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Emotionen beim Leser erwecken mit Cicero

Begonnen von Coppelia, 17. Mai 2009, 07:57:19

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Coppelia

Moin,

im Moment tu ich alles, um mich um die Arbeit zu drücken, und ich dachte, ich könnte mal mein Blatt zur Verfügung stellen, dass ich als kleine Schreibhilfe fertig gemacht hatte. Die antike Rhetorik wusste genau, wie man mit den Emotionen des Publikums spielt. Ich denke, das gibt einem viel fürs Schreiben. Nicht nur Sol Stein behauptet ja immer, Emotionen müssten beim Leser geweckt werden, damit einem eine Figur sympathisch oder unsympathisch ist. Cicero hat in "de oratore" ein paar Tipps parat, in welche Richtung das geht. Die Liste ist zwar recht allgemein und man kann sie auch noch ergänzen, aber vielleicht hilft sie euch ja ein bisschen. Was den Neid betrifft, erweckt man durch solche Dinge vermutlich mehr den Eindruck, eine Figur sei zwielichtig.

*

Emotionen erwecken
(Cicero, de oratore II 206 ff.)

Das Publikum sind die Leser. Die Person ist unser Charakter. Der Redner sind wir. :) Natürlich müssen wir vorher wissen, wie die Person rüberkommen soll ...

Sympathie erwecken:

Respekt und Zuneigung erwecken:
-   Eine Person gewinnt die Sympathie des Publikums, wenn sie den Eindruck macht, das, was im Interesse des Publikums steht, gerechterweise zu vertreten.
     o   Durch das Engagement für etwas, was das Publikum für gut und gerecht hält, gewinnt eine Person den Respekt des Publikums.
     o   Durch das Engagement für die Bedürfnisse des Publikums oder für Personen, die sich um die Bedürfnisse des Publikums kümmern, gewinnt eine Person die Zuneigung des Publikums.
-   Es wirkt stärker, wenn man die Hoffnung des Publikums auf einen künftigen Vorteil lenkt, als wenn man an gute Taten in der Vergangenheit erinnert.
-   Dabei sollte ein Beweis erbracht werden, dass das, was die Person vertritt, wichtig und nützlich ist.
-   Es muss deutlich sein, dass die Person in keiner Weise aus Eigeninteresse handelt.
-   Wichtig ist auch, dass die Person, die die Sympathie des Publikums erwerben soll, nicht zu sehr gelobt wird und ihre Leistungen und Fähigkeiten nicht zu sehr hervorgehoben werden, denn dadurch könnten (anstatt Sympathie) Neid und Missgunst beim Publikum geweckt werden. Das muss vermieden werden.

Neid abschwächen:
-   Soll der Neid auf eine Person beschwichtigt werden (mehr zum Neid s. u.), muss man verdeutlichen
     o   dass die Person ihre Erfolge unter großer Mühe und unter großen Gefahren errungen hat,
     o   dass die Leistungen der Person nicht dem eigenen, sondern anderer Leute Vorteil dienen,
     o   dass die Person keinen Wert auf ihren Ruhm legt, sondern auf ihn verzichtet, ihn sogar zurückweist.

Mitleid erwecken:
-   Mitleid für eine Person wird dadurch erzeugt, dass sich das Publikum auf das Elend besinnt, das es selbst erlebt hat oder befürchtet. Das Unglück der Person sollte also mit unmittelbarem Bezug zum Publikum dargestellt werden.
-   Jede Darstellung tiefen menschlichen Leids ist wirkungsvoll.
-   ,,Ganz besonders bedauernswert wirkt ein rechtschaffener/tugendhafter Mensch, wenn er geschlagen und erniedrigt ist."

Antipathie erwecken:

Hass und Abneigung erwecken:
-   Indem man eine Tat, die eine Person begangen hat und die für das Publikum selbst schädlich oder nützlich ist, ausführlich darstellt (oder auch aufbauscht), erweckt man beim Publikum Hass auf diese Person.
-   Richtet sich die Tat gegen Personen, die sich für die Interessen des Publikums eingesetzt haben, gegen Unschuldige oder gegen den Staat, erweckt man dadurch zumindest Abneigung.

Furcht erzeugen:
-   Die Zuhörer müssen den Eindruck bekommen, dass sie durch eine Person persönlich bedroht sind.
-   Auch die Vorstellung einer allgemeinen Gefahr erzeugt Furcht, ist aber weniger wirksam.

