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Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!

Begonnen von Farean, 08. Oktober 2012, 19:24:43

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Farean

Schön. Nachdem du jetzt dein politisches Statement losgeworden bist: hast du auch noch ein Beispiel zum Thema? Also ein Beispiel dafür, wie du in einem Fantasy-Roman Ereignisse für sich sprechen läßt, so daß sie nur eine einzige Bewertung zulassen?

Churke

Ich habe ein real existierendes Beispiel genommen aufgrund der Plastizität. Wenn ein "antifaschistischer Schutzwall" den Stacheldraht und die Selbstschussanlagen auf der Innenseite hat, ist es ganz offensichtlich kein antifaschistischer Schutzwall.

Zitat von: Farean am 17. Oktober 2012, 08:06:58
Also ein Beispiel dafür, wie du in einem Fantasy-Roman Ereignisse für sich sprechen läßt, so daß sie nur eine einzige Bewertung zulassen?
In einer SF-Geschichte tritt die Protagonistin ihren Dienst in einem "Musterreservat an", in dem "alles zum Besten bestellt" ist.
Kurz darauf wird ihr Fähnrich von einem Heckenschützen erschossen. Die Gouverneurin zwingt sie dazu, einen Unfall zu melden, weil es in Gouverneurins Musterreservat keine Heckenschützen gibt.

Zanoni

Vielleicht hilft es, wenn man nicht von der "Aussage" einer Geschichte spricht, sondern stattdessen von einer "These", die von zentraler Bedeutung für die Geschichte ist?!
Weil es dann weniger um eine konkrete "Botschaft" geht, die man als Autor zu vermitteln versucht, sondern eher um ein Thema, dem man sich nähern versucht.

Beispiel:
"Liebe überwindet alle Hindernisse"

Als Aussage verstanden, könnte man versucht sein, die Geschichte so aufzubauen, dass diese mit ihrer Hilfe "bewiesen" wird. (Etwas, was ja auch Frey mit seiner Prämisse propagiert.) Als These verstanden, kann man sich ihr wesentlich offener widmen.

Zum Beispiel in dem man nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch einige Nebenfiguren mit dieser These konfrontiert. Und diese dann womöglich noch völlig unterschiedlich damit umgehen. Also während es "Romeo und Julia" in der Haupthandlung tatsächlich gelingt, positive Erfahrungen damit zu machen, könnte es weitere Nebenfiguren geben, denen dasselbe in der Nebenhandlung nicht gelingt.

Ein anderes Beispiel:
"Macht korrumpiert"

Egal ob es dem Prota in der Haupthandlung gelingt, diese These zu widerlegen, oder ob er zum tragischen Helden wird, indem er sie bestätigt - gleichzeitig gäbe es sehr viele mögliche Nebenhandlungen, auf den verschiedensten Ebenen, wo gezeigt wird, wie die unterschiedlichen Charaktere jeweils auf ganz eigene Art und Weise mit dieser Herausforderung umgehen.

Auf diese Weise kann man auch der Eigendynamik der verschiedenen Figuren wesentlich mehr Spielraum bei der Entwicklung der Geschichte lassen. Man gibt nicht zwingend vor, sondern lässt sie so agieren, wie es ihrem "Naturell" entspricht. Als Autor muss man dann nur noch darauf achten, dass sie auf der grob vorgegebenen Spur bleiben ... also dem Thema und damit dem roten Faden folgen, der sich durch die Geschichte ziehen soll.

Lomax

Zitat von: Churke am 17. Oktober 2012, 10:27:13Wenn ein "antifaschistischer Schutzwall" den Stacheldraht und die Selbstschussanlagen auf der Innenseite hat, ist es ganz offensichtlich kein antifaschistischer Schutzwall.
Ein gutes Beispiel ... um zu zeigen, dass das "Offensichtliche" nicht immer die einzig mögliche Deutung ist ;).
  Ich würde dir Recht geben, wenn man den "antifaschistischen Schutzwall" so versteht, dass der Faschismus eine von außen kommende, materiell gemeinte Bedrohung ist, die es physisch fernzuhalten gilt. Versteht man die "faschistische Bedrohung" allerdings als eine ideologische, die das Denken der eigenen Bevölkerung im Inneren zu beeinflussen droht, kann es durchaus ein Schutz sein, wenn man nach innen gerichtete Maßnahmen trifft, die das Denken der Bevölkerung in eine andere Richtung manipulieren und damit sozusagen vor dem von außen kommenden und als bedrohlich empfundenen "faschistischen Gedankgut" schützen.

