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Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!

Begonnen von Farean, 08. Oktober 2012, 19:24:43

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Farean

Mir ist heute etwas aufgefallen, was mich sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben einer Geschichte stark beeinflußt. Ich wüßte gern, ob es euch genauso geht.

Literarisch wird ja gern die "Aussage" einer Geschichte herausgearbeitet, also das, was ein Künstler mit seinem Werk sagen will. Eine Geschichte mit einer prägnanten Aussage reißt den Leser mit, regt zum Nachdenken an und läßt ihn mit der Erinnerung an ein spannendes Erlebnis zurück.

So sagt man.

In der Praxis habe ich festgestellt, daß diese Theorie bei mir nur sehr selektiv greift. Die Aussage einer Geschichte, das Fazit, das der Autor selbst zieht, kann mich sehr mitreißen; aber im Grunde nur, wenn ich dem Autor zustimme. Wenn ein Autor eine Aussage unterbringt, die mir total gegen den Strich geht, kann die Geschichte noch so gut geschrieben sein, und ich werde sie kein zweites Mal anfassen. So geschehen - leider - mit einigen wirklich meisterhaften Werken, z.B. von Ursula K. LeGuin. Ein Werk mit einer festen Aussage wirkt auf mich nur dann, wenn ich mit der Aussage im Grunde ohnehin schon übereinstimme.

Wenn die Geschichte es dagegen schafft, eine Frage aufzuwerfen und deren Beantwortung trotz allem, was in der Handlung passiert, offen genug für eigene Gedanken läßt - dann hat mich der Autor gepackt. Wenn es darauf hinausläuft, daß ich mich immer wieder gefragt fühle "Wie würdest du in dieser Situation handeln?" ... dann fühle ich mich in den Roman einbezogen, dann habe ich die größtmögliche Immersion in die Handlung. So geschehen auch bei vielen eher anspruchslosen Werken, z.B. von Joel Rosenberg.

Das gilt für mich als Leser, und ich stelle fest, auch als Autor fühlen sich meine Ergebnisse viel besser an, wenn ich mit einer offenen Fragestellung an die Geschichte herangehe als mit einer festen Aussage. Eine feste Aussage setzt mich als Autor unter Druck, meine Charaktere an die kurze Leine zu nehmen und ihnen für jede Szene ein Drehbuch vorzukauen. Eine offene Frage läßt den Charakteren in meinem Kopf den Freiraum, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen und mir ihre Geschichte vorzuleben. Und wenn meine Charaktere am Ende für sich eine ganz andere Antwort finden als ich für mich, dann macht das nichts, denn ich bin trotzdem den Weg mit ihnen gegangen, habe an jeder Gabelung mitgefiebert und daraus gelernt.

Wie sieht das bei euch aus? Habt ihr an euch schon ähnliche Beobachtungen gemacht? Könnt ihr welche von euren Werken mit einer knackigen "Kernfrage" zusammenfassen?

Ich bin gespannt. :)

Churke

Ich weiß nicht, ob ich deine Frage richtig verstehe.
Kann es sein, dass du dich mit einem Perspektivträger nicht identifizieren kannst, weil dir der Typ gegen den Strich geht? Das ist höchst ärgerlich, lässt sich aber eigentlich nicht ändern. Wenn Geschichte und Figuren anders wären, wäre es eine andere Geschichte. Und die wollte der Autor wahrscheinlich nicht schreiben.

Zitat von: Farean am 08. Oktober 2012, 19:24:43
Eine offene Frage läßt den Charakteren in meinem Kopf den Freiraum, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen und mir ihre Geschichte vorzuleben.
Das liest sich sich für mich jetzt wie der Klassiker story-driven vs. character-driven.

Zitat von: Farean am 08. Oktober 2012, 19:24:43
Eine feste Aussage setzt mich als Autor unter Druck, meine Charaktere an die kurze Leine zu nehmen und ihnen für jede Szene ein Drehbuch vorzukauen.
Auch wenn sich die Figuren penibeln an ihre Aufgaben in der Story halten, ist das mit dem Drehbuch schwer genug.  :)




Rhiannon

Hmm, ich weiß jetzt nicht, ob ich das richtig verstanden habe, Farean, aber ich interpretiere es einmal so:
Du magst es nicht, wenn der Autor über seine Geschichte eine bestimmte (wohl meistens moralische) Aussage kommuniziert.

Ich kann von mir sagen, dass ich den erhobenen Zeigefinger und die Moralkeule hasse. Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Buch nur geschrieben wurde, um eine gewisse Weltsicht zu transportieren, werde ich das Buch auch eher weglegen, als noch einmal lesen.
Ansonsten, wenn eine Geschichte eine Aussage hat, mit der ich nicht übereinstimme, diese aber nur in der Geschichte mitschwingt, ohne zu erschlagen, kann es sein, dass ich das Buch trotzdem toll finde.

Was die Kernfragen angeht... Ich glaube, die sind sehr schwer zu interpretieren, weil ich nicht glaube, dass es so arg viele Autoren gibt, die ihr Werk mit der Absicht, eine genaue Kernfrage zu beantworten, schreiben. Natürlich gibt es Fragen, die einen zu etwas inspirieren (Bei Zwischen den Welten war es bei mir zuerst die Frage: Was geschieht, wenn man einen Erwachsenen in die Fantasiewelt eines Kindes packt?). Aber ich weiß nicht, ob man sagen kann, das Buch beantwortet diese Fragen.
Und ich habe mich inder Schule zum Beispiel immer sehr schwer damit getan, bei einem Buch auf eine Kernaussage festgelegt zu werden, ich hab mir dann immer die Frage gestellt: "Und wenn der Autor eigentlich etwas ganz anderes oder vielleicht auch gar nichts sagen wollte?"

Zit

Ich denke eher, dass Farean von, wie es so schön nach Frey heißt, der Prämisse spricht -- und die kann sich eben unformuliert allein durch Plot und Charaktere ziehen oder sauber rausgearbeitet daher kommen. Ich denke, eine Prämisse ist dann gut umgesetzt, wenn man sie nicht merkt. (Und imho hat jede Geschichte einen Grundsatz, nach dem sie funktioniert. Das kann so banal sein wie "A kriegt B".)
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Farean

@Churke: Nein, damit, ob ich mich mit einem Charakter identifizieren kann oder nicht, hat meine Frage nichts zu tun. Tatsächlich wird für mich die "klare Aussage" eher noch störender, wenn ich mich mit dem Charakter identifizieren kann und dann für ihn die "Zwangsläufigkeit" gewisser Schlußfolgerungen suggeriert wird.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel, LeGuins "Planet der Habenichtse". Der Roman ist meisterhaft geschrieben, sehr lebendig, und Shevek ist mir als Perspektivträger nicht nur sympathisch, sondern bietet auch jede Menge Identifikationsfläche. Aber nachdem LeGuin die Frage aufwirft "Kann eine Anarchie funktionieren?", choreographiert sie die Ereignisse so, daß für Shevek die Antwort herauskommen muß: "Die Anarchie ist die einzig wahre Gesellschaftsform, jede Form von Autorität ist Tyrannei." Hier ließ mich das Buch mit dem Gefühl zurück, daß ich nicht zum eigenständigen Denken angeregt werden sollte, sondern daß ich hinterher gefälligst mit LeGuins Fazit übereinzustimmen hatte.

Zit hat es eigentlich am besten auf den Punkt gebracht, mir geht es um das, was Frey als Prämisse bezeichnet. Allerdings formuliert Frey die Prämisse grundsätzlich als Aussage, während es mich weit mehr anspricht, sie als Frage zu formulieren. Und das ist nicht nur reine Semantik, sondern beeinflußt meinem Empfinden nach spürbar die Art und Weise, wie ein Roman geschrieben ist. Um beim Beispiel "Planet der Habenichtse" zu bleiben, LeGuins Prämisse wird dadurch zur fixen Aussage, daß sie in den Dialogen grundsätzlich jeden, der nicht mit Shevek übereinstimmt, ohne Argumente dastehen läßt; hätte sie an diesen Stellen einen echten Disput geführt, die Aussage wäre in eine Frage an den Leser umgekehrt worden: "Welche Bedingungen muß für dich eine Gesellschaftsform erfüllen?" ... und eben mein schon eingangs erwähntes: "Wie würdest du an Sheveks Stelle handeln? Zu welchen Schlüssen kämst du für dich selbst?"

Debbie

ZitatWie sieht das bei euch aus? Habt ihr an euch schon ähnliche Beobachtungen gemacht?

Ehrlich gesagt, nein. Ich mag Bücher nicht, die der Autor nicht auch irgendwie moralisch wertet - durch Bestrafung der Charaktere in irgendeiner Form - das gehört für mich zu einem guten Buch (und einem guten Autor) dazu. Allerdings passiert es mir eher selten, dass ein Autor mit seiner Geschichte meine Ansichten und Prinzipien ins Wanken bringt ... Meist gehe ich mit den gängigen "Gut-Böse-Vorstellungen" konform.
Hat ein Buch dagegen ein offenes Ende - also wird die zentrale Frage von Seiten des Autors nicht geklärt - oder wagt es solch politisch gewagte Aussagen, wie "Anarchie ist eigentlich die einzig wahre Gesellschaftsform", bewerte ich es (ganz unterbewusst bisher) als "schlechtes" Buch. Aber auch in dem Fall, würde ich die Variante mit einer deutlichen "Stellungnahme" des Autors vorziehen - u. U. kann sowas natürlich zu einem gesellschaftlichen Diskurs anregen, und abseits der "gängigen Struktur" ist in so einem Fall auch definitiv nicht immer was schlechtes. Zumindest hat man am Ende etwas in der Hand, an dem man eigene Moralvorstellungen, Prinzipien, etc. messen - und eventuell stoßen - kann.

Ich halte allerdings GARNICHTS von "allgemeingültigen Textanalysen". Das was in der Schule heute (oder auch schon etwas früher) betrieben wird, von wegen "nur was im Literaturschlüssel zur Ausgabe steht, ist richtig", finde ich übelkeiterregend. Solche Schlüssel sollten - und können teilweise auch - nur eine Anleitung sein, wie man einen Text richtig analysiert, welche Punkte beachtet werden müssen, etc.. Ansonsten finde ich, muss jeder Leser gefühlsmäßig für sich die richtige "Textaussage" finden - trotz der "vermeintlichen" Textaussage des Autors. Dazu ist Literatur m. M. nach nämlich da, um sich und die Welt besser kennenzulernen und zu verstehen, zum Nachdenken anzuregen - und nicht dazu, die Gedanken anderer zu einem Text auswendig zu lernen und wiederzukäuen.  ::)

ZitatKönnt ihr welche von euren Werken mit einer knackigen "Kernfrage" zusammenfassen?

Ich denke ... Aber sicher bin ich mir da nicht. Die Prämisse stand bei mir nämlich nicht am Anfang. Aber ich nehme sehr wohl (durch das Schicksal der Charaktere) moralische Wertungen vor. Allerdings wird alles meistens von "beiden Seiten" beleuchtet, und verschiedene Standpunkte aufgezeigt. Im Großen und Ganzen geht es wohl (bis zu einem gewissen Grad?) um Moral an sich, und darum, dass jeder helle und dunkle Seiten hat. Zufrieden bin ich, wenn es am Ende für jeden Leser möglich ist, eine eigene, persönliche Aussage im Text zu finden. Dann hab ich, als Autor, meinen Job gemacht.

Churke

Ah, jetzt verstehe ich, was du meinst.

"Planet der Habenichtse" kenne ich nicht, aber so wie du es darstellst, sind die Dispute eher schlecht geschrieben. Die Antagonisten müssen ihre Gegenpositionen glaubhaft vertreten - und daran scheint es bei "Planet der Habenichtse" zu fehlen. Abgesehen davon, dass LeGuins These ziemlich gewagt ist und damit Widerspruch provozieren muss.

Andererseits frage ich mich, ob man eine Frage aufwerfen und die Antwort schuldig bleiben kann. In vielen Fällen ist das ein mehr oder weniger elementarer Bestandteil des Plots. Wenn ich einen Anarchisten-Roman schreibe, muss ich mich als Autor nun mal entscheiden, ob die Utopie funktioniert oder nicht. Wenn sie nur funktionieren könnte, brauche ich einen anderen Plot.

Farean, du hast nur etwas über Dialoge geschrieben. Wie stehst du zu "Spielszenen", die die Message des Autors transportieren? Ich arbeite weniger mit großen Fragen/Antworten, sondern eher mit kleinen, verborgenen Messages.

Farean

Zitat von: Debbie am 09. Oktober 2012, 13:55:53
Zufrieden bin ich, wenn es am Ende für jeden Leser möglich ist, eine eigene, persönliche Aussage im Text zu finden. Dann hab ich, als Autor, meinen Job gemacht.
Das ist ganz genau mein Punkt. :) Wenn meine Geschichte eine Frage behandelt, ohne dem Leser "die" Antwort aufzudrängen, dann bin ich ebenfalls zufrieden.

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 14:18:32
Andererseits frage ich mich, ob man eine Frage aufwerfen und die Antwort schuldig bleiben kann. In vielen Fällen ist das ein mehr oder weniger elementarer Bestandteil des Plots. Wenn ich einen Anarchisten-Roman schreibe, muss ich mich als Autor nun mal entscheiden, ob die Utopie funktioniert oder nicht. Wenn sie nur funktionieren könnte, brauche ich einen anderen Plot.
Jein. Was für den einen als Gesellschaft "funktioniert", ist für den anderen die Hölle. Denkbar wäre ja auch ein Ende, bei dem der Protagonist gern in seine Anarchie zurückkehrt, ein anderer Charakter hingegen in dem Staat mit der Obrigkeit bleibt, weil er dort glücklicher wird.

Das Vorgehen, das ich für mich selbst beim Schreiben sehe, besteht darin, (a) eine Frage aufzuwerfen und (b) die Geschichte meiner Charaktere zu beschreiben, wie sie ihre persönliche Antwort darauf finden. Diese Antwort muß nicht die des Lesers sein, sie muß noch nicht einmal meine eigene als Autor sein. Mindestens eine Antwort auf die gestellte Frage muß ich als Autor schon geben, da hast du recht. Besser finde ich je nach Story mehrere Antworten - eine pro Charakter, um genau zu sein. Denn im Grunde erlebt ja jeder im Rahmen des Plots seine eigene Geschichte.

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 14:18:32
Farean, du hast nur etwas über Dialoge geschrieben. Wie stehst du zu "Spielszenen", die die Message des Autors transportieren? Ich arbeite weniger mit großen Fragen/Antworten, sondern eher mit kleinen, verborgenen Messages.
Das kommt ganz auf die Message an. Läßt du die Fakten (bzw. die fiktive Situation) für sich sprechen, oder lieferst du die Bewertung gleich mit?

