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Warum brauchen wir Gewalt in der Fantasy und was macht das mit uns?

Begonnen von Derexor, 31. Dezember 2011, 14:49:46

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Derexor

Hallo liebe Zirkler!


Ich beschäftige mich schon eine Weile mit der Gewalt und ich bin sehr unsicher darüber, deswegen wollte ich einfach mal euch fragen.

Ich denke Gewalt wird gebraucht, weil Gewalt eine Möglichkeit zur Lösung von Problemen ist.
Wahrscheinlich ist es die letzte Möglichkeit und die Schlechteste, aber es ist eine Möglichkeit.
Aus Problemen erwachsen ja bekanntlich Geschichten, die sich mit ihrer Lösung beschäftigen, meistens, also brauchen wir Gewalt, wenn uns keine andere Möglichkeit einfällt das Problem zu lösen oder wenn wir die Probleme so weit, wie meistens in der Fantasy, in die Höhe getrieben haben, dass keine andere Lösung mehr möglich scheint oder logisch ist als die Gewalt.
Ich hoffe, dass ist halbwegs verständlich.

Das wäre meine Begründung, warum ich Gewalt in meinen Geschichten verwende.


Warum werden die Geschichten gelesen?
Macht Gewalt Spaß? Warum? Gibt es einen tierischen Trieb?

Wie wirkt sich die Gewalt, ob auf den Leser oder den Autor, aus? Ich habe dazu nichts brauchbares gefunden, aber wenn man von der Annahme ausgeht, dass man mit all seinen Gedanken sein Leben, sich selbst, seine Gefühle beeinflusst, ist dann eine Beschäftigung mit Gewalt nicht kontraproduktiv? Gibt es spielerische Gewalt?

Diese Fragen wirken sich jetzt auf mein Schreiben aus, weil mir irgendwie, als harmoniebedürftiger und auch sonst immer nach positivem strebender Mensch, der philosophisch-theoretische Unterbau für meine Beschäftigung mit Gewalt, psychisch labilen Menschen oder Extremsituationen fehlt. Wollen wir als Autor und Leser einfach leiden? Wollen wir alle Gefühle erfahren, die wir können?

Ich hoffe, es wird relativ klar, worauf ich hinaus will. Wie ist euer Meinung?


Warum brauchen wir Gewalt in der Fantasy und was macht das mit uns?



Viele Grüße

Rotkehlchen


PS: Schande über mein Haupt, wenn das nicht das richtige Unterforum ist, aber da es mit Fantasy und mit Schreiben zu tun hat, in letzter Konsequenz zumindest, dachte ich, dass es hier hergehört.  :)
Wenn es so einen Thread schon gibt, dann doppelte Schande auf mein Haupt, ich habe ihn nicht gefunden.

Ary

Die Frage ist, ob wir Gewalt wirklich *brauchen*. Und wenn ja, welche Art von Gewalt. Physische, psychische? Ich bin kein Fan von Splatter und Horror, ich lese über Schlachtszenen, wenn sie nicht gut geschrieben sind, oft einfach nur weg. Es sei denn, die Schlachtszene wird so präsentiert, dass man dabei ganz dicht bei einem ist, der mitten drin steckt im Dreck. Der das Sterben sieht, der den Freund an seiner Seite fallen sieht, der vielleicht selbst etwas abkriegt. Wenn die Gewalt nicht nur um der Gewalt willen beschrieben wird, sondern, um zu zeigen, was sie aus einem Menschen (stellvertretend für alle Arten von Protagonisten) machen kann.
Ja, ich finde es spannend, solche Entwicklungen zu lesen und selbst auch zu beschreiben.
Psychische Gewalt ist da, finde ich, noch "schlimmer". Wie weit geht ein Wesen unter Zwang? Ist jemand erpressbar, wenn ja, womit?
Wegen solcher Fragen verwende ich durchaus Gewalt in meinen Geschichten und gebe damit auch zu, dass ich sie brauche. Eine geschichte ohne Konflikte, ohne Reibungspunkte, einfach nur pure Harmonie? Geht das überhaupt? Und könnte man sowas spannend schreiben? Irgendwo müsste für mich in dem ganzen Harmoniegefüge ein Punkt der Unstimmigkeit sein. Es gibt keine perfekte, friedliche, gewaltlose Welt.
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