Ob die nach innen gerichtete Mauer eine solche Wirkung hatte, ob es die dafür geeignete Wirkung war und ob die Erbauer überhaupt so einen Schutz im Sinn hatten, sei dahingestellt - mein Einwand sei nur, dass es selbst zum scheinbar Offensichtlichen durchaus noch andere Sichtweisen geben kann, die je nach Konstellation durchaus plausibel begründbar sein mögen - oder die sich zumindest plausibel machen lassen oder für einzelne Individuen als plausibel empfindbar sind.
  Und gerade das sind die Fragen und Hinterfragungen - also das Infragestellen des scheinbar Offensichtlichen -, ab dem es für mich in einer Geschichte interessant zu werden beginnt. Das Offensichtliche feststellen und bestätigen ist demgegenüber so banal und redundant, dass ich mich immer frage, warum man dazu noch eine Geschichte schreiben ... oder lesen sollte.
  Vor allem dann, wenn es so platt umgesetzt ist, dass selbst offensichtliche Lücken im Offensichtlichen vom Autor der Geschichte nicht wahrgenommen oder thematisiert wurden.

Farean

Zitat von: Lomax am 17. Oktober 2012, 11:46:56
Und gerade das sind die Fragen und Hinterfragungen - also das Infragestellen des scheinbar Offensichtlichen -, ab dem es für mich in einer Geschichte interessant zu werden beginnt. Das Offensichtliche feststellen und bestätigen ist demgegenüber so banal und redundant, dass ich mich immer frage, warum man dazu noch eine Geschichte schreiben ... oder lesen sollte.
Danke, Lomax, du bringst es wunderbar auf den Punkt - wie immer. :jau:

Zitat von: Zanoni am 17. Oktober 2012, 10:47:28
Zum Beispiel in dem man nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch einige Nebenfiguren mit dieser These konfrontiert. Und diese dann womöglich noch völlig unterschiedlich damit umgehen. Also während es "Romeo und Julia" in der Haupthandlung tatsächlich gelingt, positive Erfahrungen damit zu machen, könnte es weitere Nebenfiguren geben, denen dasselbe in der Nebenhandlung nicht gelingt.
Das ist genau ein Beispiel dafür, was ich meine. Ich mag es, die Geschichte als eine Art Gedankenexperiment anzusehen und ergebnisoffen zu schauen, ob unterschiedliche Charaktere zu demselben Ergebnis kommen oder zu jeweils ihren eigenen. Und ich selbst fühle mich als Leser am stärksten in die Geschichte eingebunden, wenn ich mich immer wieder frage: wie würde ich in dieser Situation handeln?

Was einen Charakter für mich interessant und lebendig macht, sind seine Entscheidungen. Und das bedingt für mich eine Handlung, in der der Charakter möglichst oft am Scheideweg ankommt - und zwar an einem Scheideweg, an dem es keine eindeutig "richtige" oder "falsche" Entscheidung gibt. Besonders bravourös finde ich es mitunter, wenn die Entscheidung ohne die (zusammen mit den Charakteren erlebte) Vorgeschichte offensichtlich wirken würde und man sich z.B. sowohl in den Charakter einfühlen kann als auch in die Beobachter, die ihn dafür verurteilen. Denn wenn Entscheidungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen, schon vorher offensichtlich falsch wären, würde sie ja wohl nie jemand so fällen.

Nichts ist einfacher, als "die Anderen" zu verurteilen. Nichts ist schwieriger, als Verständnis für die vermeintlich "Anderen" zu wecken. Letzteres ist für mich künstlerisch ganz klar die größere Leistung.

Churke

Zitat von: Farean am 23. Oktober 2012, 18:57:41
Denn wenn Entscheidungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen, schon vorher offensichtlich falsch wären, würde sie ja wohl nie jemand so fällen.

Offensichtlichkeit ist ein relativer Begriff. Menschen folgen Träumen, Emotionen und Werten und glauben außerdem gerne das, was sie glauben wollen. Obendrein fehlt es oft an Einsicht. Die Geschichte ist voller Katastrophen der Reihe "Wie kann man so blöd sein?"