Neid erzeugen:
-   Cicero bezeichnet den Neid als die heftigste Emotion.
-   Beneidet werden Personen, die dem Publikum gleichgestellt sind oder waren, oder Höhergestellte, die mit ihrer Position/ihrem Können prahlen und sich über allgemein geltendes Recht hinweg setzen.
-   Um den Neid auf eine Person zu schüren, muss der Eindruck erweckt werden,
     o   dass die Person ihre Position nicht durch eigene Tüchtigkeit errungen hat,
     o   sondern dass die Position, im Gegenteil, nur durch Verbrechen und Verfehlungen erreicht wurde,
     o   und, falls es sich um eine respektable Position handelt, die tatsächlich durch Leistungen errungen wurde,
     o   dass die Verdienste der Person trotzdem nicht so hoch einzuschätzen seien wie ihre Dreistigkeit und Überheblichkeit (oder ihr schlechter Charakter im Allgemeinen).


Kalderon

Hi Coppellia,

sehr nützliche Liste. Gut gemacht. :)


Liebe Grüße: Kalderon

Coppelia

Danke schön! :) Ich komme meinen "Pflichten" als Altphilologin nach. ;)

Felsenkatze

Schlauer Mann, der Cicero.
Ich denke, einiges von dem macht man als geübter Schreiber schon automatisch ... Angenommen, ich möchte eine Figur sympathisch darstellen, orientiere ich mich ja daran, was für mich sympathisch ist. Aber der Hinweis mit den glänzeden Leistungen ist klasse - ich merke immer, dass ich Figuren nicht so mag, wenn sie allzu perfekt sind.

Leon


Mrs.Finster

Das ist wirklich sehr hilfreich. Ich denke da kann man sich das eine oder andere nützliche rausziehen  :jau:
Glück ist, wenn die Katastrophen in meinem Leben endlich mal eine Pause einlegen :-)

Jara

Ich finde die Liste auch sehr gut gelungen, Coppelia!

Warum sollte das, was bei Cicero schon so großartig funktioniert hat, nicht auch bei uns modernen Schreibern klappen? ;)

Ganz nebenbei: Ich bin ein riesiger Cicerofan und fand auch seine Argumentationsführung immer spektakulär, als ich die Ehre hatte, ihn im Lateinunterricht zu übersetzen. *schmacht*

caity

Hallo Coppelia,

wirklich gut zusammengestellt. Ja, der liebe Cicero war schon ein Redner-Genie für sich ;)

Mfg
Isabella
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Romy

Danke für diese Liste Coppelia! Da ist einiges Wahres dran  :D

Alaun

Das ist ja spannend :buch:, dankeschön für das Einstellen der Liste! Es gibt anscheinend tatsächlich Dinge, die sich nie ändern, hm? Genauso wie auch die Poetik von Aristoteles ja nie ihre Relevanz verliert.

Coppelia

Bei Aristoteles' Poetik wär ich mir nicht so sicher. Aber das ist eine andere Sache. ;)

Es freut mich, dass ich euch weiterhelfen konnte. Und Cicero würde sich sicher auch freuen. :vibes:

Alaun

Oh, als Theaterwissenschaftler kommt man da nicht drumherum- und eigentlich hat er Recht- wenn auch das eine oder andere sich als ergänzungs-und/oder abwandlungswürdig erwiesen hat  ;D

Lila

Sauber, Coppi! :knuddel: *liste kopiert und speichert* Sowas kann man immer gut gebrauchen beim Schreiben. Ja, Cicero war in der Tat ein kluger Mann, wie man sieht. :jau:
Livid Oppressed King: Ignite!
Tyranny Has Overcome Rules."
(oder: was man nicht alles aus LOKI & THOR machen kann!) - TasTä (aka Lila)

Issun

Danke, Coppi! Diese Liste werde ich mir gleich einnähen - wieder mal was Praktisches aus dem Hause Cicero.  :)

Falckensteyn

Interessante Tipps, die Cicero da vor über 2'000 Jahren schon hatte. Danke für diesen Thread, Coppelia. Viele Eigenschaften meines Protagonisten treffen bereits auf Ciceros Tipps zu, das hat mich doch etwas erstaunt.

Schade eigentlich, dass Cicero ein so trauriges Ende nahm. Aber römische Politik war halt immer gefährlich.  :darth: