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Wie Bücher zu Klassikern werden. Oder: Von zeitgemäßer Moral

Begonnen von Luna, 24. April 2013, 15:28:23

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Rhiannon

Ich muss sagen, ich mochte Max und Moritz auch nicht, eben weil die "Strafen" so drastisch waren.
Ich war zwar als Kind schon hart im Nehmen und fand die Bücher einfach absurd, da war bei mir schon als kleines Kind der Gedanke "Sowas würden Eltern doch nie tun!". Aber ich stimme Kati so gesehen zu, dass ich die Aussage der Bücher in der heutigen Zeit auch problematisch finde, mindestens wenn die Altersgruppe die Bücher liest, für die sie gedacht waren.

Was die Märchen angeht, es kommt ja immer darauf an, wie man sie erzählt. Ich mochte als Kind zum Beispiel den "König Drosselbart" unheimlich gern. Aber eigentlich vor allem deswegen, weil mein Vater mir die Märchen auch erklärt hat, wenn ich sie nicht so verstanden habe. Und ich schätze mal, so lief das früher auch. Erzählte man die Geschichten Kindern, hat man sie anders erzählt, als bei Erwachsenen.

Und womit die Kinder ihre Kindheit in Verbindung bringen, hängt ja immer an den Eltern. Das heißt, die Zeit an sich ist nur bedingt verantwortlich für die Bücher, die heute gelesen werden. Und wie Kati schon sagt, wer weiß, was in hundert oder zweihundert Jahren aus Twilight oder vielleicht auch Harry Potter wird? Wer weiß, vielleicht gelten unsere Bücher dann auch als Klassiker.  ;)

Ludovica

Zitat von: Kati am 24. April 2013, 17:40:46
Das mit Twilight war jetzt auch eher allgemein gemeint.  :) Schließlich gelten auch Jane Austens Liebesromane heute als richtige Klassiker und total gute Bücher, während sie damals zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zwar auch schon sehr beliebt waren, aber halt belächelt wurden und als "Weiberromane" verschrien wurden. Heute liest aber fast jeder Englischstudent einmal Austen, obwohl das reine Unterhaltungsromane waren. Und deshalb bin ich fast sicher, dass in hundert Jahren auch Meyers Twilight als literarisch anspruchsvoller Klassiker betrachtet werden wird.  ;) Allerdings waren nicht nur Austens Romane reine Unterhaltungsromane, auch ganz viele Gothic Novels aus dem fin de siècle, in die wir heute viel reininterpretieren, waren zur Unterhaltung gedacht und wurden auch so rezipiert und gelesen. Vielleicht werden die Englischschüler in hundert oder zweihundert Jahren aus "Twilight" und den "Hunger Games" Informationen über unsere Gesellschaft ziehen, so wie wir das heute mit "Dracula" und co. machen? Das ist ein spannender Gedanke, finde ich.

Da hast du sicher recht (ich bin ein riesiger Austen-Fan, und gerade bei der Darstellung von Romanen in Northanger Abbey hau ich mich immer weg  :rofl:). Wobei ich sagen muss, dass ich mir Twilight einfach wegen der ganzen Konsent-Sache nicht wirklich als Klassiker vorstellen will. Ich will einfach nicht, dass Mädchen Stalking und aufgezwungene Küsse (Jake) in hundert Jahren noch romantisch finden.... (oder dass man Männern diese Rollenklischees auch in hundert Jahren noch aufdrückt; wofür arbeiten wir denn daran, diesen Blödsinn aufzulösen? Ich meine, wenn sie so behandelt werden wie die Romane von de Sade, also als Klassiker, aber nicht als Rollenvorbild, dann wäre mir das allerdings auch nicht unrecht)

Mit den Hunger Games als Klassiker wäre ich allerdings sehr einverstanden, auch wenn ich die nicht gelesen habe (bei Twilight hab ich mir zumindest alle Filme angesehen *räusper*). Und Harry Potter dürfte sowieso schon als zukünftiger Klassiker feststehen.

Kati

Als Austenfan würdest du aber sicherlich auch nicht handeln wie Elizabeth Bennett, oder? Austen spiegelt in ihren Romanen ihre Zeit wider und sie hinterfragt, bis auf Northanger Abbey, auch die gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit nicht. Und ich denke, dass zukünftige Teenager sich auch Bella nicht mehr als Vorbild nehmen werden, sondern sie als Einblick in eine vergangene Gesellschaft betrachten werden. Denn Twilight spiegelt ziemlich gut wieder, was in unserer Gesellschaft so abgeht, das kann man schon sagen. Ich würde mich (wieder) als Twilight-Fan bezeichnen, nachdem ich einige Jahre wahnsinnig enttäuscht über den Ausgang der Geschichte war, aber ich sehe die Probleme, die das Buch mit sich bringt und ich denke, genau da könnte man sich mit etwas Distanz in einer anderen Gesellschaft für interessieren, genau wie wir heute anhand von ,,Stolz und Vorurteil" versuchen einen Einblick in das England der Regency-Ära zu erhaschen.

Denn Elizabeth und der gute Fitzwilliam sind ja auch kein Traumpaar, obwohl sie sich am Ende zu einem entwickeln. Jedenfalls kann man davon ausgehen. Und, wenn man sich meine geliebte Sturmhöhe anguckt, kriegt man bei Heathcliff und Cathy ja das kalte Grausen. Natürlich, Emily Bronte wollte die Abgründe der menschlichen Seele darstellen (jedenfalls denken wir das heute, wer weiß), aber Cathy und Heathcliff werden trotzdem als wahnsinnig romantisch dargestellt und am Ende im Tod vereint und ach und je. Genauso wie wir in Dracula irgendetwas von im viktorianischen Zeitalter unterdrückter Sexualität reinlesen. Ob sich die Autoren das wirklich gedacht haben, können wir so aber nicht mehr herausfinden und ich denke, dasselbe wird mit Romanen passieren, die wir heute zur Unterhaltung lesen. Ich würde viel geben, um einen Blick in eine Lektürehilfe zu ,,Panem" oder ,,Twilight" werfen zu dürfen. :D

Mein liebstes Thema, wo wir heute ganz falsche Inhalte in Geschichten reinlesen ist ,,Romeo und Julia". Es gilt heute als romantischste Geschichte aller Zeiten – war aber als Tragödie gedacht und nicht als Romanze. Wir haben eine vierzehnjährige Heldin, die dem Helden, der zuvor einer anderen unsterbliche Liebe versprochen hat, dermaßen gut gefällt, dass er seine alte unsterbliche Liebe verlässt, das Mädchen ein paar Tage später heiratet und kurz darauf sind beide tot. Romantisch? Nein. Vielleicht hätte Romeo Julia nach ein paar Monaten genauso fallen gelassen wie Rosaline? Wer weiß das schon? Die Geschichte handelt doch eigentlich von jugendlichem Leichtsinn und noch viel mehr davon, wie die Konflikte der Älteren das Leben der Jugend zerstören kann. Aber es war nie als Romanze gedacht und trotzdem sehen wir es heute merkwürdig verdreht als größte Liebesgeschichte aller Zeiten. Aber wer weiß, wie in zweihundert Jahren diese Geschichte betrachtet wird? Oder auch Twilight?

Hach, dieses Thema finde ich so unglaublich spannend, tut mir Leid, dass die Beiträge immer so lang werden.  :vibes:

Kraehe

Ich glaube, dass Twilight in der Versenkung verschwinden wird. Das ist so ein Kurz-Hype, an dem einfach nichts dran ist, das länger halten könnte, weder inhaltlich noch dramaturgisch, finde ich zumindest. Und falls Twilight also wirklich vergessen wird, würde mir das auch nicht wehtun. Ich glaube auch nicht, dass Panem sich wirklich halten wird, Harry Potter wohl noch am ehesten, weil der einfach auch sehr viel wieder ins Rollen gebrach that, gerade so Jugendfantasy/moderne Fantasy ist danach wieder viel mehr beachtet worden.

Tja. Und ich war heute dumm und bin zum falschen Institut für meine Wahlfachs-Vorbesprechung gedackelt. Und als ich am richtigen Ort ankam, immerhin nur 20min zu spät, war da dummerweise niemand mehr zu finden. Jetzt könnte ich  :wums: und  :brüll: und kann gar nicht fassen, dass ich nicht einfach nochmal nachgesehen habe ehe ich losgeradelt bin.  :no: Mal hoffen, dass unser Dozent lieb ist, meine Entschuldigungs-Erklärungs-Mail beantwortet und mich weiter mitnimmt. Sonst habe ich ein Problem. Der Tag ist gelaufen. Ich geh mir mal Kakao machen.

Kati

Na ja, Kurzhype? Der Roman ist 2005 erschienen, das sind jetzt also bald 10 Jahre, wenn nicht irgendwann in den nächsten zwei Jahren plötzlich alle vergessen, dass Twilight existiert hat. Und ich denke zehn Jahre können viel ausmachen. Wenn man sich Dracula anguckt, war der im Erscheinungsjahr zwar auch relativ beliebt, aber verschwand dann wieder für mehrere Jahrzehnte von der Bildfläche, bis er wieder aufgetaucht ist. Ich denke, man kann gar nicht so genau sagen, was bleiben wird und was nicht und das ist das spannende daran.  :vibes:

Das ist aber wirklich ärgerlich mit dem Institut. Aber sowas passiert. Ich hoffe, dein Dozent sieht das auch so und das ganze hat einen guten Ausgang.  :knuddel:

Lucien

 :hmmm: Ich muss gestehen, ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie zukünftige Generationen auf die Romane und Serien unserer Zeit blicken werden, aber es sind spannende Gedanken.

Mir persönlich sind Max und Moritz noch ein Begriff, die Wilden Hühner aber nicht so wirklich. Das liegt einfach daran, dass meine Großeltern und Eltern mir diese alten Geschichten zu lesen gegeben haben, sobald ich lesen konnte, und nicht die neuen. Ich erinnere mich auch, als dann in der Schule die meisten Mädchen die Wilden Hühner toll fanden. Ich war aber nicht das typische Mädchen und wollte von diesen "Mädchenbüchern" einfach nichts wissen.
Harry Potter habe ich gelesen, weil meine Patentante mir den ersten Teil davon geschenkt hat und ich muss sagen, dass ich erst auch nicht den Antrieb hatte, es zu lesen und das Buch nach ein paar Kapiteln einfach weggelegt habe. Stattdessen habe ich Winnetou verschlungen. Und dann war da noch der Herr der Ringe, den ich nicht mochte, weil mir das zu gruselig war mit den ganzen Orks und so.
Ein paar Jahre später sah das plötzlich ganz anders aus. Rückblickend betrachtet hat meine Tante mich mit Harry Potter überhaupt erst in die Fantasywelt gestoßen und die Orks im Herrn der Ringe hatten längst ihren Schrecken verloren und ich bin sogar ein riesiger Fan geworden.
Was ich damit versuche zu sagen: was wir kennen und was nicht hängt einfach extrem stark von dem ab, was wir als Kinder vorgesetzt bekommen, bevor wir selbst die Entscheidung darüber treffen, was wir lesen/sehen wollen. Ich finde also auch, dass wir der Jugend von heute keinen Vorwurf machen können, wenn sie die alten Geschichten nicht mehr kennen. Und es heißt nicht automatisch, dass sie diese Geschichten niemals kennen werden.

Grey

Ihr Lieben,

die Diskussion ist so spannend - soll ich sie mal abtrennen und in ein Schreibthemen-Board verschieben? Wär doch sonst schade drum. :)

Luna

#22
Vielleicht war ich auch so geschockt, weil ich das spontan mit einem Eintrag bei wer kennt wen eines ehemaligen Kollegen von mir in Verbindung brachte der da in etwa lautete: Bücher? Danke, aber ich habe noch genug Grillanzünder. Tja, dann hatte ich natürlich sofort auch gewisse Studien im Kopf, über die ich irgendwo mal gestolpert bin, wonach immer weniger gelesen wird. Na ja, ich denke, das Lesen wird trotzdem nie ganz aussterben, und es stimmt schon, das Leseverhalten wandelt sich.
Zu Struwwelpeter hatte ich im übrigen als Kind eine wahre Hassliebe. Ich glaube, ich habe das in irgendeinem Thread mal erwähnt. Ich fand das grausam, trotzdem konnte ich die Geschichte mit dem armen Daumenlutscher auswendig. Ich wusste aber, dass mir das meine Eltern nie antun würden.
Die Frage, was in hundert Jahren von den jetzigen Büchern übrig bleibt, bzw. was im Gedächtnis bleibt, finde ich übrigens auch ganz spannend. Aber die Gesellschaft wandelt sich ja stets und mit ihr das Leseverhalten, wie hier schon geschrieben. Wer weiß, vielleicht kann man statt Bücher die  Geschichten dann hautnahe im Holo à la Star Trek erleben.

Edit: Gerade gesehen, hätte nichts dagegen Grey.

Rhiannon

Also ich hätte da nichts dagegen, wäre in der Tat schade drum, wenn das untergeht.

Alana

Es gibt einfach mittlerweile so viele Klassiker und auch unheimlich viele, wirklich schöne neue Bücher, man kann nicht alles vorlesen. Man beschränkt sich dann halt auf die Bücher, die man selbst besonders geliebt hat. Max und Moritz gehört da bei mir nicht unbedingt dazu, auch wenn ich durchaus finde, dass das zum Kulturgut gehört und man das kennen sollte. Trotzdem ist es vor allem mein Anliegen, meinem Kind das Lesen nahezubringen und dazu suche ich mit ihm gemeinsam die Bücher aus. Märchen interessieren ihn nicht, er mag sehr gerne "realistische" Geschichten wie Conni oder dergleichen. Räuber Hotzenplotz oder das Sams liebt er auch heiß und innig und ich hoffe sehr, dass ich ihn auch für die kleine Hexe und Astrid Lindgren begeistern kann.
Alhambrana

Feuertraum

Kurz zwei Dinge zum Thema Alter und Literatur.
Ich habe vor einiger Zeit mal wieder "Tabu" gespielt und sollte das Wort "Komödie" umschreiben. Ich begann mit den Worten: "Von Dante stammt 'Die Göttliche...". Und mein Ratpartner schauten mich an, als wäre ich vom anderen Stern.
Beide waren um einiges älter als ich.

Andererseits muss ich gestehen: Manche 6 - 8jährige Kiddies bei uns im Spielwarenladen erzählen voller Begeisterung von Figuren aus Animes und Mangas und welche Werte welche Karten bei Yu-gi-Oh haben.
Ich muss gestehen, da verstehe ich nur noch Bahnhof
Was hat eigentlich He-Man studiert, dass er einen Master of the universe hat?

Kati

Ich bin um einiges jünger und kenne die "Göttliche Komödie" wiederrum. Ich denke, das hat nichts mit blöd oder schlau zu tun, sondern viel mehr damit, wie sehr man sich für bestimmte Themengebiete interessiert.

Grey: Abtrennen finde ich eine schöne Idee, hier geht es ja doch eher unter.

Alaun

#27
Och naja ... so frappierend muss der Altersunterschied gar nicht sein, um sich dämlich vorzukommen  ;D Letztens erzählte mein Tango-Tanzpartner (Student, 29, und damit ganze 6 Jahre jünger als ich) irgendwas von Computerspielen. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wovon er sprach. Und fühlte mich alt.  :d'oh:
Allerdings können wir beide was mit der "Göttlichen Kommödie" anfangen.

Ludovica

#28
Zitat von: Kati am 24. April 2013, 18:11:15
Ich würde mich (wieder) als Twilight-Fan bezeichnen, nachdem ich einige Jahre wahnsinnig enttäuscht über den Ausgang der Geschichte war, aber ich sehe die Probleme, die das Buch mit sich bringt und ich denke, genau da könnte man sich mit etwas Distanz in einer anderen Gesellschaft für interessieren, genau wie wir heute anhand von ,,Stolz und Vorurteil" versuchen einen Einblick in das England der Regency-Ära zu erhaschen.

Na, da ist definitiv was dran  :hmmm: Auch wenn ich hoffe, dass dann noch schön viele andere Bücher aus unserer Zeit zu Klassikern werden, damit da ein Vergleich da ist  ;D


Zitat von: Kati am 24. April 2013, 18:11:15
Mein liebstes Thema, wo wir heute ganz falsche Inhalte in Geschichten reinlesen ist ,,Romeo und Julia". Es gilt heute als romantischste Geschichte aller Zeiten – war aber als Tragödie gedacht und nicht als Romanze. Wir haben eine vierzehnjährige Heldin, die dem Helden, der zuvor einer anderen unsterbliche Liebe versprochen hat, dermaßen gut gefällt, dass er seine alte unsterbliche Liebe verlässt, das Mädchen ein paar Tage später heiratet und kurz darauf sind beide tot. Romantisch? Nein. Vielleicht hätte Romeo Julia nach ein paar Monaten genauso fallen gelassen wie Rosaline? Wer weiß das schon? Die Geschichte handelt doch eigentlich von jugendlichem Leichtsinn und noch viel mehr davon, wie die Konflikte der Älteren das Leben der Jugend zerstören kann. Aber es war nie als Romanze gedacht und trotzdem sehen wir es heute merkwürdig verdreht als größte Liebesgeschichte aller Zeiten. Aber wer weiß, wie in zweihundert Jahren diese Geschichte betrachtet wird? Oder auch Twilight?

