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Antonia Michaelis

Begonnen von Rigalad, 22. Juli 2012, 10:29:09

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Rigalad

Hallo ihr Lieben,

anlehnend an die Diskussion, die auch bei Twilight und Shades aufgekommen ist: Ich denke, viele von euch kennen Antonia Michaelis, die vor allem für "Der Märchenerzähler" einige Literaturpreise bekommen hat und sogar für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert ist.
Ich selbst habe dieses Buch vor etwa einem halben Jahr gelesen und es lässt mich immer noch nicht los, deswegen würde ich es toll finden, wenn der ein oder andere mich erleuchten kann: Warum kommt dieses Buch so gut an? Warum ist es sogar für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert?
Ich mochte ihren Stil sehr gern und auch das Märchen fand ich schön zu lesen. Aber (Achtung, Spoiler):

Was ist denn die Bedeutung des Romans? Protagonistin Anna läuft bis zur Selbstaufgabe Adam hinterher, der sie meistens ignoriert oder wie Dreck behandelt. Als er sie dann doch ganz nett findet und sie "zusammen kommen", endet das erste Mal in einer Vergewaltigung. Diese verzeiht Anna ihm dann nach ein paar Tagen. Ist ja nicht so schlimm? Und als dann noch herauskommt, dass er ein paar Menschen umgebracht hat, erleben sie doch noch eine schöne Liebesnacht (weil das ja auch alles nicht so schlimm ist?) und statt sich den Konsequenzen seines Handelns zu stellen, nimmt Adam sich das Leben.
Ja, natürlich gibt es im Hintergrund noch eine schlimme Kindheit.


Ehrlich, ich war geschockt. Kann man das jugendlichen Lesern so transportieren? Dass das alles in Ordnung ist und verziehen werden kann, einfach so? Ich finde, man kann ihnen durchaus schwierige Themen zutrauen, auf jeden Fall. Aber mit solch einer Auflösung? Puh.


Liebe Grüße,
Riga

Pestillenzia

Möglicherweise bin ich nicht qualifiziert genug, um etwas zu diesem Thema zu sagen, weil ich weder die Autorin noch ihre Bücher kenne. Deshalb kann ich nur etwas zu diesem kurzen Spoiler sagen.

Aus der Sicht von jemandem, der mit vergewaltigten Frauen und Mädchen gearbeitet und das Leid hautnah mitbekommen hat, stellt es mir nicht nur alle Haare auf sondern ich werde auch richtig wütend, wenn die Handlung wirklich so abläuft.
Heruntergespielte Folgen von Vergewaltigungen haben in keinem Buch etwas zu suchen, weder in einem für Erwachsene und schon gar nicht für Jugendliche. Die Autorin scheint keine Ahnung zu haben, wie viele Menschen an Vergewaltigungen zerbrechen und das ein Leben lang mit sich herum schleppen.
Auch die Tatsache, dass die Protagonistin es leicht zu schlucken scheint, dass ihr Freund/Vergewaltiger ein paar Menschen umgebracht hat, finde ich ziemlich an den Haaren herbeigezogen und nicht unbedingt glaubwürdig.

Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht und gebe hier nur eine Ferndiagnose ab und kann mit meinem Eindruck vom Hörensagen völlig falsch liegen. Aber dafür bin ich jetzt umso mehr interessiert an Meinungen von denjenigen, die das Buch gelesen haben.

Rigalad

@Pestillenzia

Die Jugendbuch-Couch hat hier eine Rezension eingestellt, die ich in vielen Punkten nachvollziehen kann. Da wird auch noch mehr auf den Inhalt eingegangen und ist sicher informativer als meine - etwas ironische - Spoilerkurzzusammenfassung. :)

Zit

#3
Ich kenn das Buch auch nicht, aber mag etwas aus einem anderen Kontext einwerfen.

Gestern kam auf Vox eine alte Reportage/Diskussionsrunde über Sex. Und da fielen Themen wie Eifersucht, Verhütung, Promiskuität -- Monogamie, etc. Unter anderem kamen sie auch auf Fantasien im Rahmen von Pornos zu sprechen. Ich denke, dass da Liebesromane nicht viel anders sind: Sie stellen nicht die Realität dar, sondern Fantasien. Und genauso wie es Vergewaltigungspornos bzw. -fantasien gibt, genauso gibt es das auch in der Literatur und führt auch zu solche Verhalten wie im Spoiler. Die Sache bei Fantasien ist nur, dass man trotz allem immer noch Herr der Lage ist, was die eigenen Fantasien angeht als auch das Konsumieren solcher in Form von Pornos oder Büchern. Wenn es zu einem Punkt kommt, an dem mir das Ganze zu abstrus wird, kann ich ja verschieden reagieren, weiterlesen und Kopf schütteln, weiterlesen und lachen über die abstruse Situation oder es einfach weglegen und drüber meckern oder weglegen und es vergessen oder, oder. Und, genauso wichtig ist auch: Nur, weil ich solche Fantasien habe oder diese konsumiere, muss ich das nicht genauso in der Realität haben wollen oder mir nicht bewusst sein, dass sowas in der Realität Menschen zerbricht. (Eine Vermutung war auch, dass "wir" -- wir als Menschen -- in unsere Fantasie gerade solche schreckliche Dinge auch holen, weil wir, da wir immer noch die Kontrolle haben, den Umgang mit sowas "üben" ... Fragt mich nicht. ::))

Das tatsächliche Problem seh ich also eher darin, wer das liest. Ist das jemand, der schon ein Wertesystem hat und sich vorallem bewusst ist, dass es nur Fantasien sind, die überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben, ja, dass sowas in der Realität sogar Menschen kaputt macht und alles andere als angenehm ist -- oder ist es eben jemand ohne diese Unterscheidungsfähigkeit. Und wenn dieser jemand dann noch mit den Fantasien alleine gelassen und nicht aufgeklärt wird ... :no:

Wobei ich es tatsächlich schon kritisch finde, wenn Bücher mit solchen Fantasien ausgezeichnet werden. :-\
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Nirathina

#4
Ich habe das Buch letztes Jahr gelsen und bin ehrlich gesagt immer noch ein bisschen angewidert von dem Voranschreiten der Handlung  >:(

Das Buch begann eigentlich ganz gut: Ein cleveres, begabtes Mädchen verliebt sich in den Außenseiter und Problemjungen. Da könnte es schöne Zwistigkeiten geben, habe ich gedacht, da könnte die Autorin viel über die Gesellschaft und die Jugend von heute reflektieren. Gemalte Phrasen, Metaphern und poetische Anrisse haben mir weitere Hoffnung gemacht, der Junge, der seine kleine Schwester schützen will und die Realität in einem Märchen verpackt - das wird ein schönes Häppchen. Dachte ich.

Aber die Enttäuschung und das Entsetzen folgten auf dem Fuße. Denn man muss tatsächlich sagen: Das Buch wird ab der Mitte Schrott.

Ja, es ist so, wie Rigalad es im Spoiler gesagt hat: Die Musterschülerin mit besten Noten und einem 1A-Einstein-Gehirn lässt sich völlig verständnislos vergewaltigen und gibt sich dafür zur Hälfte auch noch selbst die Schuld, um ihren Typen nicht zu verlieren. Und ja, sie bleibt bei ihm, selbst als sie das Blut sieht, das an seinen Händen klebt. Nur der Liebe wegen? Weil sie sieht, wie hingebungsvoll er sich um seine kleine Schwester kümmert? Das ist absoluter Stuss, das ist ein Eklat, denn das ganze wird als Jugendroman deklariert und erhält Preise. Wofür denn? Dafür, dass die Autorin schwierige Themen aufnimmt und hinterher nicht mehr mit ihnen arbeiten kann, sie stattdessen in Naivität und geradezu höhnischer Einfachheit versumpfen lässt? Völlig unverständlich für mich.

Zitat von: Zitkalasa am 22. Juli 2012, 17:50:24
Nur, weil ich solche Fantasien habe oder diese konsumiere, muss ich das nicht genauso in der Realität haben wollen oder mir nicht bewusst sein, dass sowas in der Realität Menschen zerbricht. (Eine Vermutung war auch, dass "wir" -- wir als Menschen -- in unsere Fantasie gerade solche schreckliche Dinge auch holen, weil wir, da wir immer noch die Kontrolle haben, den Umgang mit sowas "üben" ... Fragt mich nicht. ::))

Das tatsächliche Problem seh ich also eher darin, wer das liest. Ist das jemand, der schon ein Wertesystem hat und sich vorallem bewusst ist, dass es nur Fantasien sind, die überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben, ja, dass sowas in der Realität sogar Menschen kaputt macht und alles andere als angenehm ist -- oder ist es eben jemand ohne diese Unterscheidungsfähigkeit. Und wenn dieser jemand dann noch mit den Fantasien alleine gelassen und nicht aufgeklärt wird ... :no:

Zum ersten: Ja, die menschliche Fantasie/das menschliche Unterbewusstsein lässt uns im Traum oder in der Vorstellung Dinge durchleben, die wir in der Realität, also wenn sie uns geschehen, fürchten oder verabscheuen - das ist ganz normal, das hat mit den Trieben zu tun. Bei einigen sind diese Triebe weniger kontrolliert, das heißt, sie driften auch in die Realität hinein, bei anderen sind sie sorgfältig in die Schublade einsortiert, tagsüber abgeschlossen und Schlüssel unterm Kopfkissen. Das ist eben so, da kann man nichts machen. Aber dieses Thema literarisch zu verarbeiten bedeutet für mich, es auch wirklichkeitsnahe zu verarbeiten. Es wird, so es denn Teil des Buches sein sollte, was ich selbst nicht beurteilen will, aber nicht von der Autorin durch die Protagonistin erklärt, sie gibt dem Leser nicht einmal Hinweise auf diesen Teil der menschlichen Psyche.

Zum zweiten: Auch darauf wird nicht eingegangen. Wenn ein junges Mädchen diesen Roman liest, wird es wohl eher schockiert sein, als sich ernsthaft Gedanken um die Werte anderer Personen zu machen.

Der Stil des Buches mag gut sein, aber die Herangehensweise und Umsetzung ist es nicht. Antonia Michaelis? Würde ich nach diesem Mist nicht noch mal lesen  :no:

Maran

Ohne das Buch gelesen zu haben, denke ich, daß, wenn es emotional so ansprechend ist, daß es den Leser noch lange nach dem Beenden des Buches beschäftigt, dann hat es ein Ziel erreicht.

Egal, ob von der Autorin gewollt oder nicht, zumindest ein Teil der Leserschaft setzt sich mit ihrer eigenen Einstellungen zu Thematiken auseinander, die nicht allgemein und allerorts diskutiert werden. Das kann letzten Endes nur positiv sein. Gerade die offenbar stark ausgeprägte emotionale Komponente verhindert ein unreflektiertes Übernehmen von Verhaltensmustern. Gerade aus diesem Grunde ist es für Jugendliche geeignet.

Rigalad

#6
Ich habe nicht das Gefühl, dass die jugendlichen Leser darüber reflektieren. Wenn man sich die Rezensionen von jüngeren Bloggerinnen oder aber Amazonkritiken durchliest, kommen immer wieder die gleichen Rückmeldungen: Wunderschöne Liebesgeschichte, zu Herzen gehend usw.
Das ist keine schöne Liebesgeschichte. Nein. Würde der Leser sich tatsächlich mit dem Buch auseinandersetzen, gäbe es mit Sicherheit mehr negative Rezensionen aus der entsprechenden Zielgruppe. Ich verlange nicht, dass die Autorin diverse Stoffe moralisch vorkaut. Ich verlange aber sehr wohl, dass die Protagonistin für sich reflektiert und zwar nicht, dass eine Vergewaltigung nichts Schlimmes ist, weil sie ihn ja liebt und ihren Teil dazu beigetragen hat. Michaelis hat so viel Potenzial verschenkt, weil sie die Probleme so seltsam aufgelöst hat.
Ich verstehe es auch nicht. Bei Twilight war es ja nicht anders, dass eine romantische Liebesgeschichte jedes männliche Fehlverhalten entschuldigt. Bei Michaelis finde ich es aber noch schlimmer. Ist das Leseverhalten bei jungen Mädchen heute so? Solange die Liebesgeschichte nur rührselig genug ist, darf man(n) machen, was er will?
Ich weiß auch nicht. Irgendwo eine Grenze zu ziehen liegt meiner Meinung nach auch in der Verantwortung eines Autoren.