Rigalad

Ich glaube nicht, dass wir Gewalt in unseren Büchern brauchen, um damit Probleme zu lösen. Oft ist doch die Gewalt selbst das Problem der Geschichte, egal in welcher Form. Sei es der Mörder in Krimis, der tyrannische König in Highfantasy oder oder oder.
Natürlich wird gerade in Highfantasy Gewalt oft "gebraucht", um das noch größere Böse zu vernichten. Als ich neulich Eragon 4 gelesen habe, ist mir wieder bewusst geworden, wie viel darin geschlachtet wird - als Mittel zum Zweck. Aber es wird auch darüber reflektiert, dass sie Lösung nicht die beste ist, sondern dass es nur eben nicht anders geht.

Ob wir diesen Ansatz nun wirklich brauchen? Ich denke ja, denn anders ist die Realität oder auch eine erfundene Welt nicht logisch zu tragen. Gewalt gehört zur Natur des Menschen, leider. Deswegen ist sie, mehr oder weniger, auch immer ein Teil einer Geschichte.

Erdbeere

Gewalt, Aggressivität, Angst, das sind alles Faktoren, die den Menschen seit Urzeiten leiten und ja, teilweise Urinstinkte sind. Sie helfen uns seit frühester Zeit zu überleben und untereinander auszumachen, wer der Stärkere ist, wer das Recht hat, zu überleben. Erst die Moral und Ethik haben den Menschen gelehrt, dass Gewalt etwas schlechtes ist. Trotzdem kann sich der Mensch nicht gegen seine Urinstinkte wehren und ist und bleibt gewaltbereit, ob nun bewusst oder unbewusst.
Natürlich spielen jeweils verschiedene Faktoren und Auslöser eine Rolle dabei, ob ein Mensch nun aggressiv ist oder harmoniebedürftig, doch wäre es falsch anzunehmen, der Mensch bräuchte Gewalt nicht.

Gewalt kann sich in vielen Aspekten zeigen, es muss nicht immer gleich ein Gemetzel oder Folter sein. Auch Machtkämpfe um das Hierarchiegefüge innerhalb eines Teams auf der Arbeit ist eine Form von Gewalt, dies in den meisten Fällen nur psychisch. Mobbing und Schikane gehört für mich in die selbe Kategorie.
Bei Streit hauen wir uns nicht mehr gleich gegenseitig die Köpfe ein (zum Glück), trotzdem gibt es immer noch vielerorts Krieg, und das seit Jahrzehnten. Es ist wie mit dem bissigen Wachhund, der sein Revier verteidigt.

Ob wir Gewalt in Büchern brauchen? Ich finde ja. Mir persönlich wäre das sonst zu langweilig, ehrlich gesagt. Ich mag keinen Splatter und zu explizite Folterdarstellungen, dennoch braucht es Gewalt, um Konflikte auszulösen und auch zu beheben. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich Harmoniemenschen, die sich Frieden auf Erden wünschen und keine Ecken und Kanten haben (wollen), einfach naiv finde und teilweise nicht ausstehen kann. Das Leben braucht Konflikte, Höhen und Tiefen, Angst, Furcht, Glück und Zorn. Ich könnte mir nicht vorstellen, eine Geschichte zu lesen oder zu schreiben, in der alles gewaltfrei und harmonisch ist - Aryana fragte ganz richtig - geht das überhaupt?

Runaway

Ich hab mal "Gewalt" geforensucht, weil ich mich dran erinnern konnte, daß ich schon mal was dazu geschrieben hab. Und siehe da :)

Brutale/Blutige Szenen
Gewalt und Folter

Zanoni

Hallo Rotkehlchen,

eine sehr interessante Frage, die Du da stellst. Allerdings würde ich sie nicht nur allein auf das Genre der Fantasy beziehen, sondern generell auf jede Art von Literatur und sogar noch darüber hinaus, wie z.B. im Schauspiel, Film und in Computerspielen.

Und ich denke, Du hast selbst schon einen sehr guten Erklärungsansatz gefunden, mit dem Hinweis darauf, dass Gewalt die einfachste Weg ist auf Probleme zu reagieren.

