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Figuren erstellen - Techniken und Ratgeber

Begonnen von Mondfräulein, 28. Januar 2023, 18:03:34

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Mondfräulein

In Schreibratgebern und im Internet finden sich viele Methoden und Ansätze, um Charaktere zu erstellen. In letzter Zeit habe ich festgestellt, dass sie alle irgendwie auf ihre Art sinnvoll sind, deshalb dachte ich, vielleicht können wir ja mal gemeinsam verschiedene Methoden sammeln und eine Übersicht erstellen. Es geht mir gar nicht darum, zu diskutieren, welche Methode die beste ist. Ich glaube, verschiedene Methoden funktionieren wunderbar für verschiedene Autor*innen und vielleicht auch für verschiedene Figuren. Aber einen Überblick zu haben kann vielleicht helfen, die richtige Methode auszusuchen.

In den meisten Fällen ist es glaube ich trotzdem sinnvoll, die Originallektüre zu lesen, um zu verstehen, worauf eine Methode genau abzielt, aber die Übersicht hilft vielleicht dabei, zu sortieren, welche Lektüre sich überhaupt lohnt.

Figur steht hier stellvertretend für Protagonist*in oder Held*in oder Romancharakter. Aber Figur ist kurz und geschlechtsneutral, das fand ich am einfachsten. Ihr versteht hoffentlich, was ich meine! Ansonsten würde ich mich freuen, wenn ihr hier weitere Methoden vorstellt und dann eure Beiträge hier im ersten Post zitieren oder auf eure Beiträge verlinken, damit wir am Ende eine schöne Sammlung haben.


Psychological and Moral Need/Weakness (The Anatomy of Story – John Truby)

John Truby unterscheidet zwischen Need (Was braucht die Figur, um ein glückliches Leben führen zu können?) und Desire (Was will die Figur und worauf arbeitet er*sie aktiv hin?). Psychological Needs betreffen nur die Figur selbst, Moral Needs noch mindestens eine Person darüber hinaus, die die Figur durch ihr Verhalten in irgendeiner Art und Weise verletzt. Weakness meint hier etwas, das die Figur zurückhält, oft haben Psychological und Moral Need damit zu tun, die eigenen Schwächen zu überwinden. Ebenso gibt es häufig eine Lüge, die unsere Figuren glauben und im Moment der Selbsterkenntnis erkennen sie die Wahrheit hinter der Lüge. Die Lüge bezieht sich oft auf das Selbstbild der Figur. 

John Truby beschreibt in seinem Buch eine Schritt für Schritt Anleitung, die seiner Meinung nach der einzige Weg ist, eine gute Geschichte zu schreiben. Ich glaube nicht, dass das der einzige Weg ist, viele Tipps beziehen sich vor allem auf Drehbücher und teilweise wirkt das Konzept etwas formelhaft und restriktiv. Wenn man das aber nicht zu ernst nimmt, beinhaltet das Buch durchaus nützliche Tipps. Die einzelnen Schritte bauen aufeinander auf, zu Need, Desire und Weakness gibt es also noch sehr viel mehr zu sagen, als ich es hier wiedergeben kann, weil John Truby sie für jeden weiteren Schritt nutzt. Insgesamt fand ich viele Aspekte dennoch sehr nützlich für mein eigenes Schreiben, aber eher um mir einzelne Schritte herauszupicken, die helfen können, falls meine Geschichte nicht funktioniert, nicht um jedes Buch zwanghaft danach aufzubauen.

Belief & Instinct (Burning Wheel)

Burning Wheel ist ein sehr kompliziertes Rollenspielsystem. Jede Figur hat mehrere Beliefs, Instincts und Traits, die beim Rollenspiel helfen sollen, die ich aber auch für die Charakterisierung von Figuren nützlich finde.

Ein Belief enthält ein Statement und eine Handlung oder Handlungsrichtung, die daraus resultiert. Formuliert werden sie typischerweise als ,,Ich werde..." oder ,,Ich werde nicht...", also zum Beispiel: ,,Mein Gott ist der beste Gott. Ich werde jedem, den ich treffe, von meinem Gott erzählen." oder ,,Der König ist für den Tod meines Bruders verantwortlich. Ich werde ihn rächen." und so weiter. Es geht also um ein Statement (entweder ein Glaubenssatz oder etwas mit ethischer/moralischer Komponente oder irgendetwas anderes, was die Figur wirklich glaubt und wovon sie überzeugt ist) und eine Handlungskomponente (wie die Figur das in die Praxis umsetzen will, auf welche Weise sie danach handelt, wie sie das Ziel umsetzen will). Ein übergreifendes Statement und ein unmittelbares Ziel. Ein Belief ist oft auch ein Ziel, das die Figur langfristig verfolgt. 

Ich mag, dass ein übergeordnetes Konzept auf die Verhaltensebene heruntergebrochen wird, was es uns als Autoren leicht macht, diese Werte zu zeigen statt sie auszuschreiben. Außerdem bietet sich hier oft schnell eine Möglichkeit an, die Beliefs einer Figur herauszufordern oder zu nutzen, um Konflikte zu konstruieren. Ein Belief ist typischerweise sehr wichtig für die Figuren und kann sich im Laufe des Spiels ändern. Es gibt auch logischerweise nur eine begrenzte Anzahl pro Figur.

Ein Instinct im Kontext des Rollenspiels ist eine Handlung, die eine Figur automatisch durchführt, ohne es den Spielleiter*innen mitteilen zu müssen, zum Beispiel: ,,Ich sitze immer mit dem Rücken zur Wand, um den Raum im Blick zu haben." oder ,,Ich verberge die Tätowierung an meinem Hals immer mit einem Schal."  Ich finde es hilfreich, ein paar Instincts für meine Figuren zu definieren, ohne zwanghaft alle davon in den Roman einbauen zu müssen, weil sie mir helfen, die Figuren voneinander abzugrenzen. Insgesamt finde ich Beliefs nützlicher als Instincts, aber bei manchen Figuren hat es mir geholfen, über Instincts nachzudenken.