Romeo und Julia hab ich mit 16 gelesen - und ich fand das überhaupt nicht romantisch. Wahrscheinlich bin ich mit der falschen Erwartungshaltung an das Buch gegangen (ich hab zu der Zeit Shakespeares Kömodien verschlungen und auch schon einige seiner Tragödien hinter mir), aber ich mochte das überhaupt nicht - nach Mercutios Tod wars einfach nur noch langweilig. Da hab ich mir auch gedacht 'Was soll daran bitte romantisch sein?'

Vor einiger Zeit ist mal eine Grafik durchs Internet geschwirrt, mit 'Was, wenn er dein Romeo ist, aber du nicht seine Julia?' drauf - und jemand hat kommentiert, dass man dann Rosalind ist und das verdammte Stück überlebt. Das fasst es eigentlich ganz gut zusammen.



Was auch ein sehr interessantes Thema ist - warum wurden bestimmte Bücher zu Klassikern und andere nicht? Warum wurde Stokers Dracula zu einem Klassiker, obwohl Le Fanu's Carmilla vorher da war? War Carmilla, mit seiner lesbischen Vampirgräfin, zu skandalös? Aber Dracula war ja auch nicht sehr viel weniger skandalös, und zu der Zeit gabs ja noch die romantische Freundschaft zwischen Frauen, also hätte man die sexuellen Themen sehr viel einfacher übersehen können als bei Dracula, wenn man wollte... Aber heute wird das halt schwer nachzuvollziehen sein.

Kati

 Lesbische Inhalte galten bei den Viktorianern nicht als skandalös, allein schon, weil die Gesellschaft nicht akzeptiert hat, dass es Anziehung zwischen zwei Frauen geben kann. Bloß männliche Homosexualiät war ein großer Skandal und in England sogar strafbar. Und selbst wenn es skandalös gewesen wäre, würden wir heute noch viel mehr darüber hören, schließlich liebten auch die Viktorianer ihre Skandale und wäre Carmilla ein Skandal gewesen, hätte es sich verkauft wie warmes Brot.  :snicker: Dazu kommt, dass die "lesbischen" Inhalte natürlich sehr subtil sind, es war schließlich 1872. Ich denke, das Problem ist, dass Carmilla am Ende bloß eine Novelle ist. Und man kann ja auch nicht sagen, dass es gar keinen Einfluss hatte, schließlich gilt die gute Carmilla als Vorbild für alle lesbischen Vampirgeschichten, die so gefolgt sind und aus ihr ist ein richtiger Trope geworden.

Übrigens gab es vor Le Fanus ,,Carmilla" bereits 1819 ,,The Vampyre" von Polidori, der als erste Vampirgeschichte gilt. Darin geht es um einen jungen Mann, der die Bekanntschaft eines mysteriösen Lords macht, der sich als Vampir herausstellt und einige Parallelen zum Dracula aufweist. Von dem spricht heute auch kaum noch einer. ;-)

Der Dracula kam bei den Viktorianern übrigens gar nicht so gut an, obwohl er schon gelobt wurde. Man hat damals Subtext gern mal überlesen und obwohl der in Dracula natürlich da ist, würde dir wohl ein gut erzogener Viktorianer sagen, dass da nichts ist. Dracula wurde in England und in Amerika über den grünen Klee gelobt, bei den Lesern blieb er aber eher nette Unterhaltung. Dracula wurde erst mit der ersten Filmversion ein Hit, ist also eher ein Hype des 20. Jahrhunderts.  Was Dracula gemacht hat und die anderen beiden Vampirromane nicht, ist Hintergrundwissen zu liefern. Stoker hat jahrelang recherchiert und ist gereist, um einen authentischen, auf alten Sagen basierenden Vampir zu schreiben. Vielleicht hat das geholfen?

Wie werden Bücher zu Klassikern? Ich denke, es kommt wirklich darauf an, wie viel sie gelesen und gekauft werden. Es muss ein Hype entstehen, der die Leute mitreißt und dazu bewegt, das Buch zu empfehlen und das über mehrere Jahre hinweg, bis jeder davon gehört hat und auch immer bereit ist, es wieder weiter zu empfehlen. Es hilft auch, wenn Genres neu entdeckt werden. Die Gothic Novels sind ja eigentlich ein Produkt des 18. Jahrhunderts, wurden aber in der zweiten Hälfte des 19. wiederentdeckt und schwupps galten viele Gothic Novels aus den 1700ern, die in Vergessenheit geraten waren, plötzlich als Klassiker und die neuen Schauerromane wurden daran angelehnt.