Lomax

Also, ich finde mich in der Darstellung schon ganz gut wieder. In meinen Geschichten steht auch eher eine "Wahrheit" am Anfang, die dann erschüttert wird - sei es eine Wahrheit in der Geschichte, oder eine Wahrheit, die in der Welt gerne verkündet wird oder die ich auch so in einem anderen Werk gefunden habe und bei der ich das Gefühl hatte, dass sie es wert ist, in Frage gestellt zu werden. Ich würde also schon sagen, dass ich in meinem Geschichten eher Fragen stelle und damit auch besser zurechtkomme.
  Wie es mit Antworten aussieht - natürlich findet die ein oder andere Figur in den Geschichten ihre persönlichen Antworten. Aber ebenso natürlich sind die auch wieder in Frage gestellt dadurch, dass andere Figuren oder der Leser andere Antworten auf dieselbe Frage finden mögen. Oder das die Antwort der Figur durch die Geschichte am Ende schon widerlegt ist. Was am Ende bleibt, ist halt eher die Frage, die ich für wichtig halte, und die Suche nach der Antwort - nicht die Antwort selbst.
  Ich würde sogar sagen, dass ich allen meinen Geschichten gerne die grundsätzliche Aussage mit auf den Weg gebe, dass man immer fragen sollte und es nie nur eine Wahrheit gibt ;)

Churke

Zitat von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Besser finde ich je nach Story mehrere Antworten - eine pro Charakter, um genau zu sein. Denn im Grunde erlebt ja jeder im Rahmen des Plots seine eigene Geschichte.

Nun führt das Liefern von alternativen Antworten aber auch zu deren Relativierung. In einer klassischen Tragödie lässt die dramatische Logik dem Helden keine andere Wahl. Das mag einem missfallen, aber so erzeugt man die maximale Wirkung.
Ein Beispiel: Letztes las ich 10 Theorien, warum die Südstaaten den amerikanischen Bürgerkrieg verloren haben. Die Bandbreite reicht von "hatten nie eine Chance" bis zu Dolchstoßlegenden. Eine Romanfigur, die sich des "lost cause" bewusst ist, ist eine völlig andere, als eine, die an den Sieg glaubt. Nun kann ich zwar als Autor beide Positionen nebeneinander stehen lassen. Aber: Wenn ich den ganzen Roman ins Zeichen des lost cause setze, verleihe ich der ganzen Sache mehr Gewicht und Dramatik.

Zitat von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Das kommt ganz auf die Message an. Läßt du die Fakten (bzw. die fiktive Situation) für sich sprechen, oder lieferst du die Bewertung gleich mit?
Ich präsentiere Fakten oder Situationen, die nur eine Bewertung zulassen. Das ist wie bei Voltaires Candide, der in der besten alle möglichen Welten lebt und dabei ständig in den A*** getreten bekommt.  ;)

Farean

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 21:26:22
Nun führt das Liefern von alternativen Antworten aber auch zu deren Relativierung. In einer klassischen Tragödie lässt die dramatische Logik dem Helden keine andere Wahl. Das mag einem missfallen, aber so erzeugt man die maximale Wirkung.
Dem kann ich aus meiner Sicht nicht zustimmen, weder als Autor, noch als Leser. Was einen Charakter für mich interessant macht, sind seine Entscheidungen (selbst wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen und ihn tiefer in die Tragödie reinreiten). Wenn der Charakter nur von Zwängen und Notwendigkeiten getrieben seiner Bestimmung folgt, wird es für mich schnell langweilig.

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 21:26:22
Ich präsentiere Fakten oder Situationen, die nur eine Bewertung zulassen.
Kannst du dafür mal ein Beispiel nennen?

Churke

Zitat von: Farean am 11. Oktober 2012, 09:52:50
Was einen Charakter für mich interessant macht, sind seine Entscheidungen (selbst wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen und ihn tiefer in die Tragödie reinreiten). Wenn der Charakter nur von Zwängen und Notwendigkeiten getrieben seiner Bestimmung folgt, wird es für mich schnell langweilig.

Aber ist er denn überhaupt "frei"? Wenn ein Charakter ein Draufgänger ist, dann wird er in der entsprechenden Situation auf Angriff schalten. Das Tun ist Spiegelbild des Charakters. Schau dir mal das Euro-Drama an: Angela Merkel fällt auch immer um. Zuverlässig wie ein Uhrwerk. Langweilig? Keineswegs, denn das Drama geht weiter. Obwohl im 3-Monatsrhythmus das Ende der Krise verkündet wird.

Zitat von: Farean am 11. Oktober 2012, 09:52:50
Kannst du dafür mal ein Beispiel nennen?
Die DDR.
Bis 1989 hat da jeder, der was werden wollte, das Lied von der Überlegenheit des Sozialismus gesungen.






Tanrien

#12
Zitat von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Besser finde ich je nach Story mehrere Antworten - eine pro Charakter, um genau zu sein. Denn im Grunde erlebt ja jeder im Rahmen des Plots seine eigene Geschichte.

Da stimme ich absolut zu. Churke hat natürlich auch recht, dass es stärker sein kann, in einer klassischen Tragödie jeden auf die gleiche Art ins Unheil zu schicken - ist auch eine Botschaft -, aber heutzutage gibt es so viel Diversität zu sehen, dass ich es für Autoren eigentlich wichtig finde, gerade eben nicht in die schon so oft geschlagenen Kerben zu treffen.

Wenn es eine neue Botschaft ist, die herüber gebracht wird, dann finde ich es ja vielleicht noch spannend, ein Konzept zu sehen, wo es allen Charakteren mehr oder weniger gleich ergeht, also der Weg akribisch beleuchtet wird, aber meistens sind es ja dann doch stumpfe, teils gefährliche Botschaften ("Frauen vergeben fremdgegangenen Ehemännern", "Autorität ist böse", "Der Sieg über den bösen Herrscher wird das Königreich retten", "Zwanghafte Kontrolle in Beziehungen ist sexy"), die einfach jedes Mal wieder auftauchen und wenn sie sich wirklich bei jedem einzelnen Charakter manifestieren und nie differenziert werden, dann fragt man sich als Leser, ob der Autor überhaupt darüber reflektiert hat oder schlicht eine begrenzte, westlich-kulturelle "Weisheit" wiederholt. Und dafür sieht der Leser in der Realität ja oft genug, dass es nicht funtioniert.

Farean

Zitat von: Tanrien am 11. Oktober 2012, 20:45:21
heutzutage gibt es so viel Diversität zu sehen, dass ich es für Autoren eigentlich wichtig finde, gerade eben nicht in die schon so oft geschlagenen Kerben zu treffen.
Danke, Tanrien, das faßt wunderbar mein Gefühl bei der Sache in Worten. Früher, als das klassische Drama sich entwickelte, ging es noch darum, überhaupt eine Aussage zu finden. In der heutigen Zeit mit modernen Reproduktionsmitteln und einem riesigen Angebot an Werken stehen wir eher vor der Herausforderung, bestehende Aussagen in Frage zu stellen und auszusortieren.

Zitat von: Churke am 11. Oktober 2012, 19:56:38
Die DDR.
Churke, nur um sicherzugehen: verstehe ich dich richtig? Du behauptest, die reale Geschichte der DDR mit etlichen Millionen beteiligten Personen und Schicksalen lasse nur eine einzige, zwangsläufige moralische Bewertung zu?

Churke

Zitat von: Farean am 15. Oktober 2012, 08:57:06
Churke, nur um sicherzugehen: verstehe ich dich richtig? Du behauptest, die reale Geschichte der DDR mit etlichen Millionen beteiligten Personen und Schicksalen lasse nur eine einzige, zwangsläufige moralische Bewertung zu?

Fortgesetzte und offensichtliche Insolvenzverschleppung ist keine moralische Bewertung.

Die Verantwortlichen sind zudem tragische "Helden". Die DDR-Oberen wussten bereits in den 70ern, dass die DDR bei der Fortsetzung ihrer Politik unausweichlich pleite gehen würde. Aber das war halt alternativlos und so wurde weiter gewirtschaftet bis zum bitteren Ende. Die Aussage der Geschichte: Ein totalitäres System kann nicht geändert werden. Um es zu ändern, müsste man es in Frage stellen. Aber wenn man es in Frage stellen dürfte, wäre es nicht mehr totalitär.