The Positive Trait Thesaurus: A Writer's Guide to Character Attributes – Angela Ackerman & Becca Puglisi

Die Kategorien kommen nur in einem Kapitel vor und sind nur ein kleiner Aspekt des Buches, aber für mich haben sie herausgestochen, weil ich das so noch nie irgendwo gesehen habe. Es gibt Eigenschaften, die 1. mit einer moralischen Überzeugung zusammenhängen, 2. dabei helfen, ein Ziel zu erreichen, 3. die Interaktionen mit anderen Figuren beeinflussen und 4. ihre Identität definieren. Die Autorinnen empfehlen, Hauptfiguren Eigenschaften aus allen vier Kategorien zu geben. Das Buch enthält darüber hinaus dann viele Eigenschaften, von denen man sich für die eigenen Figuren inspirieren lassen kann, enthält aber auch Listen, in denen die Eigenschaften den verschiedenen Kategorien zugeordnet werden.

Psychologische Konstrukte

Wissenschaftliche Konstrukte können hilfreich sein, um seine Figuren besser kennenzulernen. Häufig gibt es dazu Fragebögen, die man aus der Sicht der Figur beantworten kann, was hilft, neu über seine Figur nachzudenken.

In der Persönlichkeitspsychologie sehr geläufig sind die Big Five (speziell das OCEAN-Modell). Hier gibt es fünf Persönlichkeitsmerkmale (Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus) ein Spektrum, auf dem man sich irgendwo befindet. Hier lohnt es sich darüber nachzudenken, wo die jeweilige Figur steht, wie sie im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung steht und wie sich das auf ihr Leben auswirkt. Es gibt Tests, um die Big Five zu messen, einige findet man frei verfügbar im Internet. So hilfreich, wie die Big Five für die Wissenschaft sind, finde ich sie nicht besonders hilfreich beim Erstellen von Figuren.

Esoterische Modelle

Hier sammle ich Modelle, die nicht wissenschaftlich sind und es auch nicht behaupten, bei der Erstellung von Figuren aber auch hilfreich sein können, wenn man so etwas hilfreich findet.

Das Enneagramm unterscheidet zwischen neun Typen (Perfektionist, Geber, Dynamiker, Tragischer Romantiker, Beobachter, Advokat des Teufels, Epikureer, Boss und Vermittler), die bei Personen unterschiedlich ausgeprägt sein können. Von allen esoterischen Modellen, die mir bisher begegnet sind, finde ich es am hilfreichsten, weil es komplex genug ist, um eine Vielzahl von Persönlichkeiten abzubilden, gleichzeitig aber noch überschaubar genug, um nicht an der Fülle von Möglichkeiten zu verzweifeln. Nachteil ist aber, dass das Modell wieder in Kategorien einteilt, was bei Persönlichkeit aus wissenschaftlicher Sicht immer ein Problem ist. Hilfreich kann das Modell aber sein, wenn man die  Typen als Archetypen betrachtet, die als Ausgangspunkt für eine komplexe und vielschichtige Figur dienen. Zu den Typen gibt es Beschreibungen der verschiedenen Entwicklungsstufen (unreif, normal und reif), die helfen können, Charakterschwächen zu finden. Ebenso geht das Enneagramm von prägenden Verletzungen in der Kindheit aus, die vielleicht Inspiration für Backstory sein können. 

Der Myers-Briggs-Typenindikator ist weder seriös noch wissenschaftlich (tut aber so) und ich erwähne ihn hier nur, um davon abzuraten. Die Erfinderinnen haben außerdem einen ziemlich offen rassistischen Hintergrund (sucht mal nach einer Zusammenfassung des Romans Give Me Death von Isabel Briggs Myers wenn euch das interessiert, aber Achtung, Content Note für sehr offenen Rassismus). Das Konzept erinnert mich auch viel zu sehr an Eugenik. Nach der klassischen Lehre sind die Merkmale auch für Männer und Frauen unterschiedlich gewichtet, weil die Autorinnen von einem grundlegenden Unterschied zwischen den Geschlechtern ausgingen. Außerdem ist Persönlichkeit nach Myers Briggs angeboren und verändert sich im Laufe des Lebens nicht, was einfach nicht stimmt (Persönlichkeit ist ein relativ stabiles Merkmal, aber sie kann sich im Laufe des Lebens ändern) und eben auch wieder zu sehr in Richtung Eugenik geht. Die strikten Kategorien finde ich auch ehrlich gesagt nicht hilfreich. Persönlichkeit ist ein Spektrum und lässt sich nicht so einfach in Kategorien einteilen. Die Beschreibungen sind nicht besser als Horoskope. Der Test basiert auf der Typenlehre von C.G. Jung, gibt das Konzept aber sehr unzureichend wieder.

Die Typenlehre von C.G. Jung ist so ein Zwischending aus Wissenschaft und Esoterik. Jung war sehr esoterisch unterwegs, findet aber auch in der Psychologie immer noch Anwendung. Richtig wissenschaftlich ist die Methodik jedoch nicht, deshalb ist Jung in diese Kategorie. Grob zusammengefasst gibt es Einstellungen (Introversion und Extraversion) und Grundfunktionen (Denken, Fühlen, Empfinden, Intuition), die helfen, sich der Umwelt anzupassen. Jede der Funktionen können an eine introvertierte (nach innen schauend) oder extravertierte (nach außen gerichtet) Einstellung gebunden sein. Die Funktionen sind nicht gleich gewichtet. Insgesamt gibt es dazu noch viel mehr zu sagen, aber Jung ist generell nicht so zugänglich wie andere Theorien finde ich. Als Einstiegswerk empfehle ich C.G. Jungs Landkarte der Seele von Murray Stein, aber wirklich nur, wenn ihr euch wirklich dafür interessiert. Insgesamt finde ich das Konzept für die Charakterentwicklung nicht besonders hilfreich, sofern man sich nicht sowieso schon mit Jung auskennt oder total Lust hat, sich da reinzulesen, weil das Konzept doch ziemlich kompliziert ist. 

Horoskope können auch hilfreich sein, allerdings ist das auch wieder so ein System, das wahrscheinlich vor allem dann gut für einen funktioniert, wenn man sich schon damit auskennt. Die 12 Tierkreiszeichen, die wir alle kennen, sind nur die absolute Spitze des Eisbergs. Ein ausführliches Horoskop betrachtet Aszendent, Mondzeichen, Planeten, Mondknoten, manche Kometen, Häuser, Aspekte. Das zu deuten ist eine Wissenschaft für sich. Es gibt viele Variablen, die viele Variationen zulassen, aber eben auch sehr viele Variablen. Horoskope haben auch viel mit Potenzial zu tun. Wenn man sich da mal so richtig reinliest, kann man bestimmt eine Menge Inspiration für Figuren finden, aber man muss sich dafür eben auch erstmal so richtig reinlesen.

Eigene Methoden

Wenn ihr eigene Methoden habt, um Figuren zu erstellen, dann können wir das hier auch gerne sammeln. Ich bediene mich immer verschiedener Methoden und das hier ist nicht alles, was ich mache, wenn ich Figuren erstelle, aber ich fange gerne mit diesen Aspekten an, weil mir das hilft, Figuren im Roman vorzustellen:
Prämisse: Wenn ich meine Figur in einem Satz beschreiben müsste, also zum Beispiel so etwas wie ,,Ein selten nüchterner Kronprinz, der sich hinter seiner Weinflasche vor der Verantwortung der Krone versteckt".
Äußere Merkmale: Das meint keine körperlichen Merkmale oder das äußere Erscheinungsbild, sondern oberflächliche Persönlichkeitsmerkmale. Wenn jemand, der die Figur mittelmäßig gut kennt, sie beschreiben müsste, welche Worte würde er*sie wählen? Also zum Beispiel: Trägt nur Schwarz obwohl er damit blass aussieht. Trinkt zu viel. Riecht immer nach Wein. Baut auch betrunken noch sehr gute Kartenhäuser aus Bierdeckeln. Hat immer ein offenes Ohr für die betrunkenen Probleme von Fremden in der Taverne und gibt wohlwollende Ratschläge. Solche oberflächlichen Merkmale bleiben auch bei Leser*innen hängen.
Gute und schlechte Seiten einer Eigenschaft: Viele Charaktereigenschaften sind Schwäche und Stärke zugleich. Nehmen wir meinen Prinzen: Er ist sehr empathisch. Er ist ein guter Zuhörer und sorgt sich ehrlich um andere Menschen, auch Fremde. Das ist eine positive Eigenschaft. Auf der anderen Seite führt das aber auch zu besagter Schwäche: Er kümmert sich mehr um die Probleme anderer als um seine eigenen. Er geht seinen eigenen Problemen aus dem Weg. Er macht die Probleme anderer zu sehr zu seinen eigenen und kann sich schlecht von ihnen distanzieren. Im Prinzip ist also eine Eigenschaft Stärke und Schwäche zugleich. Manchmal mache ich eine  Tabelle, in der ich Charaktereigenschaften einer Figur notiere und dann für jede Eigenschaft positive und negative Aspekte notiere.
Maladaptive Verhaltensmuster: Das ist oft dasselbe wie eine Schwäche, aber es denkt hier etwas weiter. Hier geht es auch darum zu fragen, woher Schwächen kommen und welche Funktion sie vielleicht haben. Zum Beispiel mein widerwilliger Prinz: Eine seiner Schwächen ist, dass er sich mehr mit den Problemen anderer Leute beschäftigt als mit seinen eigenen. Das ist eine Schattenseite seiner Empathie. Aber warum handelt er so? Vielleicht hat er gelernt, seine eigenen Probleme nicht mehr wichtig zu nehmen, weil sein Vater sich immer über seine Probleme lustig gemacht hat. Vielleicht nimmt er die Probleme anderer deshalb so ernst, weil er nicht will, dass es ihnen genauso geht. Vielleicht hat er in seinem Leben nur dann Aufmerksamkeit bekommen, wenn er emotional für andere da war und er hat Angst, andere zurückzuweisen, auch wenn er dadurch mehr schultert, als er eigentlich kann. Seine Schwäche ist somit also eine logisch wirkende Konsequenz verschiedener Erfahrungen, an die er sich angepasst hat, indem er diese Schwäche entwickelt hat.
Der Rest von dem, was ich mache, ist eigentlich eine Kombination aus verschiedenen anderen Methoden, deshalb führe ich das jetzt nicht nochmal aus. Aber das sind Aspekte, über die ich bei so gut wie allen meinen Figuren nachdenke.

Was kennt ihr für Techniken? Ich bin total gespannt, was ihr noch alles vorstellt!

Franziska

Ah, vielen Dank für den Thread! Das ist eine super Übersicht. Einige Ansätze kannte ich noch nicht. Bisher habe ich bei den Figuren höchstens das Enneagramm benutzt, das finde ich besonders praktisch, um Beziehungen zu entwicklen und für Romance-Plots. Aber natürlich gibt es mehr als diese 9 Grundpersönlichkeiten.

Das mit den Belief & Instinct kannte ich nicht. Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstehe. Muss ich mir nochmal anschauen.
Ich bin dabei mir einen Charakterfragebogen zusammenzustellen und werde da verschiedene Ansätze nehmen.

Motte

Hallo Mondfräulein,

Figurenentwicklung ist äußerst spannend und deine Liste verdeutlicht, wieviel Gedanken da drin stecken (können).

Als kleine Ergänzung kenne ich noch Stefanie Stahls Persönlickkeitstypen, die eine Weiterentwicklung des Modells von C.G. Jung darstellen. Es gibt insgesamt 16 Persönlichkeiten - sie nennt sie Minister - die mit Schwächen, Stärken sowie Verhalten in Beziehungen und für sie typische Konflikte erklärt werden. Die Grundpfeiler der Persönlichkeit sind 1) Kopf- oder Herzmensch, 2) extrovertiert oder introvertiert, 3) abstrakte oder konkrete Wahrnehmung und 4) locker oder organisiert, daraus ergeben sich 16 unterschiedliche Minister.

