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Dystopia - Elfen, Zauberer, Orks, Trolle und Einhörner bitte draußen bleiben

Begonnen von Schommes, 24. April 2011, 10:59:08

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Churke

Zitat von: Höllenpfau am 08. Mai 2011, 21:03:17
Müssen Dystopien eigentlich immer in (mehr oder weniger naher) Zukunft spielen oder können sie auch in unserer Zeit spielen, nur dass sich andere politische Systeme durchsetzten oder dass es andere politische Ereignisse gibt, die die Welt prägen, die es aber eben so nicht gibt.
Ist das dann auch schon eine Dystopie?

Du meinst sowas wie eine Alternativwelt?

Ja, schon. Die Übergänge zwischen Alternativwelt und SF sind ja auch recht fließend. Sowas Ähnliches wäre im Prinzip "Vaterland". "Vaterland" ist allerdings keine Dystopie (jedenfalls die Verfilmung nicht), weil das Thema nicht "der NS-Staat" sondern "Vergangenheitsbewältigung" ist. 

Hoellenpfau

Hm, na ja, Alternativwelt würde ich es auch nicht gerade nennen, weil wenn alles so ist wie in unserer Welt, nur dass nun ein politisches Ereignis geschieht, was alles verändert, dann ist das ja keine direkte Alternativwelt.

Schommes

Zitat von: Höllenpfau am 08. Mai 2011, 21:03:17
Müssen Dystopien eigentlich immer in (mehr oder weniger naher) Zukunft spielen oder können sie auch in unserer Zeit spielen, nur dass sich andere politische Systeme durchsetzten oder dass es andere politische Ereignisse gibt, die die Welt prägen, die es aber eben so nicht gibt.
Ist das dann auch schon eine Dystopie?
Da ich persönlich z.B. Fight Club für eine Dystopie halte, würde ich sagen ja. Es käme in diesem Fall drauf an, die Welt quasi von Ihrer dystopischen Seite wahrzunehmen. So nach dem Motto: Wenn ich morgens mit guter Laune aufwache ist Berlin die schönste Stadt der Welt, aber manchmal bin ich übel drauf und dann ist es ein grauer Moloch der mich fressen will, voll mit unfreundlichen, oberflächlichen Menschen usw. Know what I mean?

Sorella

Das sehe ich momentan anders. Es muss doch mMn zu allererst eine Grund-Utopie vorliegen.
Ein politisches Ereignis in der Realität ist für mich ein klassisches Polit-Drama.

Außerdem habe ich mir jetzt Herr der Fliegen angesehen. Die Version von 1963 ist sehr zu empfehlen. Ich kenne die neue Version nicht, habe aber gelesen, dass diese an Symbolhaftigkeit eingebüßt hat. Aber das gehört wohl in den Listenthread. Zurück zur Diskussion des Genres:
Herr der Fliegen ist für mich eine eindrucksvolle Geschichte, aber wieso soll das eine Dystopie sein? Zu keinem Zeitpunkt hatten die Jungen die Insel für einen utopischen Ort gehalten. Sie waren sich sofort einig, dass dieser Ort ein schlechter und daher zu verlassen ist. Die Handlung ist nicht dystopisch, sondern dreht sich um soziologische und psychologische Phänomene des Menschseins an sich. Von mir aus auch politisch, das kann man ja drehen wie man will. Eine Dystopie ist es aber für mich nicht, weil die Grund-Utopie fehlt.
Ich lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen  ;D.   

Lomax

Dann will ich mal gleich beiden vorangegangenen Postings widersprechen  ;D

Zunächst einmal würde ich Figtclub nicht für eine Dystopie halten. Es mag sein, dass die Grundaussage diejenige ist, dass unserer Gesellschaft etwas fehlt, was sich dann in den Fightclubs ausdrückt ... Aber die bloße Tatsache, dass irgendwer mit irgendeiner Gesellschaft unzufrieden ist und versucht, daraus auszubrechen, begründet wohl kaum schon eine Dystopie :snicker:. Für eine Dystopie ist der Film viel zu uneindeutig in seinen Interpretationsebenen, und bei Fightclub ist es tatsächlich so, dass die positive "Utopie" als Gegenentwurf fehlt - weil das Aufbegehren gegen die möglichen "Missstände" am Ende ebenso diskreditiert wird und womöglich sogar selbst als bloße psychische Störung erscheint.

Ganz im Gegensatz dazu hat der Herr der Fliegen sehr deutlich einen utopischen Entwurf vor Augen, gegen den er sich wendet - auch wenn der im Buch selbst nicht ausgeführt wird. Dafür wird so ziemlich alles aufgegriffen und ins Gegenteil verkehrt, was in realweltlichen idealistischen Vorstellungen als "paradiesisch" angesehen wird - angefangen von der naturbelassenen Insel bis hin zu den Vorstellungen, dass der Mensch an sich und vor allem Kinder von Natur aus gut sind. Die positive Utopie muss dort nicht thematisiert werden, weil "die klassische Utopie" an sich vorausgesetzt und pausenlos zitiert und widerlegt wird.

Was beides nichts daran ändert, dass eine Dystopie natürlich nicht zwangsläufig in der "Zukunft" spielen muss. Die klassische Utopie spielt ja auch nicht in der Zukunft, sondern zunächst mal nur auf einer "weit entfernten Insel" oder sonst irgendwo, wo man einen exemplarischen Gesellschaftsentwurf ansiedeln kann. Die isolierten Inseln sind heutzutage rar geworden, so dass die Zukunft mittlerweile der bequemste Ort ist für einen Entwurf, bei dem man sich nicht durch die Kleinlichkeit der Realität behindern lassen mag :snicker:. Aber wenn man es schafft, sein Konzept anderswo unterzubringen, ist man an diese einfachste Lösung nicht gebunden. Das Wesen der Dystopie hängt an der Art des Entwurfs, nicht an seiner Verortung.

Sorella

Zu Fight Club habe ich noch keine Meinung, da ich ihn nicht kenne. Daher kann ich nichts dazu sagen.

Zitat von: Lomax am 09. Mai 2011, 11:17:20
Ganz im Gegensatz dazu hat der Herr der Fliegen sehr deutlich einen utopischen Entwurf vor Augen, gegen den er sich wendet - auch wenn der im Buch selbst nicht ausgeführt wird. Dafür wird so ziemlich alles aufgegriffen und ins Gegenteil verkehrt, was in realweltlichen idealistischen Vorstellungen als "paradiesisch" angesehen wird - angefangen von der naturbelassenen Insel bis hin zu den Vorstellungen, dass der Mensch an sich und vor allem Kinder von Natur aus gut sind. Die positive Utopie muss dort nicht thematisiert werden, weil "die klassische Utopie" an sich vorausgesetzt und pausenlos zitiert und widerlegt wird.

Ja, ja, genau das habe ich gestern auch im Web tausendfach in allen Analysen gelesen.
Trotzdem überzeugt mich das Argument noch nicht. Nur weil ich Kinder auf eine Südseeinsel verfrachte, ist es keine Utopie. Dann müssten alle dramatischen Robinsonaden mit legendenhaft Unschuldigen, wie Kinder, Jungfrauen, Einhörnern, Engeln,  *grins* usw.,  Dystopien sein.

Ich behaupte also, es ist eine Robinsonade mit soziologischem Thema.

Zitat von: Lomax am 09. Mai 2011, 11:17:20
Das Wesen der Dystopie hängt an der Art des Entwurfs, nicht an seiner Verortung.

Hier hingegen bin ich wieder ganz deiner Meinung. :)

Churke

Zitat von: Schommes am 09. Mai 2011, 09:02:28
Es käme in diesem Fall drauf an, die Welt quasi von Ihrer dystopischen Seite wahrzunehmen.

