, als es ihnen die Gesellschaft erlauben wollte.

Wichtig ist, dass man begreift, dass die gesellschaftlichen Ideale, die man in der Literatur oft als Fakten vermittelt bekommt, eben keine Fakten sind, sondern Ideale. Ein Ideal kann niemand erreichen und nicht jedes Ideal ist toll. Man muss in einem historischen Roman nur sich bewusst sein, dass man die Gesellschaft als Gruppe nach diesem Ideal streben lassen muss. Allerdings müssen einzelne Figuren deshalb nicht jede Etikette toll finden auch, wenn sie sich danach verhalten, weil es eben erwartet wird. Wir heute als Gesellschaft funktionieren doch immer noch genau so. Keiner erreicht wirklich das vorgegebene Schönheitsideal und keiner ist so sauber und perfekt, wie der ideale Mensch angeblich sein muss, oder? Das gilt für alle Zeiten. Das heißt jetzt nicht, dass ich eine Frau schreiben kann, die im Mittelalter feministisch denkt, ihr Ding durchzieht und alle gucken zu und klatschen. Aber ich kann eine Frau schreiben, die im Mittelalter feministisch denkt, sich mit dem auseinandersetzt, was ihre Gesellschaft ihr vorlebt, von anderen Leuten kritisiert und angefeindet wird und sich öffentlich so verhält, wie es erwartet wird, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.

Ansonsten möchte ich mal Majas und Drachenfeders Posts unterschreiben.  :jau: