• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Historisches Setting - Mut zur Lücke?

Begonnen von Steffi, 18. Juli 2013, 14:58:37

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 2 Gäste betrachten dieses Thema.

Steffi

(Vorab: ich könnte schwören, dass wir dazu mal einen offenen Diskussionsthread hatten, aber ich habe zwei Stunden lang die Suchfunktion mit allen möglichen Schlagwörtern traktiert und bin zu keinem Ergebnis gekommen. Entweder stehen Suchmaschinen und ich wirklich auf Kriegsfuß - es würde mich nicht überraschen - oder in der Form haben wir das Thema tatsächlich noch nicht besprochen. Ihr Mods möget mir verzeigen, ich habe mich wirklich, wirklich bemüht.)




Alle Jahre wieder überkommt mich das Bedürfnis, einen Roman nicht nur an einem anderen Ort, sondern am besten auch noch in einer anderen Zeit spielen zu lasse, was mich Google-fu untaugliche Person immer wieder an die Grenzen meiner Recherchefertigkeit treibt. Es hat mich schon bei meinem viktorianischen Edinburgh in den Wahnsinn getrieben und jetzt stehe ich schon wieder davor.

Was mir die größten Probleme bereitet ist, das Alltagsleben und die Konventionen, also auch die Denkmuster, zu recherchieren, nachzuvollziehen und entsprechend wiederzugeben. Einen Teil davon findet man ja im Internet, anderes in Büchern, aber was, wenn sich Details partout nicht auftreiben lassen? Wie handhabt ihr das?

Mein aktuelles Beispiel ist im New York der 30er angesiedelt. Meine Hauptfigur arbeitet am Anfang des Romans an den Docks und da fängt es schon an: die Hafenarbeiter waren unter anderem dafür zuständig, die Schiffe zu beladen/entladen und zwar alle Kisten einzeln (Container gab es nicht): wie genau lief das ab? Wieviel verdiente ein Hafenarbeiter? Konnte man sich davon eine Wohnung leisten oder musste man unterm Pappkarton in Central Park schlafen? Und war es gesellschaftlich okay, sich eine Wohnung mit einem Mann zu teilen? (Ich weiß, dass in "Little House on the Prairie" zwei "Bachelors" gibt, die sich eine Farm teilen und ich überlege immer noch, ob das ein Code für ein homosexuelles Paar ist ;)  )

Diese Infos finde ich wahnsinnig schwer aufzutreiben und ich frage mich, wieviel "Mut zur Lücke" ich mir gönnen soll. Wie macht ihr das? Wenn ihr etwas nicht herausfinden könnt, lasst ihr das Element dann ganz weg oder überspielt ihr die Lücke selbstbewusst und hofft darauf, dass es niemand merkt?

Wieviel "Lücke" ist für euch okay?

Sic parvis magna

Kati

Hmm, das sind so Dinge, die man sich irgendwann denken kann, wenn man in der Materie drin ist. Also, wenn man sich genug in die Zeit eingelesen hat, kann man die Gedanken weiterspinnen und kommt auf eine passende Lösung, die sinnvoll erscheint. Weißt du, was ich meine? Ich weiß auch längst nicht alles über meine Lieblingsepoche, ich glaube, das geht gar nicht, aber irgendwann ist man so sehr drin im Thema, dass man auf manche Sachen auch ohne große Recherche kommt, weil man anderes Wissen zusammensetzen kann. Bei deinem Thema, gibt es über die Hafenarbeiter wirklich überhaupt keine Bücher? Hast du eine Unibibliothek in deiner Nähe, da gibt es eigentlich zu jedem Thema mindestens eine Arbeit auszuleihen. Es gibt auf alle Fälle von William Mello das Buch "New York Longshoremen", was sich mit ungefähr diesem Thema befasst (leider aber in den 40ern, nicht 30ern), vielleicht kannst du das irgendwie beschaffen? Aus derselben Reihe ist von Bruce Nelson "Workers on the Waterfront", das sind die 30er, aber eben nicht nur New York. Aber vielleicht kannst du dir aus beiden Büchern genug Infos sammeln, um dann beide Themen sinnvoll zusammenzuführen?   

Lücke ist für mich immer genau dann angebracht, wenn man die Infos einfach nirgendwo auftreiben kann, weil die Geschichte sie geschluckt hat. Man kann ja gar nicht alles recherchieren, und, wenn zum Beispiel überhaupt nicht rauszukriegen ist, wie etwas wann war, dann ist auch die Gefahr nicht so groß, dass irgendwo ein Experte sitzt und das doch weiß. Geschichte ist ja zumindest im schriftstellerischen Bereich irgendwie auch immer Interpretation, man bewertet ja die Geschehnisse in seiner Erzählung und ein Ereignis kann, von zwei Seiten betrachtet, ganz anders konnotiert werden. Oder eine wahre historische Persönlichkeit kann man als "gut" oder "böse" darstellen, wie man es halt auslegt. Wenn nun also eine Lücke da ist und man sich genug Wissen angelesen hat, kann man die meist sinnvoll und überzeugend füllen, indem man einfach in den Bahnen denkt, in denen man das Ereignis aufgebaut hat. Ergibt das Sinn?

Was für mich überhaupt nicht okay ist, ist Geschichte zu verdrehen, weil einem gerade danach ist und das besser in den Plot passt, obwohl es Belege gibt, dass es so einfach nicht wahr. Ein abstruses Beispiel wäre eine wahre historische Persönlichkeit als hübsch und schön zu bezeichnen, wenn man Zeitzeugenberichte hat, dass die Person in ihrer Zeit nicht als schön empfunden wurde. Das läuft mir oft über den Weg, aber eben auch größere Dinge, wie das Verlegen von Ereignissen um einige Jahre, weil´s halt so gut in die Handlung passt. Die Grenze zur Alternativen Geschichte ist da immer dünn, und ich finde, wenn dann auch ganz. Dann muss man sein Buch auch als alternative Geschichte kennzeichnen und nicht als historischen Roman. Mein liebstes Beispiel ist ein Roman, in dem Tesla auf der Titanic reist und sie mit seiner Erdbebenmaschine zum Untergang bringt. Als alternative Geschichte mag das eine interessante Idee sein, aber bis zu diesem Ereignis spielte der Roman ganz gewöhnlich historischer Roman und ist auch als solcher gekennzeichnet.

Um es kurz zu machen: Geschichte verdrehen oder aus Faulheit einfach irgendwas schreiben ist bei einem rein historischen Roman zu viel Lücke. Aber wirkliche Lücken, die in der Berichterstattung einfach da sind und nicht durch Recherche gefüllt werden können, kann man sehr gut selbst füllen, wenn man in den Bahnen bleibt, die die Zeit ja durchaus vorgibt. Das wären dann meine zwei Cent dazu.  :)

Und um nochmal kurz auf dein Wohnungsproblem zurück zu kommen: Ich denke, es ist schon sehr wahrscheinlich, dass ein Dockarbeiter sich eine sehr billige Wohnung leisten kann. Besonders, wenn er sie mit einem anderen Arbeiter teilt und die Miete dadurch geringer wurde. Das dürfte in deiner Zeit auch kein Problem sein, besonders in der Arbeiterklasse. Ich kenne mich mit den 30ern aber nicht aus, ich weiß nur, dass es im viktorianischen New York nicht unüblich war, dass mehrere Arbeiter sich Wohnungen teilten. 

gbwolf

#2
Zitat von: Steffi am 18. Juli 2013, 14:58:37Wieviel "Lücke" ist für euch okay?
So viel Lücke, wie einem das Genre erlaubt. "Form follows function", sage ich mir hier immer. Am Ende entscheidet es die Glaubwürdigkeit des Gesamtwerkes, also ob die Zielgruppe, an die sich der Roman richtet, den Text spannend und glaubwürdig findet.

Momentan lese ich sowohl militärische Action-Thriller, als auch Military-Romance.
In Genre 1 werden die Namen von Waffen herumgeschmissen, die Geschwindigkeit von Kugeln, Details zum internen Umgang zwischen SAS-Soldaten und zu den Gebäuden in Credenhill - Zielgruppe sind Männer, die größtenteils den Unterschied zwischen G3 und G36 kennen und ein Hühnchen rupfen würden, wenn der Übersetzer Maschinengewehr und Maschinenpistole verwechseln würde.
In Genre 2 geht es vor allem um die hübschen Jungs in Uniform. Der politische Hintergrund passt so, wie man ihn aus der Zeitung kennt, die Jungs verhalten sich einigermaßen glaubwürdig untereinander und ab und an wird eine namenlose Waffe gezückt. Teilweise reden die Kerle untereinander über Gefühle, dass man vergessen könnte, Männer vor sich zu haben. Die Zielgruppe sind Frauen, denen die Chemie zwischen den Protagonisten wichtiger ist, als die Namen von Tarnmustern auf Uniformen und die Funktionsweise von Minidrohnen.


An wen richtest du deine Geschichte?

Chris

Ich bin ein Recherche-Freak und versuche, so viel wie möglich herauszufinden, und bin der festen Überzeugung, dass Leserinnen und Leser das zu schätzen wissen (oder ich rede es mir ein, damit die Arbeit sich gelohnt hat!).

Für Alltagsfragen hilfreich sind Zeitungen oder Zeitschriften, die es oft als Online-Archive gibt, Gerichtsakten oder Biographien. Klasse sind auch Romane aus der Zeit, die in dem Milieu spielen, das Dich interessiert. Filme, vor allem Dokumentationen, gibt es zu den unglaublichsten Themen. Youtube ist eine echte Fundgrube.
Zum Thema Dockarbeiter und deren Lebenssituation würde ich nachsehen unter den Stichworten "Gewerkschaft", "Arbeitskampf" und ähnliches.
Und ich würde hier mal unverbindlich anfragen: http://nygeschichte.blogspot.de/2009/02/great-hoboken-pier-fire-of-1900.html

Letztlich ist es eine Frage, womit Du Dich wohlfühlst - neben der Genre-Frage, da stimme ich Nadine zu. Ich habe immer Panik vor Leserinnen oder Lesern, deren Hobby meine Romanzeit ist und die mir dann Fehler haarklein bei Amazon nachweisen.

Viel Erfolg und liebe Grüße
Chris


gbwolf

Da ich mich auch an einen ähnlichen Thread erinnere: Wie detailliert recherchiert ihr?
Meinst du diesen, Steffi?

Churke

Zitat von: Steffi am 18. Juli 2013, 14:58:37
Mein aktuelles Beispiel ist im New York der 30er angesiedelt. Meine Hauptfigur arbeitet am Anfang des Romans an den Docks und da fängt es schon an: die Hafenarbeiter waren unter anderem dafür zuständig, die Schiffe zu beladen/entladen und zwar alle Kisten einzeln (Container gab es nicht): wie genau lief das ab?

Nach dem, was ich von meiner Oma aus den 50ern weiß, vermute (!) ich, dass die Dockarbeiter schon damals gewerkschaftlich organisiert waren (Teamsters) und genau wie heute zu den absoluten Spitzenverdienern zählten. Ein Streik der Dockarbeiter ist für die Arbeitgeber so irrsinnig teuer, dass er sofort vorbei ist.
Die Teamsters arbeiteten in großem Stil mit der Mafia zusammen und man darf davon ausgehen, dass die Jobs vererbt, verlost oder auf Empfehlung besetzt wurden.

So lange ich in der Materie keine Spezialkenntnisse hätte, würde ich das lassen. Da kann sonst schnell peinlich werden.

Nach der Teamsters-Story ist übrigens F.I.S.T. gemacht. Mit Sylvester Stallone:
http://de.wikipedia.org/wiki/F.I.S.T._%E2%80%93_Ein_Mann_geht_seinen_Weg

1948 im Dockarbeiter-Milieu:
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Faust_im_Nacken

Ansonsten gibt's noch jede Menge Filme aus der Zeit.

Coppelia

#6
Meiner Meinung nach kann man überhaupt nur mit Mut zur Lücke einen historischen Roman schreiben. Und ich habe den vagen Verdacht, dass der Mut zur Lücke schwindet, je mehr man sich (wissenschaftlich) mit einem Thema befasst hat - weil man dann erst erkennt, wie umfangreich das Thema ist, wie viele widersprüchliche Forschungsmeinungen es gibt, und welche unendlichen sonstigen Details sonst noch beachtet werden müssten.

Ich z. B., Latinist, möchte seit Jahren einen Roman über eine bestimmte Person aus dem alten Rom schreiben. Ich kenne mich auch mit Geschichte dieser Zeit relativ gut aus. Habe mich in den letzten Jahren allmählich durch die antiken Texte gearbeitet, in denen diese Person eine Rolle spielt. Habe zusammenfassende Forschungsliteratur gelesen. Und wahrscheinlich werde ich mich nie trauen, auch nur eine Zeile an diesem Roman zu schreiben (nein, das stimmt nicht, ich hab schon mal 10 Probezeilen oder so geschrieben). ;)

Es ist nämlich wirklich übel.
Die Person wohnt in einem Haus? Schön, Häuser im alten Rom sind ein Thema, mit dem man sich jahrelang befassen kann. Sie trägt Kleidung? Siehe Stichwort "Haus". Sie heiratet? Ok, dann sollte ich lieber alles über die Ehegesetzgebung wissen. Sie führt Krieg? Hallo, Forschung über das Militärwesen. Sie war am römischen Bürgerkrieg beteiligt? Hallo, Regalwände voller Fachliteratur. Und wenn ich mir dann den einen oder anderen Text durchlese, fällt mir auf, dass oft Autoren als Quellen genannt werden, deren Texte ich als historische Quellen für nicht allzu glaubwürdig halte. Zum Beispiel der Epiker, über den ich promoviert habe und über den ich auch auf diese historische Person gekommen bin. Aber das ist im Vergleich zu der riesigen Menge an Literatur und anfallenden Details eher ein untergeordnetes Problem.
Und es ist nicht einmal so, dass ich über all die Dinge nichts wüsste. Aber ich glaube, ich könnte sehr viel besser darüber schreiben, wenn ich weniger wüsste und mich weniger damit beschäftigt hätte. So weiß ich: Würde ich darüber schreiben, selbst wenn ich noch 20 Jahre lang recherchiere, würde ich trotzdem unzählige Fehler machen. Und, ja, ich bin sicher: Spitzfindige Leser würden sie bemerken! Nicht dass mir das nicht egal sein könnte, aber im Moment ist mir allein der Gedanke daran peinlich.

Ich habe einmal einem "Normalo", Nicht-Wissenschaftler, von einem speziellen Rechercheproblem erzählt. Und er meinte prompt: "Das war so und so!" Daraufhin habe ich ihn gefragt, woher er das denn wüsste. Er meinte, dass er, glaubte er, das mal in einer Doku gesehen hat. Er hatte überhaupt keine Probleme damit, sicher zu sein, wie "es war", und wenn er den Roman hätte schreiben müssen, hätte es es wohl einfach so geschrieben.
Hätte ich es so geschrieben, wie er meinte, wären wahrscheinlich die meisten Leser damit völlig zufrieden. Aber mir fällt das schwer. Ich traue leider auch keinen Dokus mehr, seitdem einer unserer Profs erzählt hat, wie er mal an einer Doku teilnehmen "durfte".

Ich sollte den Roman am besten einfach nur zu meinem eigenen Spaß schreiben - Fehler erlaubt. Ich habe Ansprüche, die ich unmöglich erfüllen kann.

Mein Tipp an dich: Bloß nicht zuviel Fachliteratur lesen! Fehler werden so oder so passieren, und sie werden zahlreicher sein als die Fruchtfliegen im Sommer. ;) Aber sie werden den meisten Lesern nicht auffallen.

Amber

Mein Roman spielt Anfang des 18. Jahrhunderts in Paris und ich bin jetzt auch schon jahrelang am Recherchieren dafür. Aber es ist, wie Coppelia schreibt: Je mehr man weiß, desto unsicherer wird man. Teilweise hat mich das so in meinem Schreibfluss gehemmt, dass ich irgendwann nicht mehr weiter wusste und totalen information overload eingebaut habe. Dann habe ich mir gesagt - auch unter dem Einfluss der Postmoderne-Seminare an der Uni und der Sicht, dass jede historische Darstellung irgendwie Fiktion ist - ich mach das jetzt einfach nach bestem Wissen und Gewissen, aber die Story und die Charas stehen für mich an erster Stelle. Deshalb finde ich es auch nicht schlimm, ein Ereignis mal ein paar Jahre vor oder zurück zu versetzen, wenn es besser in meinen Plot passt. Natürlich keine großen politischen Ereignisse wie etwa die französische Revolution, aber kleinere Dinge im Leben einer historischen Figur schon.

Es kommt natürlich, wie Nadine schon schreibt, drauf an, was für einen Anspruch man hat. Wenn man eine Epoche dokumentieren will (viel Spaß dabei), muss man natürlich näher an den Fakten bleiben. Ich will in erster Linie einen Entwicklungsroman schreiben, der zwar schon grob in seiner Zeit verwurzelt ist, bei dem die Fakten mich aber weniger interessieren als das Seelenleben meiner Charas.

Valaé

Ich kann Coppelias Post geradewegs unterschreiben ... seitdem ich Germanistik studiere und mich schwerpunktmäßig in der Mediävistik bewege, habe ich es vollkommen aufgegeben, mal einen historischen Roman, der im europäischen Mittelalter spielt, zu verfassen. Die, die nur wenig darüber wissen meinen zwar immer so schön, dass man ja prädestiniert dafür wäre - aber man ist eben auch prädestiniert für Selbstzweifel und je mehr man darüber weiß, desto eher weiß man auch, was man alles nicht weiß und in welche Fettnäpfchen man treten kann. Mir ist beim wissenschaftlichen Arbeiten nach und nach auch aufgegangen, dass ich niemals eine so ausführliche Recherche betreiben könnte, um mich selbst zufrieden zu stellen. Sogar an Kurzgeschichten innerhalb dieses Settings scheitere ich grandios. Ich habe eine Idee, aber ich getraue mich nicht, sie nur auf mein Wissen zu gründen, weil mir das zu schwammig wirkt und sogar eine kleine Kurzgeschichte zieht dann Stunden von Recherche nach sich und am Ende bin ich unsicherer als zuvor.
Das soll natürlich nicht heißen, dass man gar nicht recherchieren sollte - aber ich denke vor allem ein grundlegendes Wissen darüber, wie diese Epoche in der heutigen Rezeption gesehen wird, reicht oftmals aus für die Ansprüche der Leser. Oft reicht sie nicht für die eigenen Ansprüche, aber auch hier muss man sich eben fragen, wie weit man gehen will und aufpassen, nicht zu sehr in die Tiefe zu gehen bei der Recherche, weil man sich wirklich in einem Bereich bewegt, wo jedes Wissen, das man erwirbt, nur weitere Wege aufzeigt, wie man noch tiefer schürfen kann ... ein endloses Loch.
Daher: Mut zur Lücke halte auch ich für absolut essentiell um historische Romane zu schreiben. Wie viel man letztlich recherchiert und wo man Gefahr gerät, sich zu verlieren ebenso wie wo man wirklich nochmal nachlesen sollte, muss im Einzelfall jeder selbst wissen. Eine gut fundierte Allgemeinbildung über dieses Thema sollte ausreichen. Wissenschaftliche Beschäftigung damit ist eher hinderlich.

Kati

#9
Das Problem ist für mich, dass es mir egal ist, ob der Leser die Fehler bemerkt oder nicht, es geht mir darum, dass ich selbst nicht dahinter stehen kann, wenn ich etwas sehr Falsches behauptet habe. Natürlich passieren immer kleine Fehler, aber mir geht es um die großen Schnitzer. Na klar, viele Leser bemerken auch die nicht, aber will man das? Und ja, ich kann auch bestätigen, dass man immer unsicherer wird, je mehr man über die Epoche weiß. Aber ich möchte es trotzdem nicht anders haben. Noch viel schlimmer finde ich, mit Halbwissen an eine Geschichte ranzugehen, oder gar Klischeewissen. Allerdings geht es mir viel mehr um Atmosphäre und dergleichen, als um harte Fakten und eine schöne Atmo kann man auch schaffen, wenn es kleine Fehler gibt. Aber auch eine dichte historische Atmosphäre kriegt man nicht von irgendwoher und schon gar nicht, indem man alte Klischees breit tritt und weiterverwertet. Mir geht es nach Jahren der Recherche eigentlich so, dass ich mich in meiner Epoche sehr wohl fühle und die alten Unsicherheiten nur noch selten auftreten. Ich würde aber auch nicht auf die Idee kommen, die Epoche zu wechseln, da traue ich mich einfach nicht ran, da fehlt mir eben die umfassende Recherche.

EDIT: Als Beispiel mal. Es gibt ja dieses Klischee, das Queen Victoria immer bitter, streng und not amused war und das ist einfach nicht wahr. Versuche ich in meinem Roman jetzt aufgrund von Victorias Tagebüchern ein anderes Bild zu zeichnen und riskiere den Unmut von Lesern, die das Klischee kennen, oder schreibe ich eine Queen Victoria, die genau so ist, wie jeder sie kennt, obwohl man sich sicher ist, dass sie so gar nicht war? Ich finde das einfach sehr schwer. Natürlich, Mut zur Lücke muss man haben, aber muss man auch dort Lücken lassen, wo man es besser machen kann?

Fianna

#10
Zitat von: Steffi am 18. Juli 2013, 14:58:37
Was mir die größten Probleme bereitet ist, das Alltagsleben und die Konventionen, also auch die Denkmuster, zu recherchieren, nachzuvollziehen und entsprechend wiederzugeben. Einen Teil davon findet man ja im Internet, anderes in Büchern, aber was, wenn sich Details partout nicht auftreiben lassen? Wie handhabt ihr das?
Das ist eines der wichtigsten Dinge überhaupt im Historischen Roman. Korrekt recherchierte Fakten müssen natürlich sein, aber falls ich das von Dir Beschriebene nicht darstellen könnte, würde ich das Projekt nicht verfolgen.
Eine Ausnahme ist natürlich, wenn man keine ganze Klasse / Schicht (was auch immer) zeigen will, sondern eine bestimmte Person fokussiert. Da kann man mit entsprechendem Lebenslauf immer noch (prophylaktisch) erklären, warum der Hafenarbeiter nichts dabei findet, mit einem Kumpel die WG zu teilen.

Zitat von: Kati am 18. Juli 2013, 15:26:06
Lücke ist für mich immer genau dann angebracht, wenn man die Infos einfach nirgendwo auftreiben kann, weil die Geschichte sie geschluckt hat.
Ich denke, man kann die meisten Sachen, die man für einen historischen Roman braucht, schon mit etwas Mühe auftreiben. Google ist da nur bedingt hilfreich, weil je nach Fachbereich Bücher kaum Präsenz im Internet zeigen (wenn ein Titel nirgendwo erwähnt ist, kann man ihn auch nicht ergooglen).
Und gerade Mentalitätsgeschichte ist doch modern (oder je nach Fachbereich modern gewesen), da findet man schon etwas zu. Einfach bei der passenden Uni eine kleine Mail hinschreiben - nicht unbedingt an den Prof, und wenn man sich ganz unsicher ist, wer der Ansprechpartner ist, nimmt man sich die Emailadresse des (ranghöchsten) Hiwi - so bekommt man immer gute Hinweise auf allgemeine Literatur, oder eben welcher der Universitätsmitarbeiter der richtige Ansprechpartner ist.
Wichtig ist nur, sich immer die Namen zu notieren, denn falls man mal veröffentlicht, erwähnt man die Leute natürlich ;)

Dann bekommt man natürlich (gerade bei Mentalitätsgeschichte, aber auch sonst) nicht eine, sondern drei, fünf oder mehr Antworten. Aber - je nachdem wie wichtig das ist - sucht man sich entweder eine aus oder liest sich die Forschermeinungen zum dazugehörigen Drumherum durch (z.B. Henotheismus oder Monotheismus?) und nimmt dann, was am besten passt.

Zitat von: Coppelia am 18. Juli 2013, 18:44:28
Die Person wohnt in einem Haus? Schön, Häuser im alten Rom sind ein Thema, mit dem man sich jahrelang befassen kann. Sie trägt Kleidung? Siehe Stichwort "Haus". Sie heiratet? Ok, dann sollte ich lieber alles über die Ehegesetzgebung wissen. Sie führt Krieg? Hallo, Forschung über das Militärwesen. Sie war am römischen Bürgerkrieg beteiligt? Hallo, Regalwände voller Fachliteratur. Und wenn ich mir dann den einen oder anderen Text durchlese, fällt mir auf, dass oft Autoren als Quellen genannt werden, deren Texte ich als historische Quellen für nicht allzu glaubwürdig halte. Zum Beispiel der Epiker, über den ich promoviert habe und über den ich auch auf diese historische Person gekommen bin. Aber das ist im Vergleich zu der riesigen Menge an Literatur und anfallenden Details eher ein untergeordnetes Problem.
Und dann müssen die Leute natürlich auch akkurat gearbeitet haben. Als "Insider" weiß man ja, dass der Herr X in (gerade in populärwissenschaftlichen Büchern, aber auch sonst) seinen Darstellungen gerne mal wichtige Fakten unterschlägt, die seiner Ansicht widersprechen. Da wird mal der Verwandschaftsgrad von 2 Personen strikt geschildert, und ein Außenstehender kann nicht wissen, dass das heiß diskutiertes Krisengebiet ist. Bei ihm hört sich das alles super an.
Oder Herr Y mit seinen aus dem Gedächtnis eingesetzten Fussnoten, die sich teilweise nirgendwo wiederfinden lassen (irgendwann hat man alle Bücher des Verfassers aus der Fussnote durch, dann ist klar, dass da etwas noch massiver als sonst nicht stimmt), so dass man keinen Anhaltspunkt hat, wo er das her hat.
Oder Leute, die gerne mal fremdsprachige Fachliteratur scheuen - sogar englische - und dann einfach von dem ersten Kollegen abschreiben, der die Meinung des Briten paraphrasiert wiedergab. Blöd nur, wenn dieser das kleine und wichtige Wörtchen "not" überlesen hat. Ob die Alten Ägypter nun eine richtige berittene Kavallerie hatten oder ob man es sich "not" so vorstellen muss, ist schon ein entscheidender Bedeutungsunterschied.