Ich denke, dass dies allenfalls sehr begrenzt möglich ist.
Eine Gesellschaft (nennen wir sie "Welt") hängt nicht in der Luft, sondern hat sich entwickelt und wird von Individuen getragen (oder bekämpft...), die durch diese Gesellschaft und ihre Vorstellungen sozialisiert wurden. Man lebt vielleicht in einer Dystopie, man merkt es aber nicht.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Adam Smith unser heutiges System als extrem dystopisch ansehen würde.
Ebenso würden die alten Germanen sich in Somalia wahrscheinlich wohler fühlen als im heutigen Deutschland.

Nur: Was bringt das dem Leser? Wird er sich zu Adam Smith bekehren oder zum altgermanischen Thing? Wahrscheinlich wird er den Plot im besten Fall als Kuriosum ansehen, als nettes intellektuelles Gedankenspiel.

Der dystopische Roman kann nur funktionieren, wenn er ein System hat, mit dem sich der Leser NICHT identifiziert. Bei einer Gegenwarts-Dystopie stelle ich mir das ziemlich schwierig vor. 

Lomax

Zitat von: Sorella am 09. Mai 2011, 11:39:25Trotzdem überzeugt mich das Argument noch nicht. Nur weil ich Kinder auf eine Südseeinsel verfrachte, ist es keine Utopie.
Es soll ja auch keine Utopie sein, sondern eine Dystopie. Und für die es ist es eben nicht erfordlich, dass eine Utopie erschaffen wird, sondern deren Gegenteil ;) Der utopische Entwurf muss darin nur insofern erhalten sein, als dass man sieht, wie es schlechter läuft, als es laufen sollte und müsste. Und das ist beim Herrn der Fliegen ja gegeben.

Im übrigen stelle ich gerade fest, dass meine oben geäußerten Bedenken inzwischen alle eingetreten sind. Aus dem Praxisthread habe ich mich ja an der Stelle zurückgezogen, als Einfachkeit zum entscheidenden Kriterium wurde für alles, was eine Dystopie ausmacht.
  Und hier sind wir jetzt an dem Punkt, wo weitgehend unbestrittene Werke des Genres in Frage gestellt werden, weil sie nicht zu der persönlichen, durch die einfache Definition gefestigten Vorstellung passen - anstatt dass man den wissenschaftlichen Weg geht und seine Theorie hinterfragt, wenn sie nicht zur Praxis passt :(. Das ist genau das, was ich gemeint habe, als ich davon sprach, dass solche Diskussionen und "Regelfindungen" letztendlich immer gerne darauf hinauslaufen, dass am Ende irgendwer die Ansicht vertritt, dass der Fehler beim Jupiter läge, wenn er sich nicht auf der von der Theorie vorgegebenen Bahn zu bewegen scheint ...
  Oben wurde mir ja vorgeworfen, ich würde etwas unterstellen. Ich stelle gerade fest, dass ich meine eigenen, pessimistischen Thesen von oben an dieser Stelle bestätigt sehe, da sie offenbar geeignet waren, die richtige Prognose zu stellen für das, was bei dem gewählten Ansatz am Ende herauskommt.
  Zwanzig Jahre Erfahrung mit Schreibwerkstätten in- und außerhalb des Internets und ihren typischen Schwächen und Abläufen sind halt doch etwas anderes als einfache Unhöflichkeit oder eine beiläufige Geringschätzung von "Lehrern" und "pädagogischen Ansätzen". Ich finde es im Gegenteil erschreckend, wie berechenbar es ist, dass solche reduzierten, "praktisch" sein wollenden Ansätze am Ende immer darauf hinauslaufen, dass irgendwelche Klassiker und Standardwerke, die das Genre definiert haben, als unpassende "Ausrutscher" wegerklärt werden sollen und müssen :seufz:.