Absolut richtig - eine Geschichte, in der es keine Probleme (gleich welcher Natur) zu bewältigen gibt, ist eine langweilige Geschichte. Menschen interessieren sich in erster Linie für Geschichten, in denen die Hauptfigur(en) mit Problemen konfrontiert werden und sie entweder bewältigen oder daran scheitern. In aller Regel wollen wir sie jedoch siegen sehen und nicht scheitern, denn das ist es doch, was uns wirklich interessiert:
Wie gehen sie mit diesen Problemen um? Wie schaffen sie es, sie zu lösen?

Das scheint mir der primäre Antrieb zu sein, Geschichten erzählt zu bekommen (in welcher Form auch immer das jeweils geschieht).
Wir wollen daraus lernen, wie man bestimmte Probleme lösen kann.

Und wie Du schon richtig feststellst, ist die einfachste Form einer möglichen Problembewältigung Gewalt. Aber ganz sicher nicht die beste. Und die intelligenteste sicher auch nicht.

Daher denke ich, dass Autoren - wie grundsätzlich jeder "Geschichtenerzähler" - eine gewisse Verantwortung hat. Hinsichtlich dessen, was er schreibt und wie er seine Hauptfigur(en) die jeweiligen Probleme lösen lässt. Auf die ganz simple Art ... Hau drauf und fertig ... oder vielleicht doch etwas zivilisierter, intelligenter und ausgewogener. Denn das, was in seinen Romanen als "Problemlösungsstrategie" idealisiert wird, hat Vorbildcharakter - insbesondere in der Jugendliteratur. Wenn wir - als Gesellschaft - den gewaltorientierten Umgang mit Problemen bevorzugen, dann muss das in unseren Geschichten, die wir erzählen ... als Roman, Film oder Computerspiel ... auch genau so idealisiert werden. Wenn wir das nicht möchten, brauchen wir andere Geschichten. Geschichten, in denen die Hauptfiguren zeigen, vorleben, dass es auch anders geht.

Also ich glaube wirklich, dass Autoren insgesamt einen ziemlich starken Einfluss auf die Gesellschaft haben, auch wenn das meist nicht unmittelbar so deutlich erkennbar ist.

Eine völlig andere Frage ist, warum Gewalt überhaupt so viel in Geschichten präsent ist. Und da glaube ich, dass es an unseren Instinkten liegt. Die tiefere, animalisch-triebhafte-gewalttätige Bewusstseinsebene, die wir alle in uns tragen. Auch wenn sich der Mensch im Laufe der Evolution darüber hinaus entwickelt hat - intelligenter wurde, sowie moralische und ethische Werte und Ideale entwickelt hat - ist dies immer noch ein Teil von uns. Aber bei jedem Menschen ist dieser Teil unterschiedlich gut unter Kontrolle ... oder bildlich gesprochen: gezähmt ... vielleicht wie eine Art wildes Tier.

Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, warum sich so viele Autoren der Gewalt und diesem niederen Teil hingeben. Weil es das erste ist, was einem begegnet, wenn man die bewusste Kontrolle lockert, und sich den Bildern und Ideen "hingibt", die in einem aufsteigen, wenn man auf der Suche nach einer Geschichte ist. Es ist möglicherweise wesentlich einfacher, "wilde" (oder "dunkle") Geschichtsideen zu entwickeln als andere, die sich an "höheren" Idealen orientieren.

Viele Grüße

Derexor

Ich möchte noch etwas an meinen Startpost anhängen:

Eine Studie hat belegt, dass es für das Gehirn keinen Unterschied macht, ob man sich das Bild eines Apfels vorstellt oder ob man den Apfel durch seine Augen sieht. Das bedeutet, dass auch die Gewalt, die durch die Bücher in die Köpfe gesetzt wird, im Endeffekt wahrscheinlich genau so starke Gefühle auslösen könnte, als wenn sie echt wäre und wir dabei zusehen, oder durch die subjektive Interpretation des Buches sogar daran teilnehmen.
Was macht diese Gewalt mit uns?

Zanoni,
ZitatWeil es das erste ist, was einem begegnet, wenn man die bewusste Kontrolle lockert, und sich den Bildern und Ideen "hingibt", die in einem aufsteigen, wenn man auf der Suche nach einer Geschichte ist.
Diesen Gedanken finde ich sehr interessant, aber das könnte ja zweierlei bedeuten: Entweder wir haben wirklich den tierischen Trieb der Agression oder wir wurden nur so oft mit Gewalt beeinflusst, dass sie in unser Unterbewusstsein eingedrungen ist.
Die Menschheitsgeschichte ist ja voller Gewalt, aber liegt das an dem tierischen Trieb oder daran, dass sich irgendjemand nicht zu helfen gewusst hat und dann feststellte, dass die Gewalt eine einfache Möglichkeit ist sein Problem zu lösen und seitdem viele es so machen?
Es wird ja irgendwie immer von ersterem ausgegangen, aber was wenn es anders wäre und genau wegen diesem Gedanken "Das es ja ein Trieb und damit Teil des Menschen ist" alles so ist, wie es ist?
Müsste man da nicht irgendwie ein Zeichen setzen? Ich meine keine naive Weltanschauung. In unserer Welt gibt es Gewalt, ja, damit muss man leben, aber die Beschäftigung damit ist doch wohl auch nicht der richtige Weg, denn Gegengewalt erzeugt neue Gewalt, oder nicht?
Wenn wir also schon Gewalt durch die Vorstellung von Gewalt, wie oben begründet wurde, säen, dann kann das nicht der richtige Weg sein, oder?
Oder benutzen wir unsere Geschichten nur um etwas darzustellen, nicht um etwas zu verändern?

Wahrscheinlich habe ich nicht genug Erfahrung, um das zu beurteilen, aber es beschäftigt mich.

Talea

Habe es irgendwann mal in einem Computerspiel erlebt, dass es eine Stadt gab, wo es eigentlich keine Kämpfe gab, aber durch die Protagonisten auch die Kämpfe dorthin gebracht wurden. Der Protagonist musst dann kämpfen und meinte, wenn es einen anderen Weg als diesen geben würde, würde er ihn wählen, aber dazu müssten seine Gegner ihm ja auch zuhören.
Ich glaube da genau besteht das Problem in der menschlichen Natur. Wir haben zwar eine Sprache, die wir benutzen können, doch sind Diskussionen viel langwieriger und schwieriger, weswegen es natürlich einfacher ist seinen Gegenüber aus dem Weg zu räumen, als mit ihm ewig darüber zu diskutieren, wenn man sich die Geschichte anschaut.
Der Mensch geht also wirklich lieber den einfachen Weg als lange zu diskutieren und am Ende vielleicht auch im Kauf zu nehmen zu verlieren. 
Heutzutage wissen wir, dass lange Diskussionen besser sind und deswegen kann man auch sagen, dass es weniger Kriege heutzutage gibt als früher, da die Länder doch mehr und auch viel schneller miteinander kommunizieren.
Da wir ganz oft auch in der Fantasy von einer Gesellschaft ausgehen, die in der Vergangenheit gelebt hat, als Jahrhunderte als wir, so geht man davon aus, was wir aus dem Geschichtsunterricht kennen.
Bei Krimis ist es wohl ein wenig anders, aber auch aus einem Streit kann Gewalt ja kommen, da dem einem Streitpartner einfach die Geduld zum streiten fehlt oder er sich möglicherweise auch am verlieren sieht.

Im Allgemeinen denke ich, dass Gewalt immer der letzte Weg ist vom Menschen der Versuch eine Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen, die ihm unter Füßen weg gezogen wird, wenn Worte nicht mehr der Ausweg für ihn zu sein scheinen.

In unseren Geschichten glaube zeigen wir oft, wie etwas ist und man versucht ja schon irgendwie zu zeigen, dass es oft ganz anders geht. Wenn man schon früher an Fabeln oder sowas denkt, dann versucht man schon Moral in die Geschichte zu bringen.

Churke

Gewalt bedeuet Gefahr und Abenteuer und aktiviert im Erfolgsfall das Belohnungssystem. Den Punkt Gefahr und Abenteuer halte ich für Bücher oder Filme sehr wichtig.
Außerdem ist Gewalt ein Mittel, Figuren zu charakterisieren. Wer macht was an wem wozu? Oder auch nicht. Eine Figur kann sich der Gewalt ja auch verweigern.

