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Figurenpsychologie - Erfahrungen vom Schreibseminar

Begonnen von gbwolf, 19. Oktober 2008, 20:39:31

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gbwolf

Eigentlich kein Freund von Schreibratgebern und Schreibseminaren habe ich meinem Herzen beim Lesen des VHS-Programms einen Schubs gegeben, als ich von einem Seminar las, das sich der Figurengestaltung mit den Mitteln der Psychologie nähern wollte. Mit Martin Conrath hatten wir einen erfahrenen Krimiautor als Kursleiter. Vor allem ging es um glaubwürdige Krimifiguren, da der Fantasyroman ebenfalls von starken Tätern und Protagonisten leben kann, lässt sich so etwas aber gut übertragen.

Wir begannen mit der kleinstmöglichen Einheit: Dem Teaser/Plot/Pitch, einem Storyumriss von 3 kurzen Sätzen.
Aus diesem Abriss heraus schrieben wir zunächst exakt das heraus, was ohne Interpretation über die Figuren dort stand: Z.B., dass Figur X mindestens soundso alt sein muss, weil seine Tochter bereits berufstätig ist, dass Täter Y schadlos aus seinem Verbrechen hervorging, da er noch immer den höchsten Dienstrang bekleidet, etc.
Was am Anfang so einfach klang, war erstaunlich anspruchsvoll - nur sehen, was da ist, nicht interpretieren!

Das habe ich als gute Übung empfunden, den Plot in wenigen Sätzen zusammen zu fassen und mich dann den Figuren auf ganz nüchterne Weise zu nähern.


Schritt war der klassische Charakterbogen, auf dem verschiedene Eigenschaften, Äußerlichkeiten und Lebenseinstellungen festgehalten wurden (ähnlich behandelt hier im Tz unter: Charakterfragebogen, Figurdetails sortieren, Software-Tool für Charakterverwaltung). Die Aufgabe: Täter und Ermittler charakterisieren.
Der Vorteil, in einer Dreiergruppe einen Charakter zu erschaffen, war der, dass wir die Plausibilität sofort wechselseitig überprüfen konnten. Jeder hatte mal einen Klops, der so überhaupt nicht zur Figur gepasst hat und jeder hatte einige tolle Ideen ("Da unser Xaver doch ein zurückgezogener Beobachter ist und ein wenig phlegmatisch, lockt ihn da etwa wirklich der Nervenkitzel an dem Fall?"). In der nächsten Stufe wurden die Charaktere dann in der ganzen Gruppe seziert.

Fazit: Ab sofort werde ich nicht nur Charakterbögen ausführlicher mit Infos füttern als bisher, ich werde meine Charaktere auch der Kritik von Testlesern aussetzen!


Schritt 3 dann die Orchestrierung, was nichts anderes bedeutet, als Adjektive suchen, die die Figur charakterisieren, (nett, zögernd, ängstlich, ... gibt tolle Listen im Netz) und Gegensatzpaare bilden. Zwischen den Adjektiven lässt man Platz für eine Skala, nimmt für jeden Charakter (Nebenfiguren, die stark genug charakterisiert werden mit eingeschlossen) und schreibt, in welcher Intensität welche Eigenschaft zutrifft.
Hier führt man sich vor Augen, wie die Verteilung ist, denn Gegensätze erzeugen Spannung. Sind alle Figuren nett, phlegmatisch und Rosenzüchter ergibt sich wenig Spannung.

Mir ist dabei aufgefallen, wie gern ich gewisse Eigenschaften einsetze  ;D


Die letzte Aufgabe bestand dann darin, beide Figuren im Showdown des Buches aufeinander zu jagen + einer Person, die einem der beiden nahe steht, maximal 2 handschriftliche Seiten (3 Minuten Lesezeit). Bonus: Am Ende lebt nur einer von den 3 Leuten!
Ganz schwer hier, sich einerseits das Buch vor der Szene vorzustellen, den Rahmen nicht zu sprengen und dann innerhalb der Aufgabe zu bleiben, sich also daran zu halten, was man vorher geplottet hat und nicht einfach nur kreativ zu sein.


Garniert wurden die insgesamt 12 Stunden Seminar von einer umwerfenden Menge an Tipps zum Handwerk von einfachem "Wie werde ich meine Adjektive los?", "Was ist ein Druckkostenzuschussverlag und was ist falsch daran?" bis zu Psychiatrie-Fachliteratur, Medizinkenntnissen, Bergwerksschachtsprengungen, Ermittlertätigkeit, undundund.
Für 40€ ein allemal lohnendes Wochenende für mich, zudem die VHS keinen Raum zur Verfügung gestellt hat und wir exklusiv die Schreibwerkstatt von Herrn Conrath besetzt hatten ;)

Was mir jetzt noch fehlt ist ein ähnlich gutes Seminar, das an meinem zweiten Schwachpunkt ansetzt: Dem Plotten.

Steffi

Wow, das klingt hochspannend. Und ja--so ein Seminar über das Plotten täte mir auch gut.
Sic parvis magna

gbwolf

Spannend war es auch. Es ist wahnsinnig hilfreich, wenn einem jemand, der seit Jahren Ahnung von solchen Themen hat, Anmerkungen zum Charakter gibt, die Glaubwürdigkeit hinterfragt und auf eigentlich alles eine Antwort weiß.
Sollte er in einem Jahr ein Seminar zu einem anderen Thema anbieten, kann ich mir gut vorstellen, wieder mit zu machen.

Ergänzt habe ich im Text oben noch die Orchestrierung, die mir gestern durch die Lappen gegangen ist.