Farean

Zitat von: Churke am 23. Oktober 2012, 20:27:42
Die Geschichte ist voller Katastrophen der Reihe "Wie kann man so blöd sein?"
Stimmt: Im Nachhinein.

Die Geschichte ist auch voller Überraschungserfolge der Reihe "gewagt, aber genial", von denen die Zeitgenossen vor dem glücklichen Ausgang sicher gesagt haben: "Wie kann man so blöd sein?" Die Geschichte ist sogar voller Ereignisse, die von Zeitgenossen als Blödheit verurteilt und von heutigen Geschichtsschreibern als Genialität gefeiert wurden und umgekehrt. Hinterher ist man immer klüger; insbesondere klüger als diejenigen, die bereits Geschichte sind und sich nicht mehr dazu äußern können.

Dabei fällt mir auf, daß ich ganz vergessen hatte, auf dein Beispiel zu antworten:
Zitat von: Churke am 17. Oktober 2012, 10:27:13
In einer SF-Geschichte tritt die Protagonistin ihren Dienst in einem "Musterreservat an", in dem "alles zum Besten bestellt" ist.
Kurz darauf wird ihr Fähnrich von einem Heckenschützen erschossen. Die Gouverneurin zwingt sie dazu, einen Unfall zu melden, weil es in Gouverneurins Musterreservat keine Heckenschützen gibt.
Darin kann jetzt erst mal eine ganze Menge verschiedener Aussagen liegen. Welche "Offensichtliche" ist in diesem Fall diejenige, die du mit diesem "für sich sprechenden" Vorgang transportieren möchtest?

Churke

Zitat von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Hinterher ist man immer klüger
Die klassische Ausrede vor Wirtschaftsstrafkammern und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Warum haftet jeder von uns straf- und zivilrechtlich für Fahrlässigkeit und grobe Fahrlässigkeit? Weil die Rechtsordnung, die immerhin auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens und Jahrtausende alter Übung beruht, der Meinung ist, dass wir das erkennen können. Ich sehe keinen Grund, an historische oder fiktive Personen andere Sorgfaltsmaßstäbe anzulegen. Und das ist gut so, denn ihre Fehler verraten mir mehr über den Charakter einer Person als ihre Erfolge.

Zitat von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Die Geschichte ist auch voller Überraschungserfolge der Reihe "gewagt, aber genial", von denen die Zeitgenossen vor dem glücklichen Ausgang sicher gesagt haben: "Wie kann man so blöd sein?"
Da stimme ich dir zu: Man kann mit gewagten Aktionen Erfolg haben. Nur: Wer ein Wagnis eingeht, ist sich der Risiken im Klaren und weiß auch im die Konsequenzen eines Scheiterns. Möglicherweise ist das Risiko nicht verantwortbar und der Entscheider ein Hasardeur. Aber das zeigt sich in der Tat oft erst hinterher.
Etwas gänzlich anderes ist es, sich der Risiken überhaupt nicht bewusst zu sein. Da gibt's so Klassiker wie "Feindaufklärung lohnt sich nicht" (Adrianopel, 378), "Russland hat keine Eisenbahn" (Berlin, 1914) oder "deutsche Panzer kommen nicht durch die Ardennen" (Paris, 1940).

Zitat von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Welche "Offensichtliche" ist in diesem Fall diejenige, die du mit diesem "für sich sprechenden" Vorgang transportieren möchtest?
Dass das behauptete Musterreservat keines ist.


Farean

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 11:19:52
Die klassische Ausrede vor Wirtschaftsstrafkammern und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Nichts ist einfacher, als "die Anderen" zu verurteilen.

Sicher, man kann literarisch auf den (unzweifelhaft vorhandenen) tatsächlich offensichtlichen Fehlern, Verbrechen etc. diverser Mitmenschen rumreiten. Mit denen erzählt man dem Leser aber nichts Neues. Für mich persönlich hat das, ehrlich gesagt, die Qualität von Stammtischgefasel, bei dem man sich gegenseitig auf die Schulter klopft und darin bestärkt, daß alle miteinander dasselbe denken. Und nein, das würde ich nicht lesen wollen.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 11:19:52
Dass das behauptete Musterreservat keines ist.
Das ist eine ziemlich offensichtliche Aussage über etwas in der Geschichte. Eine "Aussage der Geschichte" kann ich dem bislang nicht entnehmen.

Lomax

@Churke: Nun es sind dann aber deine Maßstäbe, die du an den Einzelfall anlegst. Oder zumindest von dir gewählte Maßstäbe, die nicht unbedingt die sein müssen, die für die Betroffenen Personen relevant gewesen wären - und die, im Gegensatz zu gerichtlichen Einschätzungen von Fahrlässigkeit, sich nicht einmal einmal aus einem angenommenen Konsens heraus rechtfertigen lassen. Denn für historische Einschätzungen gibt es keinen Konsens, der überhistorische Gültigkeit hätte ... Womit die Eindeutigkeit dann schon fragwürdig wird, oder sich zumindest auf die allerbanalsten Fälle beschränkt.

Nehmen wir beispielsweise einmal die Staufer. Sie waren für den neuzeitlichen Reichsgedanken im zersplitterten Deutschland so etwas wie Ikonen und wurden vor allem im 19. Jahrhundert als so was wie tragische, aber heldenhafte Kämpfer fürs einheitliche Deutschland angesehen - sozusagen die letzten, die noch für das vereinigte deutsche Reich und gegen die Partikularinteressen der Fürsten gekämpft haben.

Aus heutiger Sicht, ohne Reichsromantik und ökonomisch zentriert, wie unsere Zeit nun einmal ist, muss man eher feststellen, dass die Staufer sehr offensiv das Reichsgut verschleudert haben, um sich die Unterstützung zu kaufen, die sie brauchten, um sich in der Auseinandersetzung gegen die Welfen zu behaupten, denen sie aus eigenen Mitteln einfach unterlegen waren. Und dieser Substanzverzehr war letztlich die Grundlage, dass nach ihnen einfach nicht mehr genug Reichsgut da war, was es einem späteren Kaiser erlaubt hätte, zusammen mit den eigenen Mitteln noch eine zentralistischere Politik in Deutschland durchzusetzen.
Welche Wertung dieser Dynastie wäre also die eindeutig richtige? Die moderne, oder die des 18. Jht.? Natürlich bin ich als Kind meiner Zeit geneigt zu sagen, dass der Fall eindeutig ist - andererseits sind im 18. Jhdt. genug Bücher mit der gegenteiligen Aussage zu dem Thema geschrieben worden, und die Autoren damals hätten den Fall wohl ebenso eindeutig gefunden ... Was nahelegt, dass er es wohl nicht ist. Nicht über die Zeiten hinweg.
Und noch neindeutiger wird es dann, wenn man auch noch ethische Dimensionen hinzufügt - wenn nun also die Staufer Apologeten oder Totengräber eines Reiches waren, was von beidem wäre dann, unabhängig von der sachlichen Richtigkeit, ein "falsches", "schlechtes" Verhalten gewesen? Wäre die gleichmäßige Entwicklung eines Zentralstaates in Deutschland seit dem Mittelalter wie in Frankreich oder England wirklich wünschenswert gewesen? Oder hat nicht eher die Kleinstaaterei die Entwicklung eines Rechtsstaats begünstigt und Deutschland für die Zeit des alten Reiches zu ekndm friedlicheren Teil Europas gemacht?
Auch die Stimmen habe ich gehört, die in den Kleinstaaten unter dem Dach einer mehr Judikativ als Exekutiv präsenten "Zentralautorität" ein Vorbild für die moderne europäische Entwicklung insgesamt sehen wollen.

Wie man es also dreht, und selbst wenn man sich für ein isoliertes historisches Ereignis aus einer Perspektive einmal auf eine eindeutige Antwort festgelegt hat, habe ich doch das Gefühl, dass man dieses Einzelereignis damit in eindm Gesamtzusammenhang positioniert, der am Ende immer mehr neue Fragen aufwirft, als man eindeutige Antworten finden kann.