Ich habe diese Modell noch nie zur Entwicklung von Figuren eingesetzt, zumindest nicht bewusst, dafür habe ich aber gerade zu Beginn einer Geschichte folgende Frage im Hinterkopf: Worin besteht die Komfortzone meiner Figur und wie kann ich diese möglichst effektiv kaputt hauen?  :)

Und vielleicht bei aller Theorie die wichtigste Frage: What serves the plot?

Liebe Grüße

Motte

Mondfräulein

Das Konzept von Stephanie Stahl ist tatsächlich kein eigenes Konzept, sondern nur eine Bearbeitung von Myers-Briggs (dazu habe ich ja weiter oben schon etwas geschrieben). Im Prinzip dasselbe Konzept, nur mit neuen, deutschen Begriffen und einem eigenen Test.

Zitat von: Motte am 18. Februar 2023, 16:24:54Ich habe diese Modell noch nie zur Entwicklung von Figuren eingesetzt, zumindest nicht bewusst, dafür habe ich aber gerade zu Beginn einer Geschichte folgende Frage im Hinterkopf: Worin besteht die Komfortzone meiner Figur und wie kann ich diese möglichst effektiv kaputt hauen?  :)

Und vielleicht bei aller Theorie die wichtigste Frage: What serves the plot?

Das sind finde ich auch wichtige Fragen!

Yamuri

Man könnte auch das Human Design System oder die chinesische Metaphysik verwenden als Instrument zur Persönlichkeitsentwicklung. Ich habe es selbst bisher nur zur Erforschung meiner eigenen Seelenwelt benutzt, aber theoretisch wäre es möglich die Systeme auch auf fiktive Figuren anzuwenden. Im Prinzip sind das HD und die chinesische Metaphysik vom Konzept her vergleichbar mit der Astrologie. Das Human Design System enthält Elemente aus der Chakrenlehre, aus dem I Ging und der Astrologie. Bei der chinesischen Metaphysik gibt es unterschiedliche Methoden - BaZi, QiMen Dunjia, das I Ging. Feng Shiu gehört auch dazu, ist aber weniger für die Figurenerschaffung geeignet, sondern könnte genutzt werden um Räume zu schaffen. Wenn man sich damit auskennt, könnte man basierend auf Feng Shui ganz bewusst günstige Konstellationen bei der Raum/Ortserschaffung nutzen um z.B. Orte der Kraft zu haben, die die Kultivierung von Magie verstärken oder Orte, die ungünstig gestaltet sind und damit zu Orten des Bösen werden könnten, wenn man möchte.

An Schreibratgebern habe ich letzten Monat einige gelesen. Da waren auch ein paar dabei die sich sehr intensiv mit Figurenerschaffung auseinandergesetzt haben. Elizabeth George hat sich selbst ein Formular für die Figurenerstellung geschrieben und verschiedene Übungen, anhand derer man sich herantasten kann.
ZitatName, Alter, Größe, Gewicht/Körperbau, Geburtsort, Haarfarbe/Augenfarbe,  Körperliche Besonderheiten/einzigartige Details, Bildungshintergrund, bester Freund, Feinde, Familie, Kernbedürfnis, pathologische Motive, Ehrgeiz im Leben, Gesten beim Sprechen, Gangart, stärkste Charaktereigenschaft, schwächste Charaktereigenschaft, lacht oder spottet über, Lebensphilosophie, politische Einstellung, Hobbys, was andere zuerst über ihn/sie wahrnehmen, was die Person alleine macht, Einzeiler zur Charakterisierung, wird der Leser die Figur mögen/ablehnen, verändert er/sie sich im Laufe der Geschichte? wie?, bedeutendes Ereignis, das die Figur geprägt hat, bedeutendes Ereignis, das zeigt, wer die Figur jetzt ist.
Sie schreibt, dass man nicht zwingend alle Fragen im Formular beantworten muss. Bei der Figurenerstellung arbeitet sie mit einer inneren und äußeren Landschaft der Figuren. Die äußere Landschaft ist die äußere Umgebung, die die Figur prägt, die innere Landschaft sind Erinnerungen, Psyche, Innenwelt der Figur, wie die Figur auf das Äußere reagiert.

Donald Maas hat in seinem Buch auch einen Abschnitt über Figurenerschaffung. Er geht in mehreren Schritten vor, die wiederum in Teilschritte untergliedert sind und gestaltet das ganze mit Übungen:
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Dann habe ich noch den Ratgeber von Orson Scott. Dessen Fokus liegt auf der Erschaffung von Figuren.
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Vielleicht ist in meinen Notizen ja das ein oder andre für euch dabei, was euch helfen kann.

Meine eigene Vorgehensweise ist eher unkonventionell. Die meisten meiner Figuren sind im Grunde "Kinder" von Figuren, die ich in Filmen gesehen habe. Mit "Kinder" meine ich, dass am Anfang die Frage "was wäre wenn" stand und zwar auf eine bereits existierende Figur bezogen. Ich mache mir Gedanken, wie würde Figur XY funktionieren in einem völlig anderen Setting. Wie hätte sich ihr Charakter entwickelt? Was hätte die Figur geprägt? Daraus entstehen bei mir neue Figuren, die aber optisch ein Vorbild haben.

Ich mag es auch einfach in Pinterest irgendwelche Fotos zu speichern, die auf mich eine Wirkung haben und mir zu diesen Bildern dann etwas auszudenken. Dann mache ich es ähnlich wie Elizabeth George in ihren Übungen zu Fotos. Ich stelle mir die Fragen: was ist das für eine Person? Was denkt diese Person gerade? Was hat sie erlebt? usw. Ich schreibe mir auf, was ich fühle.

Im Grunde ist es bei mir, wenn ich existierende Figuren als Vorbild habe auch eher so, dass es weniger die Persönlichkeit ist, die der Schauspieler/die Schauspielerin in der existierenden Geschichte gespielt hat, aus der etwas Neues entsteht, sondern es sind Screenshots, Fotos, Bilder, die bei mir Emotionen auslösen und mich inspirieren.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Sandschlange

Ich hab mir echt überlegt, ob ich noch was dazu schreiben soll - ihr habt ja schon tolle Methoden; alle so wissenschaftlich und dann komm ich mit ... naja. Es ist mehr eine Simplifikation, aber vielleicht hilft es jemandem: 

Grundsätzlich schreibt man den Namen der Figur in die Mitte eines Blattes und wie bei einer Mindmap macht man dann Striche vom Namen weg und schreibt verschiedene Adjektive hinzu, die man mit der Figur verbindet (oder man machts einfach so wie ich in dem Beispiel hier geordnet). Dann, im nächsten Schritt, schreibt man unter jedes dieser Adjektive, warum man das Adjektiv mit der Figur verbindet (etwa, in dem man Situationen beschreibt, in der sich eine Figur so gefühlt hat oder in der eine bestimmte Eigenschaft so aufgetreten ist oder auftreten könnte. Dadurch könnten einem - das habe ich mir zumindest gedacht - auch Unklarheiten oder Unstimmigkeiten auffallen in der Geschichte einer Figur; weil man viele Informationen komprimiert nebeneinander stehen hat).
Als Beispiel nehme ich mal einen meiner Protagonisten:

Suiibilis

unentschlossen:
Suiibilis ist in zwei verschiedenen Aspekten unentschlossen, die aber aufeinander aufbauen. Zum einen rührt seine Unentschlossenheit daher, dass er bei Dämonenjägern lebt und gleichzeitig einen freundschaftlichen Kontakt mit zwei Dämonen pflegt. Daraus resultiert der zweite Aspekt seiner Unentschlossenheit, der vor allen sein Handeln und seine Moral betrifft. Er selbst würde sich nicht als unentschlossen bezeichnen, sondern als eine differenzierte, selbstreflektierte Person, die sich auf keine Seite stellen will. Insgeheim weiß er aber, dass der Tag kommen wird, an dem er Stellung beziehen muss und das macht ihm Angst.

mutig:
Suiibilis Mut zeigt sich in Situationen, in denen schnelles Handeln erfordert wird - nicht bei längerfristigen Entscheidungen (siehe: Unentschlossenheit). Er stellt sich Kämpfen unüberlegt, weshalb er oft Verletzungen davon trägt; auf Außenstehende wirkt er in diesen Momenten mehr impulsiv als mutig (gerade wenn es um verbale Konflikte geht).

usw.

Wie gesagt, keine wissenschaftliche Methode und sicher nicht so ausführlich wie andere Methoden. Ich hab das damals so nach dem Worldbuilding angefangen - quasi "die schnelle Skizze" und dann hab ich die Charakterentwicklung mit dem Fragebogen (angepasst auf die Welt) beendet. Also der Fragebogen ist quasi das Ding, wo man die Figuren einzeln zum Interview holt und sie fragt wie sie zu jenem oder diesem stehen. Wichtig für mich war da auch - die Fragen zu beantworten, selbst wenn die Figuren es nicht taten. Also die Reaktion der Figuren (z.B. betretenes Schweigen) stand dann halt quasi als Antwort und das was die Figur wirklich dazu denkt (z.B. eigentlich mag ich Eiscreme, aber das kann ich nicht zugeben, da wirke ich doch uncool!) in Klammer. Und ja... so hab ich mich da damals durchgemogelt. :D
Der Frieden kennt keine Opfer.

Franziska

@Sandschlange das klingt gar nicht so unähnlich dem Attribute-Modell, das Mondfräulein vorgestellt hat, ich habe mir von "A Writer's Guide to Character Attributes" von Angela Ackerman & Becca Puglisi den Band über Schwächen "Flaws" geholt und finde es ganz hilfreich, vor allem um auch die Nebenfiguren auszuarbeiten. Dabei wird auch immer in Stichworten erwähnt, woher die Schwäche kommen könnte und wie sie sich auswirkt, sowohl mit positiven als auch negativen Aspekten. Und auch Beispiele. Das hast du ja ähnlich gemacht. Man muss es dann natürlich an die Figur anpassen.

Marta

#7
Sehr spannende Ansätze, ich glaube, da kann man aus jedem etwas mitnehmen. Ich habe auch eine Methode, die funktioniert allerdings vor allem in Geschichten mit zwei Hauptfiguren. Also Romance oder Buddy Film/Buch. Laut Save the Cat ist der Plot bei beiden fast identisch und sie unterscheiden sich vor allem darin, ob der Film in einem Kuss oder einem männlichen Handschlag endet. Das finde ich auch und plotte entsprechend.

Ich suche sowohl nach Unterschieden als auch nach Gemeinsamkeiten bei beiden Hauptfiguren. Es ist absolut essentiell, dass es beides gibt. Sie sollen schließlich am Ende zu Partnern werden, ob romantisch oder freundschaftlich oder beruflich, also müssen sie etwas Entscheidendes gemeinsam haben. Gleichzeitig braucht man Unterschiede für eine dynamische Beziehung. Die beiden sollten etwas voneinander lernen (und außerdem sorgt Konflikt für eine spannende Handlung). Wie die eine Hauptfigur ist, hängt immer von der anderen Hauptfigur ab.

Sagen wir, Figur A ist religiös, kühl, folgt den Gesetzen, will, dass alle anderen ihnen auch folgen und ist sehr auf Gerechtigkeit und Moral bedacht. Dann schreibt sich Figur B fast von alleine, aufgrund der Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die sie haben müssen. Figur B wäre in dem Fall hitzköpfig, Atheist*in, hat kein Problem damit, das Gesetz zu brechen ... ABER sie ist ebenfalls sehr auf Gerechtigkeit und Moral bedacht. Sie denkt nur nicht, dass Religion/Staat bzw. dessen Gesetze moralisch sind und folgt ihren eigenen Regeln.

Die beiden würden erst mal in Konflikt geraten, z.B. weil Figur B etwas gestohlen hat (um es an jemanden weiterzugeben, der es mehr braucht als der reiche Sack, dem sie es gestohlen hat) und gerät in Konflikt mit Figur A, die diesen Diebstahl verhindern will, weil: gesetzeswidrig. Der klassische Konflikt zwischen einem guten Cop und einem guten Dieb (Robin Hood-Typ), die als Feinde beginnen und den Film/das Buch als Freunde/Geliebte beenden.

Ich mag den Ansatz, weil er schön viel Konflikt enthält, aber auch Potential für ein Zusammenkommen. Und ich liebe Happy Ends.  ;D Als Bonus ist die Charakterentwicklung schon vorprogrammiert. Beide werden lernen, die Sichtweise der anderen zu verstehen. Klassischerweise wird jede Figur im Finale eine Methode des jeweils anderen benutzen, vermutlich sogar, um den anderen zu retten (yay!). Figur A wird etwas Illegales tun, um eine Katastrophe zu verhindern und Figur B wird jemandem auf der Seite des verhassten Gesetzes vertrauen. Oder so.

Für mich funktioniert die Methode ziemlich gut. Sie ist so eine Mischung aus "Gegensätze ziehen sich an" und "Gleich und gleich gesellt sich gern". Beides wahr, obwohl sie sich eigentlich ausschließen sollten.

Coppelia

@Marta Vielen Dank, das hat mir gerade irgendwie total geholfen, bei meinem jetzigen Roman zu verstehen, wohin die Reise gehen kann.

Petitcreiu

Ein sehr spannender Thread! Danke @Mondfräulein! Ich habe mitlesend schon viel gelernt.

Was mich immer wieder erstaunt ist, dass diejenigen Modelle, die in Schreibratgebern vorgestellt werden vornehmlich aus der Psychologie stammen, seien es aus wissenschaftlich aktuelleren Zweige oder Ableitungen von Jungschen Archetypen.

Mir persönlich hat aber die Soziologie beim Schreiben sehr geholfen. Wie Figuren wirken und  handeln, wird ja oft von ihren gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt. Dies gilt insbesondere für Fantasy, wo man das allgemeine Worldbuilding eigentlich kaum von den Figuren trennen kann. Inspirierend sind für mich vor allem die Theorien von Pierre Bourdieu.

Ich bin keine Soziologin, bittet verzeiht allfällige Fehler, mir geht es hier nur um die Übertragbarkeit ins Schreiben, nicht ob ich die Theorie richtig verstanden habe.

Die Wikipedia-Einträge zum Thema scheinen mir ganz gut geeignet, wenn man sich einlesen will, Bourdieus Texte habe ich als relativ zugänglich in Erinnerung, wer will kann ja direkt einsteigen!

Bourdieu arbeitet mit den  Konzepten: Habitus, Feld und Kapital. Aus diesen dreien lassen sich die Handlungsoptionen einer Figur ableiten.

Habitus ist das das  Auftreten einer Person, Lebensstil, die Sprache, die Kleidung, Geschmack usw. Aus dem Habitus ziehen wir, falls wir uns in einer vertrauten Umgebung befinden, sehr rasch Schlüsse über ihre Stellung, passen unsere Interaktion diesen Erwartungen an. Diese Schlüsse können natürlich falsch sein.

Felder wären Bereiche wie Justiz, Gesundheitssystem, Wirtschaft, Religion etc.

Kapital Es gibt verschiedene Formen von Kapital, u. A.:

- ökonomisches Kapital: Geld, Land (was wir in der Alltagssprache unter Kapital verstehen).

- kulturelles Kapital: etwa Bildung

- soziales Kapital: Freundschaften, Familie, Vereine

symbolisches Kapital: Prestige, Renommee, Aussehen etc.

Beispiel

Ich spiele das mal an einer spontan erfundenen Figur durch und ist natürlich auch (das wird keine Bestseller, es geht mehr um die Anschaulichkeit :D). Da es sich um einen Ansatz handelt, der Handlungen in den Fokus stellt, konnte ich dies nur innerhalb einer kleinen Geschichte entwickeln.

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Weitere Gedanken

Zu jedem Zeitpunkt hätte meine Geschichte natürlich auch eine andere Wendung nehmen können, es geht mir im  Beispiel weniger um den Plot, sondern darum zu zeigen wie stark das Handeln von Figuren nicht nur von ihrer Psychologie sondern gesellschaftlich geprägt ist. Mit einem soziologischen Ansatz schärft sich der Blick für Konflikte und Dynamiken.

Auch wenn meine Geschichte wie gesagt verbesserungsfähig ist (um es gelinde auszudrücken), scheint mir doch, dass hier eine plastischer Figur entstanden ist, ohne dass wir irgendetwas über ihre inneren Motivationen oder Ziele erfahren habe. Diese sind vielleicht also gar nicht so ausschlaggebend wie man zunächst denken könnte.

Mir persönlich graut es vor diesen Charakterbögen oder Interviews , sie nehmen den Figuren eine gewisse Sperrigkeit, die ich brauche, damit die Figur beim Schreiben interessant bleibt, mich weiterhin überraschen darf (aber dies hat natürlich sehr stark mit dem Schreibtypus zu tun!)

Alles Psychologische ist natürlich weiterhin zentral, mir scheint aber dabei geraten  die Interaktionen mit anderen Figuren schnell etwas in Vergessenheit. Die Versuchung ist nah, alle Hauptprotagonistin als Rebel:innen zu zeichnen, die sich nicht um den zugewiesenen Habitus kümmern, nun ist dies in Realität aber nur unter ganz großen Anstrengungen möglich, wenn alle Figuren ständig so handeln, wird ein Buch schnell etwas beliebig.