Kati

Ich weiß, der Thread ist alt, aber ich mag auch nochmal etwas dazusagen. Ich bin erst vor Kurzem über den "Märchenerzähler" gestolpert, habe mich erinnert, dass hier im Zirkel darüber diskutiert wurde, und dann begonnen, mich mal zu informieren. Dabei bin ich über viele Meinungen, meist von jugendlichen Lesern, gestolpert und das alles hat mich schon sehr beängstigt. Ich bin ja bei den Leuten, die das Beziehungsbild in Jugendromanen anprangern, ganz weit vorn dabei. Aber da geht es oft "nur" um überfürsorgliche Männer, die Mädchen stalken und das als Liebe verkaufen. Das ist sehr bedenklich, aber Michaelis setzt dem ganzen die Krone auf.

Dass es unverzeihlich ist, eine Vergewaltigung, die Menschen kaputt macht und seelisch zerbrochen zurücklässt, als "nicht so schlimm" und "nach drei Tagen vergeben" darzustellen, habt ihr hier ja bereits gesagt und ich sehe in dieser Darstellung Annas das Problem. Wenn sie wenigstens authentisch reagieren würde... Aber das tut sie nicht, sie geht zu ihm zurück, weil sie ihn ja liebt. Und da ist das noch größere Problem:

ZitatZum zweiten: Auch darauf wird nicht eingegangen. Wenn ein junges Mädchen diesen Roman liest, wird es wohl eher schockiert sein, als sich ernsthaft Gedanken um die Werte anderer Personen zu machen.

Schockiert? Nein, die zerschmelzen vor lauter Schwärmerei. Ich habe ein paar Kritiken gelesen und da wird das Buch von jungen Mädchen allenernstes über den grünen Klee gelobt als wunderschöne Liebesgeschichte. Dass Anna die Vergewaltigung so leicht verzeiht, wird als "Vergebung aus Liebe" und als "Erhebung über spießige Normen" betrachtet und das finde ich wirklich problematisch. Junge Menschen halten es für völlig normal und romantisch nach einer brutalen Vergewaltigung zu seinem "Liebsten" zurückzukehren. Und die Polizei zu alarmieren oder sogar seelisch daran zu zerbrechen ist plötzlich "spießig". Hilfe?

Ich ahne, dass das daher kommt, dass die meisten (!) mit 12,13,14 die Folgen einer Vergewaltigung noch gar nicht richtig einschätzen kann. Man hat vielleicht gelernt, was es bedeutet, aber über psychische Schäden und Nachwirkungen weiß man nichts. Ich kenne sogar Jugendliche, die setzen das mit einem Schlag ins Gesicht gleich: Halt körperliche Gewalt. Schlimm genug, aber vom schlimmen psychischen Akzept wissen sie noch nichts. Daher kommt wohl die oben genannte Einschätzung, dass es so romantisch ist, dass Anna ihm verzeiht. Aber ich finde, genau das wäre Michaelis´ Aufgabe gewesen: Die Folgen einer solchen Tat realistisch darzustellen, denn sie schreibt ein verdammtes Jugendbuch für Leute, die teilweise noch Kinder sind. Als Jugendbuchautor hat man meiner Meinung nach eine gewisse Verantwortung was man Kindern da vorsetzt. Und sowas wie "Der Märchenerzähler" geht gar nicht.

Leider wird es wohl gerade ein Trend, Mädchenfiguren zu schreiben, die sich von ihren Männern alles gefallen lassen, weil sie sie doch lieben. Die Heldin des von der zwanzigjährigen Alexandra Adornetto geschriebenen "Halo" lässt sich vorschreiben, wann sie isst, was sie tut, mit wem sie spricht und er spricht manchmal einfach für sie. Romantisch. Oder "Beautiful Disaster" von Jamie McGuire. Der "Held" zerschlägt das halbe Appartement und verletzt andere Menschen, weil seine Angebetete am Morgen gegangen ist, ohne Tschüss zu sagen. Sie muss ihn anrufen und beruhigen, damit er nicht völlig ausrastet. Der Typ ist außerdem mal wieder der totale Stalker. Dann wiederrum werden Bücher von denselben Leuten als "sexistisch" bewertet, die eigentlich völlig harmlos sind. Das ist der Grund, weshalb ich mich in letzter Zeit kaum an YA-Romanzen rantraue, weil man immer Angst haben muss, über so etwas zu stolpern und es wird immer schlimmer. Die Krönung ist bisher trotzdem noch der "Märchenerzähler." Traurig und beängstigend.