Sorry, Sorella - ich will hier nichts gegen dich persönlich und die Diskussion über den "Herrn der Fliegen" vorbringen, die man durchaus führen kann und die nützlich ist. Es ist nur die Unausweichlichkeit und Vorhersehbarkeit des Diskussionsverlaufs bis zu diesem Punkt, die mir auf der Seele liegt. Und wenn der ein oder andere mal zurückblättert bis zu meinem Jupiter-Zitat und davor, und meine Aussagen von "damals" mit dem vergleicht, was seitdem so alles hier, im Nachbarthread und in der "Literaturliste" aufgetaucht ist, dann wird vielleicht leichter verständlich, warum ich ein paar Seiten zuvor so scheinbar voreilig bei Schommes' Ansatz die Sinnfrage gestellt habe. Ich sehe jetzt weniger denn je, dass die so gesammelten Punkte einen besseren und "praktischeren" Zugang zur Dystopie erlauben, als wäre man gleich bei den vorher hier genannten literaturwissenschaftlichen Ansätzen mitsamt ihren komplexen Deutungsmöglichkeiten geblieben :-\

Sorella

Es tut mir leid, wenn dir der Diskussionsverlauf auf der Seele liegt.
Es liegt in meiner persönlichen Eigenheit gerne Meinungen, oder auch unumstößliche Wahrheiten zu hinterfragen. Ich hatte meine, zugegeben provokante, These extra offen gelassen für Gegenargumente, also für die Diskussion.
Schade, dass es uns nicht gelingt locker mit der Thematik umzugehen. Ich habe Respekt vor deiner Erfahrung, die sicher größer ist als meine und auch deiner herausragend langen Forumszugehörigkeit, die dir mehr Beurteilungsvermögen für Diskussionsverläufe im Tintenzirkel zuschreibt.

Ich entschuldige mich hiermit ein aller Form, wenn ich mit meiner Fragestellung die Diskussion gestört habe.

Lomax

Zitat von: Sorella am 09. Mai 2011, 13:37:36Schade, dass es uns nicht gelingt locker mit der Thematik umzugehen. Ich habe Respekt vor deiner Erfahrung, die sicher größer ist als meine und auch deiner herausragend langen Forumszugehörigkeit, die dir mehr Beurteilungsvermögen für Diskussionsverläufe im Tintenzirkel zuschreibt.
Ich entschuldige mich hiermit ein aller Form, wenn ich mit meiner Fragestellung die Diskussion gestört habe.
Du musst dich sicher für nichts entschuldigen, und ich meinte ja auch, dass man die Frage sicher diskutieren kann. Es ist wirklich nur die Gesamtsituation und das Gefühl, das sich einstellt, wenn man irgendwas anmerkt, danach regen sich alle drüber auf, dass man zu negativ ist und so was ja nicht anmerken kann - und im weiteren Verlauf kann man dann die Liste auspacken und alles abhaken, was man von Anfang an so hat kommen sehen. Und am Ende steht man vor der unangenehmen Situation, dass man entweder sagen kann, "hab ich ja gleich gesagt" - womit man sich bekannterweise nicht beliebt macht, was man aber auch schwer unterdrücken kann, wenn man es nun mal gleich gesagt hat. :schuldig:
  Dein Hinterfragen war also schon okay, ich könnte halt einfach nur leichfüßiger darüber diskutieren, wenn das Thema nicht in diesem Kontext und als Punkt meiner "Abhakliste" aufgetaucht wäre. Was letztendlich aber auch mein Problem ist und dich nicht zu stören braucht.

Meine diesbezügliche Erfahrung bezieht sich im übrigen gewiss nicht auf den Zirkel, wo sich die so typisch verlaufenden "Werkstattdiskussionen" doch sehr beschränken. Meine Erfahrungen damit habe ich eher in zwanzig Jahren allgemeinem Fandom und Creative-Writing-Gruppen mit den darin aufzufindenen Sozialdynamiken und den üblichen Ergebnissen gesammelt. Und ich weiß auch (wieder), warum ich dankbar bin, dass beim Zirkel normalerweise entweder über Theorie gesprochen wird oder im Werkstattteil über ganz konkrete und einzelne Schreibfragen und echte Problemlösungen. Es ist halt gerade diese unselige Verquickung von Theorie und Praxis, von deren Nutzen ich nicht überzeugt bin, wenn also versucht wird, allgemeine Wahrheiten zu formulieren, aber bitte nur dann, wenn sie eindeutig, einfach und "praktisch anwendbar" sind.

