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Zitate und deren Ursprung

Begonnen von Grey, 11. Juli 2013, 14:01:41

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Grey

Hallo zusammen,

ich habe ein Problem, über das ich nun schon seit gestern Abend grüble. Es handelt sich dabei um einen konkreten Fall, aber ich denke, man kann das Thema auch allgemein diskutieren.

Es geht darum, dass ich gern eine Strophe eines bestimmten Gedichtes als eine Art atmosphärischen Einstieg in einen Roman verwenden würde, und zwar folgende Passage:

ZitatDrum bin ich wie der Wind, der droben zieht,
Bin wie die Welle, die der Hand entflieht.
Die Straße drängt und sehnt sich fort von hier.
Fort, fort, fort! - das gilt auch mir!

Ursprünglich habe ich den Text aus einem Lied der Gruppe Faun, aber nun habe ich recherchiert und herausgefunden, dass es sich eigentlich um ein Gedicht von Börries Freiherr von Münchhausen handelt. Das Gedicht ist von 1936 und dementsprechend gemeinfrei, urheberrechtlich also bedenkenlos verwendbar. Was mich ins Grübeln bringt, ist aber, dass Münchhausen, obwohl er sich selbst nicht als Antisemit bezeichnete und sogar jüdische Freunde hatte, sich dennoch öffentlich antisemitisch geäußert hat. Sein schriftstellerisches Werk wurde vom NS-Regime stark gefördert, und Hitler hat ihn sogar in die Gottbegnadeten-Liste der wichtigsten Schriftsteller eingetragen. Er hat selbst nun nichts Schlimmes gemacht, aber das fragliche Gedicht ist nun mal auch in dieser Zeit entstanden. Und jetzt frage ich mich, kann ich die Passage trotzdem bedenkenlos verwenden? Rein inhaltlich ist sie ja unbedenklich, aber ich habe ein wenig Sorge, was es wohl für ein Licht auf mich werfen würde, wenn jemand den Autor nachschlägt.

Was meint ihr dazu? Mache ich mir zu viele Sorgen? Ich bin wirklich ratlos, denn bis vorhin war ich noch überglücklich, dass ich ein Gedicht gefunden habe, das so perfekt zu meiner Geschichte passt, aber wo ich nun die Hintergründe des Verfassers kenne, habe ich doch ein bisschen Bauchschmerzen  ... :-\

Für alle, die selbst nachlesen wollen, hier der Artikel auf Wikipedia.

Danke schonmal für eure Meinungen!

Alaun

#1
Oh, das ist wirklich eine knifflige Entscheidung. Ich kriege bei so etwas immer sehr schnell Bauchschmerzen und würde wahrscheinlich davon absehen, das Gedicht zu nutzen. Wahrscheinlich merken die meisten Leser es nie, aber wenn doch, dann kann das unschöne Diskussionen zur Folge haben - auch, wenn der Verfasser selbst sich niemals antisemitisch geäußert hat.
Schwierig. Ich glaube, ich würde das Risiko nicht eingehen. :-\ Einen merkwürdigen Ruf wird man unglaublich schwer wieder los.

Christian

Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber heißt "gemeinfrei" nicht, dass der Urheber bereits seit mindestens 70 Jahren tot sein muss? Dieser Freiherr ist aber erst vor 68 Jahren gestorben.

Thaliope

Ich würde sagen, wenn du Bauchschmerzen dabei hast, dann lass es. Schließlich musst du dich im Zweifelsfall dazu stellen.
Wenn du jetzt selbst fest davon überzeugt wärst, dass sich die Leute nicht so haben sollen, weil das Gedicht selbst doch unproblematisch ist, wäre das was anderes. Dann könntest du es ja ggf. auch demenstprechend vertreten. Aber aus deinen Bauchschmerzen würde ich schließen, dass dem nicht so ist ;)
Und wenn man sich mit einer Sache selbst unsicher ist, und einem dann jemand deswegen dumm kommt, kann die Rechtfertigung ein ganz schöner Eiertanz werden.
Ich glaube, ich persönlich würde auf Nummer Sicher gehen.

LG
Thali

Ary

Oh, der Münchhausen. Ich wäre vorsichtig. Irgendwann hatte ich mal irgendwo kundgetan, dass ich die "Ballade vom Brennettelbusch", die dieser Münchhausen verfasst hat und die eine Filkerin auch wunderbar vertont hat, total liebe. Und die Antwort war "Du weißt aber schon, dass der Münchhausen ein Antisemit/ein Nazi/ ein von Hiter geförderter Schriftsteller war, oder?"
Nein, wusste ich damals noch nicht, aber anscheinend ist es doch bekannt, dass der Autor von Hitler gefördert wurde. Ich wäre da auch vorsichtig udn ich kann verstehen, dass Du da Bedenken hast. Ich würde sagen, lass es lieber und schaue Dich nach etwas ähnlich Schönem, aber "unbefleckterem" um.
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

Arcor

Uhh, das ist schwierig.  :-\ Da kann ich dein Zögern gut verstehen, Grey, das würde mir auch Bauchschmerzen und Kopfzerbrechen bereiten.
Ich schätze wie Aqua auch, dass es deine Leser (welche Zielgruppe hast du denn? Ist es wieder ein Jugendbuch?) vermutlich nie merken würden, gerade weil die Passage inhaltlich völlig unbedenklich ist. Aber dieses nagende Wissen, wie der ursprüngliche Autor dazu eingestellt war, würde mich glaube ich völlig bekloppt machen.
Not every story is meant to be told.
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Faye - Finding Paradise

Grey

Zitat von: Christian am 11. Juli 2013, 14:15:13
Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber heißt "gemeinfrei" nicht, dass der Urheber bereits seit mindestens 70 Jahren tot sein muss? Dieser Freiherr ist aber erst vor 68 Jahren gestorben.

Ach komm, die zwei Jahre ... :P
Nein, du hast natürlich recht. Aber selbst im allerschnellsten Vermittlungserfolg würde das Buch vor dem Frühjahr 2015 keinesfalls erscheinen.

@Aqua, Thali und Ary
Auch ihr habt recht, und ich fürchte auch, ich werde einen Rückzieher machen, wenn mich niemand vom Gegenteil überzeugt. Aber es macht mich ganz furchtbar traurig, weil ich es so schön finde und ich darüber endlich den (zumindest gefühlt) perfekten Einstieg in die Geschichte gefunden habe. :'(
Und ich weiß nicht, ob ich noch so etwas schönes auftreiben kann, das so gut passt. :seufz:

@Arcor
Nein, kein JuBu diesmal. Ein realistischer Frauenroman. :-\

Christian

Zitat von: Grey am 11. Juli 2013, 14:21:21
Ach komm, die zwei Jahre ... :P
Nein, du hast natürlich recht. Aber selbst im allerschnellsten Vermittlungserfolg würde das Buch vor dem Frühjahr 2015 keinesfalls erscheinen.
Ach so...  ;D Na gut, dann ist das ja egal. Ansonsten kann ich mich aber auch nur den anderen anschließen. Mir wäre das zu heikel. Und wenn du jetzt schon Bauchschmerzen hast, würde ich das lassen.

Merlinda

Ich würde das an deiner Stelle auch lassen. Ich hab mir gerade den Artikel auf Wikipedia durchgelesen.
Und wie Aryana bereits erzählt hat, es gibt immer Menschen, die kennen sich mit sowas aus.
Ich würde mir auch lieber ein anderes Gesicht suchen. Immerhin geht es ja um deinen Ruf als Autorin.
Und vielleicht findest du auch ein Gedicht, dass viel besser passt? :)

caity

Hallo Grey,

brauchst du das Gedicht denn "nur" für die Atmosphäre?
Ich wäre auch vorsichtig damit, imho kommt es aber auf die Zielgruppe an. Mir persönlich wäre "Münchhausen" in dem Zusammenhang nicht sofort ein Begriff, aber wenn es ein "realistischer Frauenroman" wird, vermute ich mal, dass du durchaus auch Leser haben wirst, die belesener sind und die das dann eventuell kennen. Und wenn du dann nicht im Roman selbst damit spielst ... also, ich fände ein Zitat von jemandem, der unter dem Verdacht steht, antisemitisch zu denken, in einem Roman dann in Ordnung, wenn die Problematik des Antisemitismus auch im Roman (oder wenigstens im Kapitel) aufgegriffen wird - ohne, dass das mit dem Holzhammer kommen muss, aber ... mmh, wenn du das gar nicht anschneidest, würde ich vermutlich mit "Unwissenheit" und "schlechter Recherche" rechnen, was jetzt kein so gutes Bild auf dich als Autor werfen würde  :-\

Ohne jetzt den Text so gut zu kennen, aber vielleicht findest du ja etwas mit ähnlicher Atmosphäre in Schuberts Winterreise.

Liebe Grüße,
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Arcor

Zitat von: Grey am 11. Juli 2013, 14:21:21
@Arcor
Nein, kein JuBu diesmal. Ein realistischer Frauenroman. :-\
Mh, dann würde ich noch mehr davon abraten. Denn bei dem Publikum halte ich es für wahrscheinlicher, dass das jemand kennt. Bei Jugendlichen hätte ich die Chance für sehr gering gehalten.

Zitat von: Grey am 11. Juli 2013, 14:21:21
Und ich weiß nicht, ob ich noch so etwas schönes auftreiben kann, das so gut passt. :seufz:
Muss es denn etwas von jemand Anderem Geschriebenes sein? Würde es nicht auch gehen, wenn du selber einen kleinen Vierzeiler verfasst und den deinem Roman voranstellst?
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Faye - Finding Paradise

Adam_Charvelll

#11
Tja...erinnert doch sehr an die Wagner-Debatte.

Ich persönlich bin der Meinung, dass man Kunst, also Musik, Texte, Gemälde, etc. völlig entpolitisieren sollte, also völlig ohne Miteinbeziehen der politischen oder religiösen Weltanschauung des Künstlers ansehen sollte. Das hat bei großartigen Leistungen, die nichts mit Politik oder Religion zu tun haben, einfach nichts zu suchen.

Dass das gerade beim Thema Antisemitismus in unserer Zeit, die noch mehr von Verdrängung als von Verarbeitung bestimmt wird, aufgrund der geringen historischen Distanz allerdings höchst kritisch ist, ist aber auch klar. Ich würde selbst wohl auch eher nach Alternativen suchen, da es natürlich doch sein kann, dass man in Rechtfertigungen ertrinkt, wenn man öfter darauf angesprochen wird.

Persönlich kann ich wie gesagt nicht verstehen, dass man Kunst aufgrund der Biographie eines Künstlers verachtet, denn genau das haben eben diese auch gemacht, die man verachtet. Allerdings habe ich Verständnis dafür, wenn sich einige Leute über die Erwähnung von Kunst empören, die im Nationalsozialismus zur Propagierung der Ideologie genutzt wurde. Da kommt man doch schnell in Gewissenskonflikte.

Edit: Zwei Anmerkungen noch.
Zum einen gilt die Frist von 70 Jahren immer erst ab dem nächsten 1. Jänner nach dem Todestag. Gemeinfrei wäre es daher erst ab 2016.

Zum anderen finde ich folgende Anmerkung im Wikipedia-Artikel interessant: "Die Balladen Münchhausens fanden seit den 1960er-Jahren weniger Beachtung, aber Marcel Reich-Ranicki nahm 2005 trotzdem zwei Gedichte Münchhausens in seine Anthologie Der Kanon, Band 5 auf."

DEckel

Ich musste auch an Wagner denken Adam :)

Ansonsten bin ich da ziemlich schmerzfrei was "vom NS-Regime unterstützte Künstler" angeht - Zumal Münchhausen sich ja scheinbar mehr um seine Kunst als um irgendwelchen Antisemitismus gekümmert hat (Im Gegensatz zu Wagner, der zwar zu früh für die NS war, aber ganz offiziell etwas gegen Juden hatte).

Trotzdem: Wenn du ein Gedicht verwendest musst du auch dahinter stehen und ganz klar sagen können dass es dir um den Text geht und nicht darum wann, wo und unter welchen Umständen der Autor gelebt hat.
Wenn ich Kurt Cobain zitiere heisst das ja auch nicht dass ich Heroin toll finde, auch wenn er sich damit abgeschossen hat.
Soll heissen ich kann den Künstler und seine Kunst vom Menschen trennen...

Grey

Hm, Aber Kurt Cobain hat meines Wissens Heroin nicht genommen, weil er es so toll fand. ;)

Die Sache ist ja die, natürlich kann man Kunst und Künstler bis zu einem bestimmten Punkt voneinander losgelöst betrachten. Nichtsdestotrotz erscheint es mir kritisch, meinem Buch den Text eines Autoren voranzustellen, von dem bekannt ist, dass er öffentlich eine Haltung vertreten hat, die meiner eigenen sehr zuwiderläuft. Zumal ich nicht geplant hatte, die Verwendung dieses Gedichts innerhalb der eigentlichen Geschichte zu reflektieren. Von daher werde ich mich wohl wirklich nach etwas anderem umsehen.

Ein eigenes Gedicht schreiben möchte ich allerdings nicht, weil ich finde, dass das eine ganz andere Wirkung hat. Und weil ichs nicht gut kann. 8)

DEckel

Nicht weil er es toll fand - Da war er wohl eher ein Opfer seiner Lebensumstände.
Und so würde ich Münchhausen auch einschätzen. Mit Blick auf seine Erziehung und sein Umfeld hat er ja noch eine recht liberale Position... Aber das ist ja gar nicht das Thema ;)

Wahrscheinlich ist es wirklich besser das Ganze rauszulassen bzw sich nach etwas anderem umzusehen - Ist es ein Reise-Gedicht dass du suchst?