Insofern recherchiere ich lieber in meinem eigenen Fachbereich, denn da muss ich mir selbst nur ein Stoppschild aufzeigen.
In fremden Fächern bin ich dann die arme Socke, die auf falsche Verwandschaftsverhältnisse, Theorien, Belege etc hereinfällt - im eigenen Fachbereich kennt man seine Pappenheimer, oder hat einen groben Überblick über das Thema (auch Figuren, die in der Geschichte nicht so präsent sind), so dass man sich denkt: Moment mal. Das passt jetzt irgendwie gar nicht rein.

~~~~~~

Mut zur Lücke muss man schon haben - aber dazu muss man erstmal die Lücken kennen.
Einfach Dinge zum Wohnverhalten oder sonstiges erfinden, weil man nichts findet, halte ich nicht für vertretbar, sofern man nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Und Google oder meinethalben auch der Bibliothekskatalog der Stadtbibliothek oder Opac in der Unibibliothek reichen da in meinen Augen nicht.

Steffi

#11
Wow, da hatte ich jetzt aber allerhand zu lesen... ;D

@Nadine: Ja, genau den Thread meinte ich. Ich wusste, wir hatten das Thema schon aber ich habe es einfach ehrlich nicht gefunden.

@Churke: Das ist genau der Grund, warum ich die Docks gewählt habe ;) Zugegeben, ich wusste nicht, dass man da auch als einfacher Hafenarbeiter gut verdient hat, aber da meine Figur im Verlaufe des Romans Kontakte zur Mafia knüpft (über die ich mich noch einlesen würde) war das der perfekte Aufhänger.

@Chris: das mit den Zeitungen ist eine gute Idee!

@Kati: das eine Buch hatte ich schon bei Amazon gesehen...ich bin dann immer so unsicher, ob man, was in San Francisco Gang und Gebe war, einfach auf eine andere Stadt übertragen kann. Würdest du das so machen?

Grundsätzlich habe ich glaube ich auch das Problem, dass ich mit fortschreitender Recherche erstmal merke, wie wenig ich dann eigentlich weiß. Früher war ich mit diesen Settings wesentlich schmerzbefreiter. Aber an der Uni war es auch so, dass ich mir voller Enthusiasmus das vermeintlich einfache Thema "Gothic novels" rausgepickt habe (es hat mich aber auch einfach interessiert), und als ich mit dem Recherchieren anfing hatte ich irgendwann das Gefühl, ich müsste die komplette politische, literarische und gesellschaftliche Geschichte Großbritanniens aufarbeiten, um das Genre richtig zu fassen. Von daher find ich es erleichternd, dass der Konsens hier zu "Mut zur Lücke" gehen zu scheint, auch wenn ich mich in gewissen Details festbeißen könnte.
Sic parvis magna

Coppelia

#12
ZitatEinfach bei der passenden Uni eine kleine Mail hinschreiben - nicht unbedingt an den Prof, und wenn man sich ganz unsicher ist, wer der Ansprechpartner ist, nimmt man sich die Emailadresse des (ranghöchsten) Hiwi - so bekommt man immer gute Hinweise auf allgemeine Literatur, oder eben welcher der Universitätsmitarbeiter der richtige Ansprechpartner ist.

OT: Das ist keine gute Idee, sag ich mal so als Universitätsmitarbeiter. Die Hiwis und Mitarbeiter haben meist andere Dinge zu tun. ;D Es ist zwar ganz lustig, wenn ab und zu mal Leute anrufen und etwas auf Latein übersetzt haben möchten, aber in solchen Fällen würde ich doch sagen: Lieber erstmal selbst in der Universitätsbibliothek suchen! Man kommt häufig auch mit Ausweis hinein, und oft können Mitarbeiter vor Ort erklären, wie man die Suchmaschine am Computer bedient.
Wenn man sich mit dem Thema besser auskennt, dann kann man auch mal eine Fachkraft fragen, aber ansonsten hat es doch ein wenig den Klang von "ich möchte nicht selbst recherchieren, bitte machen Sie meine Arbeit". ;)
Viele werden wahrscheinlich trotzdem so freundlich sein und helfen.

ZitatAls "Insider" weiß man ja, dass der Herr X in (gerade in populärwissenschaftlichen Büchern, aber auch sonst) seinen Darstellungen gerne mal wichtige Fakten unterschlägt, die seiner Ansicht widersprechen. Da wird mal der Verwandschaftsgrad von 2 Personen strikt geschildert, und ein Außenstehender kann nicht wissen, dass das heiß diskutiertes Krisengebiet ist. Bei ihm hört sich das alles super an.
Jaaa.  :jau:

gbwolf

#13
Zitat von: Coppelia am 18. Juli 2013, 20:00:05Man kommt häufig auch mit Ausweis hinein, und oft können Mitarbeiter vor Ort erklären, wie man die Suchmaschine am Computer bedient.
Außerdem kann man in der Unibib versuchen, mit demjenigen Bibliothekar zu sprechen, der sich um ein bestimmtes Fachgebiet kümmert. in der Regel haben diese Spezialisten ein grundständiges Studium und eine Promotion hinter sich.

@Steffi: Ich hatte noch was mit "wie genau recherchier ihr" oder so im Kopf und habe einfach einmal "recherchiert" eingegeben und nur über die Betrefffelder suchen lassen. Betreff-Suche kann ich ohnehin empfehlen.

Steffi

#14
@Nadine: Ich hatte so ziemlich alle Varianten von "historisch", "authentisch" und "Recherche" (auch "recherchieren") bei der Betreffsuche dabei, aber auf das konjungierte Verb bin ich tatsächlich nicht gekommen  :-[ (Es war aber auch wirklich warm auf der Arbeit, zählt das?)
Sic parvis magna