Zitat von: Rotkehlchen am 31. Dezember 2011, 16:30:23
Eine Studie hat belegt, dass es für das Gehirn keinen Unterschied macht, ob man sich das Bild eines Apfels vorstellt oder ob man den Apfel durch seine Augen sieht. Das bedeutet, dass auch die Gewalt, die durch die Bücher in die Köpfe gesetzt wird, im Endeffekt wahrscheinlich genau so starke Gefühle auslösen könnte, als wenn sie echt wäre und wir dabei zusehen, oder durch die subjektive Interpretation des Buches sogar daran teilnehmen.
Was macht diese Gewalt mit uns?

Der Vergleich mit dem Apfel hinkt. Das Gehirn erkennt den Apfel und assoziiert mit ihm Erinnerungen und Sinneseindrücke. Ein Bild eines Kettensägenmordes wird wahrscheinlich nicht die selben Emotionen auslösen wie tatsächlich Zeuge eines Kettensägenmordes zu sein. Sprich: Die Gefühle des Bildes sind falsch.

Derexor

#9
Was meinst du, der Vergleich hinkt? Es sind exakt die gleichen Gehirnregionen, die aktiviert werden, also keine besonderen Regionen, die andeuten könnten, dass es nur Erinnerungen sind. Es ist, als würde man den Apfel gerade sehen.

Edit: Mir ist gerade etwas eingefallen. Es werden die selben Regionen aktiviert, aber heißt das, dass in diesen Regionen auch das selbe geschieht? Ich denke nicht, die Beschaffenheit von Gedanken konnte ja immer noch nicht geklärt werden.

@Churke; was wird dann denn aktiviert, wenn der Erfolgsfall nicht eintritt? Solche Bücher gibt es ja auch, oder bereiten diese dann halt intellektuelles Vergnügen?


Rakso

Ich würde nicht behaupten, dass Gewalt ein Urinstinkt ist. Gewalt ist nur das Resultat aus Angst, Unsicherheit oder Unbehagen. Und wir haben lange noch nicht die Stufe erlangt, in der man Probleme durch Diskussionen und Kompromisse löst, anstelle von Gewalt. (Auch wenn man uns das vormachen möchte)

Gewalt ist aber auch eine Form der Kommunikation. Wenn ich jemanden vermöble, signalisiere ich anderen, dass ich nicht wehrlos bin und deshalb würde man in den meisten Fällen in Ruhe gelassen, bis jemand stärkeres auftaucht und mich besiegt. Gewalt kann auch ein Schutz sein, physisch wie psychisch. Aber Gewalt wird nie eine Lösung für etwas sein, weil eine Aktion folgt immer eine Reaktion, löst also wieder Gewalt aus und so weiter und so weiter.

Die Gewalt in der Literatur ist, meiner Meinung nach nur eine Reflexion unserer Welt. Ein Beispiel: Die meisten High-Fantasy-Romane sind an eine europäisch-mittelalterliche Welt angelehnt. Und damals pflegte man eben Konflikte mit Gewalt zu lösen oder die eigene Machtbasis mittels Gewalt zuverbreitern. Deshalb kommt Gewalt auch in den Romanen vor, weil es eben irgendwie dazu gehört und es kömisch wirkt, wenn man mit den Orks diskutiert, anstatt ihnen eins auf die Mütze zu geben.

Churke

Wenn ich die These richtig verstanden habe, lautet sie plump gesagt: Auf das Bild eines Apfels reagiert das Gehirn wie auf einen Apfel.
Das Gehirn erkennt den Apfel eben wieder.
Ich bezweifle, dass man mit dem Bild eines Baseballschlägers die selben Effekt erreichen kann. Selbst wenn du abstrakt weißt, dass man ich mit einem Baseballschläger zu Brei hauen kann, wird das Bild in der Mehrzahl der Fälle nicht die entsprechenden Emotionen auslösen. Es sei denn vielleicht, du wärst schon mal das Opfer eines solchen "Sportlers" geworden. Ist einem Kumpel von mir mal passiert. Er lag auf dem Boden und der Typ schlug direkt auf die Rübe. Dank guter Reflexe hat er's überlegt. Mir persönlich geht diese Erfahrung völlig ab. Ich denke höchstens "ey, cool, ein Baseballschläger."

Zanoni

ZitatEine Studie hat belegt, dass es für das Gehirn keinen Unterschied macht, ob man sich das Bild eines Apfels vorstellt oder ob man den Apfel durch seine Augen sieht. Das bedeutet, dass auch die Gewalt, die durch die Bücher in die Köpfe gesetzt wird, im Endeffekt wahrscheinlich genau so starke Gefühle auslösen könnte, als wenn sie echt wäre und wir dabei zusehen, oder durch die subjektive Interpretation des Buches sogar daran teilnehmen.
Genau diesen Punkt halte ich für den allerwichtigsten!

Ganz allgemein formuliert: Das, womit wir uns gedanklich beschäftigen, also das, was wir in unserer Vorstellung erschaffen, hat Auswirkungen auf die wirkliche Welt, in der wir leben. Wir tragen all diese Ideen, Gedanken, Bilder und Konzepte nicht nur allein in uns, sondern wir multiplizieren sie durch die Texte auf ganz viele andere Menschen. Und all diese Gedankenbilder beeinflussen natürlich das Verhalten, die Meinungen usw. usw.

Irgendwer hat mal gesagt, den Charakter einer Gesellschaft könne man an den Geschichten erkennen, die in ihr bevorzugt erzählt werden.

ZitatEntweder wir haben wirklich den tierischen Trieb der Agression oder wir wurden nur so oft mit Gewalt beeinflusst, dass sie in unser Unterbewusstsein eingedrungen ist.
Das muss jedoch kein Entweder-Oder sein - es könnte sogar beides gleichzeitig zutreffen.

Einerseits sind wir eindeutig die Gesamtsumme aller Evolutionsschritte, die nötig waren, um uns - so wie wir heute sind - hervorzubringen. Und mit Sicherheit tragen wir vieles davon noch in uns. Andererseits werden wir selbstverständlich auch von dem beeinflusst, was um uns herum geschieht. Alle Eindrücke, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle sammeln sich in unserem Unterbewusstsein - das lässt sich überhaupt nicht verhindern.

Ein gewisser "Automatismus" ist also klar vorhanden. Aber dennoch sind frei in der Entscheidung. Wenn zwei Menschen exakt das gleiche erleben, heißt das nicht, dass beide zwangsläufig gleich reagieren. Wenn zwei Menschen exakt die gleiche unerfreuliche Kindheit erleben, kann der eine dadurch zum Verbrecher und der andere zum Heiligen werden. Natürlich werden wir alle immer wieder mit Problemen konfrontiert, aber sind frei in der Entscheidung, wie wir darauf reagieren. Einer benutzt diese Probleme, um daran zu wachsen, und ein anderer benutzt sie als Entschuldigung für sein Verhalten.

Und wenn wir uns mal die "ganz großen" Geschichten anschauen, dann sind es genau diese Momente, die am Spannendsten sind. Die Frage, wie der/die Held/in reagieren wird.

Wenn die Bösen in Star Wars dem Helden empfehlen sich der dunklen Seite der Macht hinzugeben, sich dem Zorn hinzugeben.
Oder wenn die Verlockungen des Rings in HdR immer größer und größer werden.

Wir bangen dann mit und fragen uns, ob die Hauptfigur der Versuchung erliegen wird oder ob es ihr gelingt, sich über sie zu erheben.
Das ist dann das ganz große Kino. ;-)

ZitatMüsste man da nicht irgendwie ein Zeichen setzen? Ich meine keine naive Weltanschauung. In unserer Welt gibt es Gewalt, ja, damit muss man leben, aber die Beschäftigung damit ist doch wohl auch nicht der richtige Weg, denn Gegengewalt erzeugt neue Gewalt, oder nicht?
Wenn wir also schon Gewalt durch die Vorstellung von Gewalt, wie oben begründet wurde, säen, dann kann das nicht der richtige Weg sein, oder?
Oder benutzen wir unsere Geschichten nur um etwas darzustellen, nicht um etwas zu verändern?
Eindeutig ja ... meiner persönlichen Meinung nach. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass es auch ganz andere Meinungen dazu gibt.

Es gibt Autoren, denen es wichtig ist, die Wirklichkeit möglichst ungeschminkt zu beschreiben (oder zumindest das, was sie dafür halten). Andere hingegen versuchen Ideale oder Potentiale zu beschreiben, als Alternative zu dem, was jetzt wirklich ist. Das sind halt zwei völlig unterschiedliche Ansätze.

Traditionell waren die früheren Geschichtenerzähler häufig Leute, welche die Ideale, Ziele und Werte einer Gesellschaft weitergetragen, und sie so zusammen gehalten haben. Aus Geschichten wurden Mythen, und teilweise sogar hochkomplexe Mythologien. Heute gibt es so etwas zwar nicht mehr, aber das Interesse an interessanten Geschichten ist natürlich ungebrochen.

Insofern ist heute sehr vieles reine Unterhaltung, aber jede/r Autor/in ist natürlich frei in der Entscheidung, ob er/sie darüber hinaus gehen möchte oder nicht ...

Zanoni

Zitat von: Churke am 31. Dezember 2011, 18:02:51
Ich bezweifle, dass man mit dem Bild eines Baseballschlägers die selben Effekt erreichen kann.
Im Prinzip schon.

Im Grunde haben ja all unsere Erfahrungen, die wir machen, einen Lerneffekt. Wir lernen aus ihnen ... zumindest im Idealfall.

Ein anderes Beispiel:
Ein kleines Kind fasst an eine heiße Herdplatte. Aus dieser Erfahrung lernt es (hoffentlich).
Ein anderes Kind erfährt davon durch Erzählung.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten:
a) das Kind kann nichts aus der Erzählung lernen und muss diese Erfahrung irgendwann selbst machen.
b) das Kind kann sich diese Erfahrung so gut vorstellen, dass es diese Erfahrung nicht zu machen braucht.

Im zweiten Fall war die Vorstellung des "Apfels" genau so gut wie ein echter "Apfel".

Lomax

Zitat von: Zanoni am 31. Dezember 2011, 18:28:43Nun gibt es zwei Möglichkeiten:
a) das Kind kann nichts aus der Erzählung lernen und muss diese Erfahrung irgendwann selbst machen.
b) das Kind kann sich diese Erfahrung so gut vorstellen, dass es diese Erfahrung nicht zu machen braucht.
Meiner Erfahrung nach gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich Möglichkeit a). Ich hab noch kein Kind getroffen, dass nicht erst mal was heißes anfassen und sich verbrennen musste, bevor es was gelernt hat, selbst wenn man ihm das vorher gesagt hatte - mich selbst eingeschlossen  ;D.
  Wenn man Glück hat, macht es diese Erfahrung nicht an einer Herdplatte, sondern an etwas Harmloserem, und mit dem Fingernagel und nicht mit der Handfläche. Man kann Erfahrungen nämlich transponieren und etwas lernen, wenn man schon vergleichbare eigene Erfahrungen gemacht hat und daraus Analogieschlüsse ableiten kann. Irgendwann hat man so viele Erfahrungen, dass man durchaus komplexere Lehren ohne "Ausprobieren" "sich denken" kann.

Aber nur durch Vorstellung ohne Erfahrung klappt erfahrungsgemäß nicht. Insbesondere nicht bei Herdplatten.  :)
  Und auch bei allem anderen muss man vermutlich irgendwann was selbst erfahren haben, damit die Vorstellung das Verhalten beeinflusst, sonst sind alle Worte in den Wind gesprochen. Zum Frust aller Eltern, die's trotzdem immer wieder versuchen. (Und auch zum Frust aller Lehrer und beruflichen Ausbilder, die regelmäßig feststellen müssen, dass Neulinge doch immer wieder genau dieselben guten Ideen erneut haben, die man selbst schon vor zehn Jahren hatte und bei denen man feststellen musste, dass sie in der Praxis nicht funktionieren. Das nervt so sehr, dass man den Leuten das haarklein auseinanderklamüsiern kann, warum das nicht funktioniert, und sie's trotzdem tun, um dann über dieselben Punkte zu stolpern, die man ihnen vorher angekündigt hat  :brüll:. Lehren kann frustrierend sein. Nicht weniger frustrierend können dann die Fälle sein, wo's die Neulinge dann entgegen der guten Ratschläge doch ausprobieren, und bei ihnen klappt es dann - was vermutlich der evolutionäre Grund dafür ist, dass es nur Lernmodell a) gibt und Menschen nur sehr ungern aus Erzählungen lernen  ;))