Mit einer eher soziologischen Methode muss man sich erst einmal fragen, was angepassten Verhalten eigentlich wäre, um dann den Bruch in all seinen Konsequenzen beschreiben zu können. Auch hat eben nicht jede Figur in jeder Gesellschaft die gleichen Handlungsoptionen (race und gender sind je nach Weltentwurf zusätzlich extrem relevant, auch welche Rolle Magie darin spielt). Diese Beschränkungen als erstes in den Fokus zu stellen, hilft dabei über Möglichkeiten nachzudenken, das Handlungspotential zu steigern, etwa in dem mehr Kapital erworben wird (der Klassiker in des Mittelstandes, der so leider nicht stimmt: mach´ eine gute Bildung und du kommst vorwärts). A hätte sich zum Beispiel für die verlassenen Tiere von Z einsetzen können, und sich dort ein mögliches neues Feld erarbeiten können, und dabei Freund:innen gewonnen, anstatt ins Kloster zu müssen, hätte diese Freundinnen ihr dann einen Posten im Tierheim in Stadt Y organisieren können.

Aus Leser:innenperspektive ist es auch sehr befriedigend, wenn Figuren ihr Kapital überraschend einsetzen.

Spezifisch Fantasy

Ein weiterer Vorteil für Fantasy ist der Fokus auf materielle Dinge, Sprechweisen, Sitten und Bräuche etc. Arbeitet man nur psychologisch sind diese schnell etwas angeklebter und nicht unbedingt handlungsrelevant. Werden Plots und Figuren mit einer soziologischen Methode entwickelt, bleiben beide dynamisch im Austausch mit anderen Figuren und der Umgebung. Dies schützt insbesondere vor passiven Figuren, die in all ihren Schrullen durchaus liebenswürdig sein können, aber sehr schwierige Hauptprotagonisten sind (davor warnt ja die meisten Schreibratgeber auch sehr).

Für den Plot interessant wird es natürlich immer dann, wenn es zu

a) Schwierigkeiten kommt, einen Habitus lesen zu können, oder etwas nicht den Erwartungen entspricht, zb. Ein ärmlich gekleideter Kaiser, eine ständig fluchende Nonne, eine sehr gebildete Bäuerin, ein asketischer Wirt usw. Sowie Ab-, Auf- und Umsteiger:innen aller Art.

b) es zu Machtkämpfen um das Kapital kommt, oder man es überraschend an einem neuen Ort einsetzt.

c) Feldwechsel. Sie sind ja fast schon Klassiker des Genres, alle reisen ständig irgendwo hin und treffen Leute mit einem entsprechenden anderen Habitus. Romane, die nur an einem Ort spielen, sind ja oft Fantasy of Manners (wie etwa in Goblin Emperor von Katherine Addison) dabei ist die/der Hauptprotagonist:in aber allermeistes eine neu hinzugekommene Figur.

Ich habe nachdem ich das hier fast schon zu Ende geschrieben habe, noch einmal intensiv gegoogelt, und wirklich zwei Creative Writing Professor:innen gefunden, die mit Bourdieu gearbeitet haben! Allerdings scheinen sie noch kein Buch dazu verfasst zu haben und ich finde nur diesen Aufsatz, der sehr theoretisch daher kommt. Sehr spannend und lehrreich ist jedoch der Abschnitt II)b. Leider haben die Autor:innen von allen möglichen Arten, wie  das symbolische Kapital bei der weiblichen Figur definiert wird,  Schönheit auf der Habenseite und verlorene Ehre durch Missbrauch auf der Sollseite verbucht :/ Es gibt originellere Möglichkeiten.... Sehr gefallen mir die Überlegungen zur symbolischen Gewalt, ein Teilaspekt von Bourdieus Theorie, den ich ganz vernachlässigt habe.

https://axonjournal.com.au/issues/c-4/bourdieu-and-aesthetics-creative-writing


Es würde mich außerordentlich interessieren, ob hier Leute mitlesen, die sich mit Bourdieu auskennen (was ich nicht tue) oder seine Theorien schon wissenschaftlich verwendet haben. Wo seht Ihr Vorteile, wo Nachteile, wenn man mit diesem Ansatz Figuren und Plots entwirft?


Ich hoffe, ich habe diejenigen, die noch nie von Bourdieu gehört haben, nicht mit Fachbegriffen erschlagen, aber leider muss man hier viel definieren, damit es verständlich wird, worum es geht. Ist diese Methode anschlussfähig an die Art, wie ihr Figuren und Plots gestaltet? Kennt Ihr Ansätze aus Schreibratgebern, die dem hier nahekommen?
,,Das Leben ist verrückt! (...)  Und ich finde das wunderbar. Wer das nicht merkt, verschläft das Schönste."

Hans Bemmann: Stein und Flöte, und das ist noch nicht alles

Franziska

@Petitcreiu das finde ich sehr interessant. Ich habe Soziologie studiert und mich da auch mit Bordieu beschäftigt. Erscheint mir erstmal logisch, was du schreibst. Es geht da ja darum, die Figur in ihrer Umwelt mehr einzubetten. Das gehört aber teilweise für mich eher zum Worldbilding, aber natürlich wirkt sich das dann wiederum auf die Figur aus.
Mir fällt tatsächlich öfter auf, wenn das inkonsistent ist.
Beispiel: eine arme Bauerntochter kann für Plotgründe lesen und schreiben, obwohl es in der Welt unlogisch ist. Oder Mädchen erfährt, dass sie eine verlorene Prinzessin ist und weiß auf dem Ball im Palast genau, wie sie sich benehmen soll ...

Ich denke, sich einen Habitus für verschiedene Schichten in einer Welt zu überlegen hilft enorm, die Welt plastisch zu machen. Ich würde es aber immer mit der psychologischen Seite integrieren. Etwa: warum entscheidet sich deine Figur jetzt, den Habitus zu brechen, was ist ihre Motivation (wenn es absichtlich geschieht). Oder wie kommt die Figur an das Kapital, um ihr Ziel zu erreichen?
(hier könnte Kapital Kontakte sein oder auch Geld).

Ich denke, die Figur in eine unbekannte Umgebung zu bringen ist immer ein guter Weg, um ihre Geschichte und Herkunft zu zeigen, ohne zu viel Infodump und "tell" zu verwenden.

Petitcreiu

Danke @Franziska! Es ist nämlich auch schon eine Weile her, seit ich Bourdieu gelesen habe...

Dein Beispiel von der Prinzessin haben mir klar gemacht, was ein Grund sein könnte, warum gesellschaftliche Aspekte bei der Figurenzeichnung in der Fantasy oft etwas vergessen gehen: im Märchen haben die Protagonisten keinen Habitus. Wahrscheinlich paart sich das dann im 20. Jahrhundert mit biologistischen Konzepten: die Prinzessin hat es einfach in den Genen, wie man sich an einem Ball verhält. Schreibt man nun eher ,,realistisch", wie es heute in den meisten Fantasy-Romanen der Fall ist, dann kommt es hier zu einer Schere.

,, Ich würde es aber immer mit der psychologischen Seite integrieren. Etwa: warum entscheidet sich deine Figur jetzt, den Habitus zu brechen, was ist ihre Motivation (wenn es absichtlich geschieht)."

Da stimme ich natürlich völlig zu!

,,Oder wie kommt die Figur an das Kapital, um ihr Ziel zu erreichen?"

Als Lesende machen mir diese Teile auch sehr viel Spaß, wobei ich nicht die einzige bin. Romane, die ein Ausbildungs-Setting zum Inhalt haben, erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Eines der großen kommenden Subgenres im angelsächsischen Raum ist die sogenannte progression fantasy, in der ein zu Beginn kapital-armer Protagonist:in immer mehr dazulernt.

,,Das Leben ist verrückt! (...)  Und ich finde das wunderbar. Wer das nicht merkt, verschläft das Schönste."

Hans Bemmann: Stein und Flöte, und das ist noch nicht alles

Brillenkatze

Das hier ist ein interessanter Thread. :vibes: Von den anderen Vorschlägen werde ich mir mal was anschauen.

Ich traue mich auch mal aus der Deckung. @Mondfräulein  wird bei meinem Go-To vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. :versteck:

Der 16Personalities-Test (https://www.16personalities.com/de)
(Kam hier auch schon mal im Workshop im Forum vor https://forum.tintenzirkel.de/index.php?topic=21835.0)
Der Test an sich ist kostenlos. Die Ergebnisse sind bisher nur zu Teil auf Deutsch übersetzt, dann geht es Englisch weiter, die Seite gibt's in vielen Sprachen.
In diesem Konzept wird Jung mit den Big-Five und ja, auch MBTI gemischt, aber weniger als feste Typen, sondern als Ergebnis mittels Prozentsätzen. Es ist keine Festlegung auf Geschlechter mehr vorhanden. Auf der englischen Seite wird das Konzept detailliert erklärt. Natürlich ist das Ganze immer noch nichts wissenschaftliches, es handelt sich um einen Selbsttest und die Ergebnisse sind subjektiv. Allein je nach Tagesform können die Prozentsätze bei Andersbeantwortung von Fragen variieren. Ob es für das wahre Leben was taugt, keine Ahnung, aber zu Figuren gibt es eine grobe Einschätzung ab.
Wenn eine Figur z.B. bei 54/46% zwischen F und T, lese ich jeweils beide Beschreibungen, ob was passen könnte.

Meistens überlege ich mir, welche Buchstabenkombination die Figur haben könnte (zu mir kommen Figuren als waberige Persönlichkeiten) und mache dann den Test als Check, ob ich das richtig zusammengestellt habe. Geht natürlich ohne viel Vorwissen auch andersherum.

An die Kathegorien halte ich mich beim Schreiben nicht sklavisch, das verunsichert mich dann nur (Würde er das als INTJ wirklich so tun? Würde er? Oder nicht? Ahhh!).
Allein um ein bisschen grundlegende Varianz in den Figurtypen zu schaffen, ohne platte Stereotype zu verwenden, und um mir bewusst zu werden, dass Figuren durchaus anders Ticken und die Welt jeweils anders sehen und erleben können, finde ich den Test und das Konzept hilfreich.

Figurenprofile lassen sich natürlich um so viele Aspekte mehr ergänzen, z.B. IQ und EQ, wie selbstreflektiert ist die Figur etc.

Für Introvertiert und Extravertiert gibt es übrigens verschiedene Definitionen. Eine ist eher sozial und einfach gehalten: Extravertierte gehen gern auf andere Menschen zu und Introvertierte sind schüchtern.
Eine andere dagegen besagt, dass Extravertierte ihre Energie eher in Gesellschaft aufladen und mehr Reize um sich herum brauchen, um sich angenehm stimuliert zu fühlen. Introvertierte dagegen verarbeiten Reize intensiver und fühlen sich dadurch schneller Reizüberlastet. Daher können sie allein und in Ruhe besser abschalten und ihre Batterien füllen. Schüchternheit wäre dann so was wie eine soziale Phobie und kann sowohl bei Extravertierten als auch bei Introvertierten auftreten.

Ich arbeite auch daran, das Personalities-Konzept für mich persönlich bei E vs I noch um ein A für Ambivertiert zu ergänzen - dann habe ich statt 16 Persönlichkeiten schon 24 zur Auswahl.

In Horoskope habe ich mich noch nicht wirklich eingearbeitet, aber jüngst hatte ich dabei das "Problem", dass bei einem zweieiigen Zwillingspaar beide sehr unterschiedlich drauf sind. Für die eine passt die Jungfrau gut, die andere wäre als Wassermann glücklicher - sie haben aber nur ein Geburtsdatum. Sie sind nun trotzdem beide Sternzeichen Jungfrau.
"But have you ever noticed one encouraging thing about me, Marilla? I never make the same mistake twice."
"I don't know as that's much benefit when you're always making new ones."
- Anne of Green Gables, Lucy Maud Montgomery