Aber auch diese provokante Einstellung lasse ich gerne offen für Gegenargumente. Wenn du mich also überzeugen kannst, welchen "praktischen" Nutzen die immer größer werdende Liste von Dystopien im anderen Thread hat, wo so nach und nach alles reinwandert, was auch nur irgendein dystopisches Element aufweist, auch wenn es auf dem Markt unter anderen Genres verkauft wird, während umgekehrt klassische und allgemein als "typisch" anerkannte Dystopien in ihrer Genrezugehörigkeit in Frage gestellt werden können; oder jene Definition von "Dystopie", die im nächsten Thread gesammelt wird, wo nach und nach jedes einfach zu beschreibende Merkmal wiederzufinden ist, das je in irgendeiner Dystopie mal aufgetaucht ist, ungeachtet der Tatsache, dass es in anderen Genres genauso vorkommen kann, wohingegen komplexere Dinge, die eine Dystopie zu einer "guten" oder einer "typischen" Dystopie nach der üblichen literaturwissenschaftlichen Kategorisierung machen, fehlen, wenn sie eine feinere Abwägung erfordern als vorhanden/nicht vorhanden ... wenn du mir also diese Sinnfrage beantworten kannst, dann nur zu.
  Gut, zugegeben, man kann die Definition wie die Medien-Liste gut als Steinbruch und erste Anregung verwenden. Aber war das wirklich alles, was gemeint sein sollte, als hier von einer Definition fürs Genre oder gar einem Bauplan für eine "verdammt gute Dystopie" die Rede war?

Schommes

Lieber Lomax, ich schätze Meinungsmäßig werden wir bezüglich des Themas Dystopieverfertigung in Theorie und Praxis wohl nicht unter einen Hut kommen. Das muss aber meiner Ansicht auch nicht sein. Aber um eins möchte ich Dich wirklich um der Diskussionskultur in diesem Forum inständig bitten: Respekt vor der Arbeit anderer Leute, auch wenn sie Deiner Meinung nach nicht zielführend ist. Ich bin mir sicher, Du meinst es nicht so, aber der Ton Deiner Beiträge ist häufig - ungeachtet von deren sachlichem Inhalt - in geradezu päpstlicher Weise apodiktisch und von wenig spürbarer Wertschätzung für andere Meinungen getragen. Deswegen reagiere ich darauf so sensibel und in Deiner Diskussion mit Sorella war mir genau dieser Zug wieder aufgefallen, deswegen hüpfe ich jetzt hier hinein. Sorella und meine Wenigkeit haben uns mit den DystopieFreds ganz schön Mühe gegeben und sehr viel Arbeit hineingesteckt. Das haben wir sicher nicht aus Egoismus, sondern - ich denke doch durchaus - aus Gemeinsinn getan. Ich verlange nicht, dass Du unsere Ansichten teilst, aber wie gesagt, ein bisschen Achtung wär schon schön. Versteh mich bitte nicht falsch: Ich bin fest überzeugt, Du bist n echt netten Jung bist, wie man in meinen Herkunftsbreiten sagt, aber manchmal hat man das Gefühl, dass Du aus der Dir eigenen intellektuellen Flughöhe herab die Beiträge von uns "bodengebundenen" Volk mitunter etwas ungnädig beurteilst. Nur so ein Gefühl. Eigene Beschäftigung damit stelle ich anheim. Freue mich auf weitere Diskussionen mit Dir.