Churke

Farean, ich beginne mich langsam zu fragen, wie deine Geschichten funktionieren. Eine Geschichte sollte einen Anfang haben und ein Ende und auch wenn es Irrungen und Wendungen gibt, sollte sie diesem Ende m.E. zielgerichtet entgegen streben. Dementsprechend sind die Handelnen determiniert. Sie können alleine schon deshalb keine freien Entscheidungen fällen, weil dann das Plothole droht. Wie willst du das als Autor verhindern? Wenn meine Story mit dem Fall von Jerusalem enden soll, dann muss König Guido alle Warnungen in den Wind schlagen und mit dem Kreuzfahrerheer nach Hattin ziehen.
Die Aufgabe des Autors sehe ich dann darin, die Handelden überzeugend zu motivieren und die Illusion einer Entscheidungsfreiheit zu schaffen.

Noch ein Wort zu moralischen Wertungen: Je negativer ich eine Person darstellen will, desto mehr lasse ich ihr Handeln durch Charakterschwächen wie Hochmut, Neid, Missgunst, Habgier, aber auch Hass und Liebe (!)  bestimmen.

Zitat von: Farean am 26. Oktober 2012, 13:08:06
Sicher, man kann literarisch auf den (unzweifelhaft vorhandenen) tatsächlich offensichtlichen Fehlern, Verbrechen etc. diverser Mitmenschen rumreiten. Mit denen erzählt man dem Leser aber nichts Neues.
Wirklich nicht? Ich finde die Frage nach dem Weshalb interessanter als die nach dem Was.


ZitatDas ist eine ziemlich offensichtliche Aussage über etwas in der Geschichte. Eine "Aussage der Geschichte" kann ich dem bislang nicht entnehmen.
Die Geschichte stellt ein System als Fake bloß. Der Clou dabei ist, dass die Protagonistin (Perspektivträgerin) bis zur letzten Seite bedingungslos von der Perfektion des Systems überzeugt ist, obwohl sie ständig in den A*** getreten bekommt. Sie sucht den Fehler immer bei sich, weil das System ja perfekt ist. Das ist so gemacht, dass der Leser eine völlig andere Realität erlebt als die ideologisch hirngewaschene Perspektivträgerin. Ich für meinen Teil finde den ständig provozierten Widerspruch extrem witzig. 

Churke

Zitat von: Lomax am 26. Oktober 2012, 14:30:47
Nehmen wir beispielsweise einmal die Staufer. Sie waren für den neuzeitlichen Reichsgedanken im zersplitterten Deutschland so etwas wie Ikonen und wurden vor allem im 19. Jahrhundert als so was wie tragische, aber heldenhafte Kämpfer fürs einheitliche Deutschland angesehen - sozusagen die letzten, die noch für das vereinigte deutsche Reich und gegen die Partikularinteressen der Fürsten gekämpft haben.
Das ist jetzt interessant, weil es nämlich einen verbreiteten Fehler vieler Historiker zeigt: Sie legen die Maßstäbe ihrer Zeit an Vertreter vergangener Epochen und kommen dann zu lächerlichen Urteilen. Friedrich der Große war undemokratisch und Bismarck ein neoliberaler Marktprediger und so weiter.
Bei den Staufern wären nun die Fragen zu stellen, ob es für sie überhaupt naheliegend war, einen Nationalstaat anzustreben, noch mehr aber, ob es ihre Zeitgenossen/Rivalen wollten. Wahrscheinlich käme man zu dem Schluss, dass ein Nationalstaat damals so abwegig war wie heute ein Königreich Deutschland. Alles in allem dürfte man folgern, dass die Staufer beim Verfolgen ihrer politischen Ziele zumindest nicht völlig erfolglos waren, was dafür spricht, dass sie ihren Aufgaben gewachsen waren. Natürlich hatte ihre Politik Folgen, aber historische Kausalität ist etwas anderes als historische Verantwortung. Ein Cesare Borgia ist nicht denkbar ohne Jesus Christus.  ;)

Farean

#27
Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Dementsprechend sind die Handelnen determiniert. Sie können alleine schon deshalb keine freien Entscheidungen fällen, weil dann das Plothole droht. Wie willst du das als Autor verhindern?
Indem ich, und zu diesem Thema habe ich diesen Thread doch überhaupt erst angefangen, die zentrale Frage im Auge behalte.

Als Autor habe ich durchaus die "Macht", meinen Charakteren Dinge zustoßen zu lassen, die sie dazu bringen, sich mit dieser zentralen Frage zu beschäftigen. Tatsächlich habe ich die Erfahrung gemacht, wenn diese zentrale Frage eine Herzensangelegenheit der Charaktere ist, die sie mit genügend Leidenschaft verfolgen, deuten sie das meiste, was ihnen zustößt, ganz von selbst im Hinblick auf diese zentrale Frage und verhalten sich entsprechend. Dabei kann ich häufig nicht vorhersehen, was sie tun werden; es ist für mich vollkommen denkbar, eine Geschichte anzufangen, ohne vorher zu wissen, wie sie ausgeht. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß bei diesem Vorgehen auf jeden Fall eine spannende Geschichte herauskommt, mit wohldefiniertem Anfang, Ende und Spannungsbogen; und zwar deutlich mitreißender, als wenn ich meine Charaktere an der kurzen Leine halte und immer wieder mit Gewalt zu "meinem" Plot zurückführe.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Wenn meine Story mit dem Fall von Jerusalem enden soll, dann muss König Guido alle Warnungen in den Wind schlagen und mit dem Kreuzfahrerheer nach Hattin ziehen.
*Seufz* Eigentlich will ich hier über Fantasy-Romane reden (deren Ausgang offen sein kann) und nicht über Historienromane (deren Ausgang feststeht), aber meinetwegen: in diesem Fall bestünde meine Vorarbeit als Autor in einer intensiven Recherche über die Person von König Guido und sein Umfeld. Ich muß ihn kennenlernen und verstehen, wie der Mann tickt. Ich muß ihn (ohne das Vorwissen über den Ausgang bei Hattin) in meinem Kopf "interviewen" und fragen, wie er handeln würde. Im Idealfall fühle ich mich so stark in ihn hinein, daß ich, wenn ich seine Rolle in einem Larp verkörpern würde, im Brustton der Überzeugung dieselben Entscheidungen fälle und voller Leidenschaft alle meine Kämpfer in den vermeintlichen Triumph führe.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Noch ein Wort zu moralischen Wertungen: Je negativer ich eine Person darstellen will, desto mehr lasse ich ihr Handeln durch Charakterschwächen wie Hochmut, Neid, Missgunst, Habgier, aber auch Hass und Liebe (!)  bestimmen.
Das ist wieder ein grundlegender Punkt, der sich auf mein ursprüngliches Topic bezieht: warum "willst" du einen Charakter negativ darstellen? Warum nicht einfach den Charakter handeln lassen und es dem Leser überlassen, was er von ihm hält?

Natürlich habe ich als Autor gewisse Sympathien für meine Protagonisten und Antipathien gegen meine Antagonisten. Natürlich schildere ich ihr Handeln subjektiv aus meiner Warte, und natürlich freue ich mich, wenn meine persönlichen Sympathieträger auch dem Leser sympathisch sind. Aber ich verknüpfe damit keinen felsenfesten Anspruch, daß dieser oder jener Charakter unbedingt auf eine bestimmte Weise rüberkommen muß. Wenn eine Leserin findet, meine wahnsinnige Edeldame, die von Meuchelmord an Unschuldigen bis zum großangelegten Gemetzel so ziemlich nichts ausläßt, sei eine bewundernswerte Powerfrau, dann möchte ich mit dieser Leserin bestimmt nicht zu Abend essen, aber ich kann - und will - ihr nicht das Recht absprechen, so zu empfinden.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Wirklich nicht? Ich finde die Frage nach dem Weshalb interessanter als die nach dem Was.
Stellst du sie denn? Bislang hatte ich den Eindruck, du reduzierst diese Frage jedesmal auf die Antwort: "Pure Blödheit, die richtige Sichtweise ist doch offensichtlich."

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Die Geschichte stellt ein System als Fake bloß. Der Clou dabei ist, dass die Protagonistin (Perspektivträgerin) bis zur letzten Seite bedingungslos von der Perfektion des Systems überzeugt ist, obwohl sie ständig in den A*** getreten bekommt. Sie sucht den Fehler immer bei sich, weil das System ja perfekt ist. Das ist so gemacht, dass der Leser eine völlig andere Realität erlebt als die ideologisch hirngewaschene Perspektivträgerin. Ich für meinen Teil finde den ständig provozierten Widerspruch extrem witzig.
Dann viel Spaß dabei. Auf mich wirkt es im Moment so, als hättest du einen Charakter erschaffen, über dessen Blödheit der Leser hämisch lachen kann, während er sich zurücklehnt und toll dafür fühlt, daß er den Durchblick hat. Das scheint mir nicht unbedingt geeignet, im Kopf des Lesers Fragen aufzuwerfen oder ihn auf neue Gedanken zu bringen. Es scheint mir eher ein Mittel zu sein, ihn in seinen vorherigen Ansichten zu bestärken - vorausgesetzt, sie stimmen mit deinen überein.

Churke

Zitat von: Farean am 27. Oktober 2012, 11:26:49
Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß bei diesem Vorgehen auf jeden Fall eine spannende Geschichte herauskommt, mit wohldefiniertem Anfang, Ende und Spannungsbogen; und zwar deutlich mitreißender, als wenn ich meine Charaktere an der kurzen Leine halte und immer wieder mit Gewalt zu "meinem" Plot zurückführe.
Da ist wohl der Unterschied zwischen uns beiden, dass bei dir die Charaktere die Geschichte bestimmen, während bei mir die Geschichte die Charaktere bestimmt. 

Ich habe historische Beispiele gebracht, weil man da nicht lange erklären muss. Für mich spielt es keine Rolle, ob eine Geschichte historisch ist oder ich sie mir ausgedacht habe. Ich könnte ebenso gut den Herrn der Ringe bemühen: Natürlich ist es eine interessante Überlegung, Frodo den Ring nicht ins Feuer werfen zu lassen. Aber das ist dann eine andere Geschichte.

Zitat
Das ist wieder ein grundlegender Punkt, der sich auf mein ursprüngliches Topic bezieht: warum "willst" du einen Charakter negativ darstellen? Warum nicht einfach den Charakter handeln lassen und es dem Leser überlassen, was er von ihm hält?
Zu jeder Handlung gehört ein Warum, sonst ist die Figur nicht glaubhaft. Wenn ich einem Charakter Motive zuschreibe, dann sind diese willkürlich ausgedacht. Geh nicht anders, ich kann sie ja nicht auswürfeln, denn dann wären sie nicht mehr glaubwürdig. Hinter den Motiven steht also in jedem Fall meine eigene Entscheidung. Je deutlicher dieser Entscheidung ist, desto lebendiger und glaubwürdiger kann ich den Charakter ausgestalten. Das bedeutet keine Festlegung auf "gut" oder "böse". Beispielsweise kann ich einen König auch mit einer chronischen Entscheidungsschwäche ausstatten. Der hört immer auf seine Berater, und die verfolgen nicht unbedingt die Interessen des Königs. Was nahelegt, dass überall die Missstände blühen... Allerdings - um noch einmal auf meine Arbeitsweise einzugehen - habe ich wahrscheinlich vorher beschlossen, dass im Reich Missstände herrschen und mir dann überlegt, welchen König ich dafür brauche.

ZitatAuf mich wirkt es im Moment so, als hättest du einen Charakter erschaffen, über dessen Blödheit der Leser hämisch lachen kann, während er sich zurücklehnt und toll dafür fühlt, daß er den Durchblick hat.
So einfach ist das nicht. Sie hat sehr gute Gründe dafür, aber das würde hier zu weit führen.

Lomax

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 18:40:53Alles in allem dürfte man folgern, dass die Staufer beim Verfolgen ihrer politischen Ziele zumindest nicht völlig erfolglos waren, was dafür spricht, dass sie ihren Aufgaben gewachsen waren.
Hm, damit würdest du allerdings die Frage nach der "eindeutigen Bewertung" auf die bloße Kausalität beziehen. Sprich, man schaut sich an, wie die Figur in der Situation agiert und was sie will, und dann wählst du Konstellationen, die vor diesem Hintergrund klar zu bewerten sind.
  So reduziert ist das vermutlich einfacher. Ich hatte dich allerdings schon so verstanden, dass sich deine Eindeutigkeit nicht nur auf die einfache Kausalität einzelner Handlungen im Text bezog, sondern durchaus auf das Große Ganze: Auf die eine Aussage einer Geschichte insgesamt, auf die übergreifende moralische und/oder sachliche Wertung der Gesamtkonstellation.
  Und schon bei der Reduktion auf die einfachste Kausalität "Was will die Figur" > "Was tut sie" > "Wie lässt sich das werten", kann es schon Willkürlichkeit erfordern, da eine Eindeutigkeit herzustellen. Um beim Beispiel der Staufer zu bleiben, klar: Sie wollten ihre Macht und die Krone erhalten, sie wollten ihre Konkurrenten ausschalten. Dazu haben sie die Mittel eingesetzt, die sie hatten. Der Mitteleinsatz hatte in den meisten Einzelfällen den beabsichtigen Erfolg, und möglicherweise waren die Einzelschritte für die jeweiligen Einzelziele alternativlos. Nur kann man die Einzelfallentscheidung des einzelnen Königs im Falle "Was kann ich jetzt tun, um diese Krise zu meistern und die Krone zu erhalten" nicht von dem Umstand trennen, dass es per se nicht gesund ist, Investitionen auf Kosten der Substanz zu tätigen. Sprich, natürlich kann man festhalten, dass die Entscheidungen in jedem Einzelfall zielführend waren; dass ie aber in ihrer Summe dem Königtum und damit auch der Dynastie, deren Ansprüche sie in jedem Einzelfall schützen sollten und geschützt haben, den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
  Womit man dann doch schon wieder eine "Frage in der Geschichte" hätte, die sich schwerlich so eindeutig beantworten lässt, ohne gewisse Sichtweisen einfach auszublenden - nämlich wie weit sich sich die Kausalität reduzieren lässt. Wenn das Ziel des Protagonisten ist, "die Krone zu erhalten", ist es dann ein Erfolg, dass er jeden einzelnen Angriff von mächtigen Gegnern abwehren kann, die sie ihm streitig machen? Oder ist es der Fehler, nicht direkt von Anfang an zu sehen, dass man sie nicht halten kann, weil man nur die Wahl hat zwischen Niederlage und langsamer Erosion über mehrere Generationen? Ist dann schon der erste Schritt auf diesem Weg ein Erfolg, weil die Krone zunächst verteidigt wurde? Oder ein Misserfolg, weil man den Gesamtverlust, der drohte, nur abwenden konnte, indem man zu dem allmählichen Verlust in Bezug auf das gesteckte Ziel beigetragen hat.
  Und die interessante Frage, die für mich in dieser Geschichte stecken würde, wäre die: Wenn man die Krone will und sie aus irgendwelchen Gründen bekommt, obwohl absehbar ist, dass man sie nicht halten kann - lohnt es sich dann, darum zu kämpfen und den Verlust so lange wie möglich hinzuziehen? Was für einen Preis zahlt man selbst dafür, was für einen Preis lässt man andere zahlen, und gäbe es bessere Alternativen? Und hat man in so einer Situation überhaupt die Wahl, etwas anderes zu tun oder nicht doch noch eine dauerhaft erfolgversprechende Strategie zu finden?
  Für mich laufen Geschichten nun mal gerne auf solche Fragen hinaus, und sie aufzuwerfen, finde ich letztlich spannender, als nur eine Antwort darauf darzustellen.
  König kriegt Krone, verteidigt sie durch hundert Herausforderungen, nur um am Ende dem Rudel seiner Feinde zwangsläufig zu erliegen, nachdem er alles gegeben hat - das wäre in der Tat eine Geschichte, die schon oft erzählt wurde und die ihren Reiz hat. Aber wo wäre der Reiz, wenn alles, was darin passiert, so zwangsläufig und eindeutig ist, dass der Leser nicht zumindest mitfiebern kann, sich Dutzende alternative Verläufe dazu ausdenken kann, wie es anders hätte kommen können, wo Fehler gemacht wurden ... oder doch nicht? Und zwar ohne dass die Geschichte diese Spekulationen des Leser beantwortet und sie damit abschneidet.

Ich gebe zu, viele Leser sind irritiert, wenn am Ende nicht alle diese Fragen, die die Geschichte bei ihm aufwirft, auch (scheinbar) eindeutig beantwortet werden. Aber ich denke auch, dass offensichtlich sein sollte, dass dieses Aufwerfen von Fragen, die man dem Leser allein überlässt, durchaus auch seinen eigenen Reiz haben kann und ein eigenes dramaturgisches Potenzial.