Lomax

Zitat von: Schommes am 09. Mai 2011, 22:07:13Ich bin mir sicher, Du meinst es nicht so, aber der Ton Deiner Beiträge ist häufig - ungeachtet von deren sachlichem Inhalt - in geradezu päpstlicher Weise apodiktisch und von wenig spürbarer Wertschätzung für andere Meinungen getragen.
Dein Einwand hat ja zwei Ebenen. Erst mal die sachliche - "Respekt vor der Arbeit anderer", das mag sein, Aber es hat ja wenig mit Respekt zu tun, wenn man eine Sache für fehlerhaft und unbrauchbar hält, und sie dann wegen "Respekt" trotzdem lobt. Rein sachlich muss also erlaubt sein, dass man es auch sagt, wenn man eine Sache nicht schätzt, egal wie viel "Arbeit" sich jemand damit macht. Sonst kommen wir nämlich wieder zu dem von dir auch gerne geschmähten typisch deutschen Ansatz, der es schon als Wert an sich ansieht, dass jemand sich "Arbeit" mit einem Werk gemacht hat. Wo dann beispielsweise Autoren als Qualität ihres Werkes hervorheben, dass sie zehn Jahre daran geschrieben haben - was halt eher ein Mangel ist, wenn es am Werk selbst nicht erkennbar ist und wenn sie nicht zeigen können, dass sie in den zehn Jahren auch etwas inhaltlich besseres geschaffen haben als ein anderer Autor in einem halben Jahr.
  Die "Arbeit" an sich sollte also kein Kriterium sein, das gegen sachliche Einwände sakrosankt macht.

Ein anderer Punkt ist der Tonfall. Mein Tonfall ist jedenfalls selten zufällig, sondern möglichst präzise auf den Gesprächspartner zugeschnitten. Ich gebe beispielsweise zu, dass mein Posting, bei dem du hochgegangen bist, interpretierbar war und eine Menge Schuhe enthielt, die man sich anziehen kann ... auch wenn ich durchaus darauf geachtet habe, dass der Kern sachlich blieb und die Aussage nüchtern vertretbar. Aber genauso waren eben auch die Schuhe durchaus bewusst platziert und die Reaktion provoziert.
  Und diesen Ton habe ich nicht zuletzt als Reaktion auf deinen eigenen Ton eingebracht, es war ein Aufgreifen der potenziell aggressiven Rhetorik, die du beispielsweise mit dem exkludierenden Einstieg ins Thema angeschlagen hast, und in deiner Antwort auf Lynn. Ich sehe so was sehr genau, merke mir das für möglichst jeden Gesprächsteilnehmer und versuche darauf zu achten, jedem auf derselben Ebene zu antworten, die er anzuschlagen pflegt.
  Das ist nicht böse gemeint. Das ist ein wenig wie beim Karate. Da schaut man sich ja auch seine Sparringspartner an, und wenn man einen etwas härteren Schlagabtausch schätzt, sucht man sich halt auch die Partner für Übungen, die selbst was kompromissloser reingehen, während man, wenn man zarter besaitet ist, sich die Leute aussucht, die "konktaktlos" wörtlich nehmen ;). Ich mag es durchaus, wenn jemand auch mal ein paar rhetorische Register zieht, unterschwellige Botschaften in seine Beiträge webt oder eine klare Ansage vertragen kann.
  Ich erwarte aber auch, dass jeder, der so eine Diskussionsführung an den Tag legt, auch Antworten auf derselben Stufe vertragen kann. Das ist also meine ganz einfach Grundregel für den Tonfall. Wenn ich mit jemandem klare, aber auch harte Diskussionen führen kann, bei denen gerne auch die Fetzen fliegen und man am Ende neben dem Ring zusammensitzt und gemeinsam die Wunden leckt, dann mag ich das genauso wie subtile, unterschwellige und sehr rhetorische Schlagabtäusche, bei denen man keine Wunden sieht, aber danach noch tagelang die Stacheln aus dem Pelz sortieren kann. Und umgekehrt, wenn jemand selbst immer nett und verbindlich auftritt, wird er in mir einen Gesprächspartner finden, den ich auch mit Samthandschuhen anfasse und wo ich mich in der Regel gar nicht traue, überhaupt etwas zu sagen.
  Nur wenn jemand selbst austeilt, aber einschnappt, wenn etwas zurückkommt, dann mag ich das gar nicht. In der vorliegenden Diskussion sehe ich auch keinen Punkt, wo ich mich im Ton vergriffen hätte und irgendwen auf einer anderen Ebene angegangen wäre, als der Betreffende sich selbst vorher exponiert hat. Ich denke mal, jeder hat seinen Teil gesagt, muss die Antworten abkönnen und alles ist gut :engel:

Aber, wie gesagt, die Verbindlichkeit im Ton und die sachlichen Aussagen, zu denen ich hier stehe, sind zwei Dinge, die mehr oder minder unabhängig und je nach Gesprächspartner wechselnd nebeneinander herlaufen. Sollte ich auch meine sachlichen Aussagen jenseits des gewählten Grades rhetorischer Schärfe vielleicht ein wenig zu "lehrerhaft" vertreten, muss ich mich leider wie du selbst oben auch einfach mit beruflicher Prägung entschuldigen.
  Seit Abschluss meines Studiums verdiene ich als Schlussredakteur wie als Lektor einen Großteil meines Geldes damit, dass ich de facto andere Leute auf ihre Fehler aufmerksam mache. Und während bei Erstlektoraten wenigstens noch Zeit bleibt für Diplomatie, muss das bei redaktionellen Arbeiten vor allem schnell und effizient und allein ergebnisorientiert geschehen.
  Da kann man nicht erwarten, dass zehn Jahre beruflicher Tätigkeit auf diese Weise ganz spurlos an einem Menschen vorübergehen, und da fehlt zugegeben auch manchmal die Geduld, einen Fehler stehen zu lassen und didaktisch jemanden heranzuführen, bis er ihn selbst entdeckt, oder Mängel, die man zu entdecken glaubt, so verbrämt zu beschreiben, dass man bloß keinem auf die Füße tritt, der sie vielleicht noch für richtig halten könnte. Ich bin es halt gewöhnt, Fehler die ich sehe, auch anzustreichen - selbst wenn ich von Vernunft und Ausbildung her weiß, dass es Dinge gibt, die Neueinsteiger in irgendeinem Gebiet einfach neu entdecken müssen und Fehler, die man durchlaufen muss und die man nicht überspringen kann.
  Aber wenn ich meine Haltung da mit dem vergleiche, was man sonst noch an Schule, Uni und im publizierenden Gewerbe antrifft, finde ich die so ungewöhnlich auch nicht. Das zählt eigentlich in all diesen Bereichen zum alltäglichen Durchschnitt, eine gute Diskussion muss es auch mal aushalten, wenn nicht alle nur nett zueinander sein wollen, solange die Regeln für Höflichkeit und professionellen Umgang miteinander eingehalten werden. Und was an Aussagen und Meinungen einen Schutzraum davor bräuchte, um überleben zu können, ist ohnehin nicht praxisfähig. Ich denke, das von mir erwartbare Maß an Zurückhaltung ist gewahrt, indem ich darauf verzichte, die Zusammenstellung im Listen-Thread kleinschrittig zu kommentieren, was den Thread ohnehin nur zerrupfen würde, und indem ich meine Einwände gegen die Ergebnisse des Praxis-Threads nur hier in der "Diskussion" dokumentiere.
  So steht die Arbeit, die ihr euch macht, für jeden, der sie nutzen möchte, dort auch ohne viele ablenkende Detailfragen zur Verfügung, und ich behindere euch auch nicht bei dem, dem ich mich nicht anschließen kann. Ich denke mal, das ist der bessere Teil des Respekts. Dem Anspruch, dass dieser Respekt darüber hinaus gebietet, dass man die Ergebnisse dieser Arbeit überall nur würdigen und Einwände dagegen nirgendwo vorbringen darf, halte ich demgegenüber für überzogen.