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Own Voices und Chancengleichheit auf dem Buchmarkt [CN Rassismus]

Begonnen von Mondfräulein, 10. Februar 2021, 14:28:36

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Alana

Zitat von: Maja am 10. Februar 2021, 15:52:08
Own Voices sind im Moment ein so wichtiges Schlagwort auf dem Buchmarkt, dass ich nicht denke, dass ausgerechnet jetzt dann Own Voice-Autoren diese Türen versperrt werden, aber man andere Autoren dann über genau diese Themen schreiben lässt. So wie ich das wahrnehme, geht der Trend ganz klar in Richtung Own Voices, das ist etwas, das wir vor zwei, drei Jahren in dieser Form überhaupt noch nicht hatten. Wenn, dann sind die Chancen jetzt besser als deswegen.

Diese Beobachtung habe ich tatsächlich auch gemacht. Eine sehr schöne Entwicklung, wie ich finde. Deswegen denke ich auch, dass es auch andere Gründe dafür gibt, warum immer noch so wenig Own Voices verlegt werden. Nicht nur die Annahme beim Verlag kann eine Schwelle sein.
Alhambrana

Elona

#16
Zitat von: Alana am 10. Februar 2021, 15:47:26
ZitatDie/der Betroffene könnte erst in vierzig Jahren kommen (wenn überhaupt) und in der Zeit zwischen drinnen haben Personen davon profitiert.

@Elona Aber da stelle ich mir die Frage, wenn du wirklich helfen willst, warum dann ein Buch schreiben?

Wäre es nicht deutlich mehr Hilfestellung, sich darum zu bemühen, dass ein entsprechendes Buch eines Own Voice Autors verlegt wird? Das ist auch einer der Punkte, die mir bei meiner Entscheidung geholfen haben. Dass sonst niemand dieses Buch schreibt, empfinde ich mittlerweile eher als Ausrede. (Und das meine ich nicht als Angriff auf dich.) Wenn es einem wirklich um das Thema und um die Sensibilisierung dafür geht, wäre es besser, Own Voice Autoren zu fördern, statt ihnen ihre Themen wegzunehmen.
Alles gut, mache ich ja nicht, von daher fühle ich mich auch nicht angesprochen.  :engel:
Ich würde solch ein Thema nie als die Prämisse meines Romans wählen.

Jetzt ziehen wir aber wieder das Beispiel heran Not Your Type . Wenn ich das jetzt richtig mitbekommen habe, war die Autorin ja gewissermaßen "betroffen" gewesen. Wenn man also selbst in irgendeiner Weise mit drinnen steckt und auch noch von jemanden mit Own Voice unterstützt wird, warum sollte diese Person dann nicht dieses Buch schreiben dürfen?

Und was die Hilfestellung angeht: Die Person muss das nicht nur wollen, man muss auch zusammen funktionieren. Ist ja bekanntlich auch nicht das einfachste.  :hmhm?:

Zitat
Zitat von: Alana am 10. Februar 2021, 15:54:37
Zitat von: Maja am 10. Februar 2021, 15:52:08
Own Voices sind im Moment ein so wichtiges Schlagwort auf dem Buchmarkt, dass ich nicht denke, dass ausgerechnet jetzt dann Own Voice-Autoren diese Türen versperrt werden, aber man andere Autoren dann über genau diese Themen schreiben lässt. So wie ich das wahrnehme, geht der Trend ganz klar in Richtung Own Voices, das ist etwas, das wir vor zwei, drei Jahren in dieser Form überhaupt noch nicht hatten. Wenn, dann sind die Chancen jetzt besser als deswegen.

Diese Beobachtung habe ich tatsächlich auch gemacht. Eine sehr schöne Entwicklung, wie ich finde. Deswegen denke ich auch, dass es auch andere Gründe dafür gibt, warum immer noch so wenig Own Voices verlegt werden. Nicht nur die Annahme beim Verlag kann eine Schwelle sein.
Ich finde die Entwicklung auch super. Und der Grund - weil eben sowas passiert, wie es jetzt passiert ist und ich schätze, dass Verlage kein unnötiges Risiko eingehen wollen, so etwas "aufzubauen". Aber von Verlagen habe ich ja bekanntlich keine Ahnung.  :engel:

Edit: weil missverständlich formuliert.

Mindi

Zitat von: Mondfräulein am 10. Februar 2021, 15:08:56
Wenn ich wieder Not Your Type als Beispiel nehme: Niemand sagt, dass cis Autoren keine trans Personen schreiben können. Es sagt auch niemand, dass sie keine trans Hauptfiguren schreiben können. Das Problem entsteht dann, wenn die Prämisse meines Buches "Mädchen verliebt sich in Jungen, aber er ist trans" ist und nicht zum Beispiel "Junge muss den bösen Zauberer aufhalten und den letzten Drachen retten" und der Junge ist eben auch trans, aber das ist nicht das Hauptthema des Buches. Es geht also nicht nur darum, dass meine Hauptfigur einer marginalisierten Gruppe angehört, sondern dass die Angehörigkeit der Figur zu dieser Gruppe das Hauptthema und die Prämisse des Buches ist.

Sorry, falls die Frage etwas doof ist.
Ich kenne das Buch und die Autorin nicht, bzw. Habe ich erst jetzt darüber etwas gelesen. Aber ... bei dem Beispiel bin ich etwas irritiert. Wenn ich es richtig verstehe, geht es um ein Mädchen, dass sich in einen Jungen verliebt, der Trans ist (und das ist auch recht schnell geklärt, richtig?).

Die Autorin wiederum ist - und das wäre der Punkt, an dem ich gerade nicht mehr gut nachvollziehen kann, warum es ihr "abgesprochen" wird, über dieses Thema zu schreiben: Die Autorin ist mit einem Trans Mann verlobt.
Wenn das Buch also aus der Sicht des Mädchens geschrieben ist, dass sich in einen Transjungen verliebt, dann wäre das doch sogar eigene Erfahrung, die sie einbringen kann. Ja, es sind nicht die des Transjungen, sondern der anderen Person, die queer ist. Aber ist ihre Erfahrung nicht wertvoll, dass sie das Thema angehen darf? Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht und beziehe mich da nur darauf, dass sie nicht own voice ist, was Transmenschen betrifft. Oder geht es in dem Buch vor allem um das Outing der Transperson bzw. Der Problematisierung davon, und nicht um die Liebe zwischen den Personen?

Mit Elona überschnitten.
"When we are asleep in this world, we are awake in another." - Salvador Dalí

Mondfräulein

Es geht mir mit diesem Thread nicht konkret darum, auf diesem Buch herumzuhacken oder zu sagen, dass sie es nicht hätte schreiben dürfen. Klar ist es ein Argument, dass sie mit einem trans Mann verlobt ist, allerdings hatte er sein Coming Out wohl erst, nachdem das Buch schon geschrieben worden war. Ich habe es eher als Beispiel genommen, um deutlich zu machen, was ich insgesamt meine. Im Buch selbst geht es laut den Rezensionen, die ich gelesen habe, sehr viel um die Erfahrung des trans Protagonisten und um sehr, sehr viel Transphobie, die er erlebt hat. Ein großer Teil des Buches dreht sich darum, dass er sich selbst hasst, weil er trans ist. Aber wie gesagt, das sind Informationen aus zweiter Hand. Das Buch ist aus beiden Perspektiven geschrieben.

Mir geht es im Thread aber eben auch nicht darum, was man schreiben darf und was noch authentisch ist, sondern konkret darum, ob die Veröffentlichung dieser Werke die Chancen anderer Own Voices Autoren beeinflusst.

Ich beobachte ebenfalls, dass Own Voices als Label immer wichtiger wird, besonders auf dem englischsprachigen Buchmarkt. Das geht denke ich damit einher, dass Diversität generell ein immer größeres Thema wird. Auch deutsche Verlage kommen langsam damit hinterher, diese Bücher zu übersetzen. Das ist denke ich auch Folge einer Entwicklung auf dem englischsprachigen Buchmarkt, wo diverse Bücher immer besser laufen und viele große Fantasyautoren es wie selbstverständlich in ihre Werke einbauen. Mich freut auch, dass immer mehr Fantasybücher Geschichten aus Welten erzählen, die von anderen Kulturen als der europäischen inspiriert sind, häufig von Autoren geschrieben, die selbst aus diesen Kulturen kommen. Ich hoffe sehr, dass sich das durchsetzt.

Malinche

Zitat von: Mindi am 10. Februar 2021, 16:31:44
Wenn das Buch also aus der Sicht des Mädchens geschrieben ist, dass sich in einen Transjungen verliebt, dann wäre das doch sogar eigene Erfahrung, die sie einbringen kann. Ja, es sind nicht die des Transjungen, sondern der anderen Person, die queer ist. Aber ist ihre Erfahrung nicht wertvoll, dass sie das Thema angehen darf? Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht und beziehe mich da nur darauf, dass sie nicht own voice ist, was Transmenschen betrifft. Oder geht es in dem Buch vor allem um das Outing der Transperson bzw. Der Problematisierung davon, und nicht um die Liebe zwischen den Personen?

Ich habe das Buch auch nicht gelesen, nur die negative Besprechung, an der sich so vieles entzündet hat, und die Kritikpunkte, die darin benannt wurden, fand ich nachvollziehbar dargestellt (und auch sachlich erklärt).

Der Rezensent sprach an, dass es einerseits Deadnaming gibt - man also sehr früh im Buch den alten Namen der trans Figur erfährt - und sehr viele auserzählte Rückblenden, die Mobbing und ähnliche Erfahrungen thematisieren, de facto aber wohl nichts zur eigentlichen Handlung beitragen, sondern eher effektheischerisch wirken. Ein anderer Kritikpunkt war, dass der Rezensent die Figur nicht überzeugend charakterisiert fand, sondern meinte, die Persönlichkeit würde sich quasi darauf reduzieren, dass die Figur trans ist und sich dafür hasst (und diesen Selbsthass überwinden muss).

Zumindest diese Kritik richtet sich also nicht dagegen, dass es um die entsprechenden Erfahrungen eines cis Mädchens geht, sondern benennt Probleme in der Darstellung der trans Figur. Da geht es dann vor allem um ungünstige Tropes und Erzählstrukturen, die da wohl bedient wurden.

Das nur als Einwurf für ein bisschen Kontext.

[EDIT] Hat sich mit Mondfräulein überschnitten.
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Fianna

Dazu wollte ich nur ergänzen, dass in den Kritiken um das Buch vor allem bei trans Personen sehr schlecht angekommen ist, dass der Protagonist sich erst entwickelt, nachdem er die Liebe gefunden hat. Der Partner zeigt ihm, dass er liebenswert und ein richtiger Mann ist...
Cis savior fiel da, und gerade dieser Aspekt der Geschichte hat viele Leute verletzt.

Alana

#21
ZitatMir geht es im Thread aber eben auch nicht darum, was man schreiben darf und was noch authentisch ist, sondern konkret darum, ob die Veröffentlichung dieser Werke die Chancen anderer Own Voices Autoren beeinflusst.

Aber bei Not your Type geht es ja konkret um ein Buch von einer cis Person, die aber mit Hilfe ihres trans Partners ihre eigenen Erfahrungen und die Erfahrungen einer transgender Person in einem Roman bearbeitet. Daher finde ich nicht, dass ein Buch wie Not Your Type das richtige Beispiel für diese Fragestellung ist, unabhängig davon, ob es handwerklich gut gemacht ist oder nicht. Nur weil jemand anders den Text forumliert hat, entwertet das nicht die Erfahrungen des am Buch beteiligten Partners, solange der dahinter steht und sich nicht davon distanziert.

@Malinche Danke für den Kontext.  :knuddel:

So wie du es beschreibst, stelle ich mir halt die Frage, ob da nicht eben dieser Punkt reinkommt, dass auch trans Personen ihre Erfahrungen und Sichtweisen abgesprochen werden, weil andere diese Darstellung nicht gelungen finden. Wenn aber der Partner der Autorin sich dadurch korrekt repräsentiert gefühlt hat, dann kann natürlich jemand anders sagen: "ich möchte sowas nicht lesen" oder "ich finde diese Darstellung dennoch schädlich", aber dann muss man vielleicht akzeptieren, dass es auch innerhalb der Community verschiedene Meinungen gibt und dass man der Autorin dafür nicht unbedingt einen wertenden Vorwurf machen kann, oder sagen, dass dieses Buch besser nicht hätte veröffentlicht werden sollen, weil es einem anderen Buch den Platz wegnimmt. Oder habe ich da jetzt einen Knoten im Hirn? Auf jeden Fall ist gerade dieses Beispiel für mich ein noch stärkeres Argument, solche Themen als nicht betroffener Autor nicht zu verarbeiten.

ZitatKlar ist es ein Argument, dass sie mit einem trans Mann verlobt ist, allerdings hatte er sein Coming Out wohl erst, nachdem das Buch schon geschrieben worden war.

Das ist auch ein ganz schwieriger Punkt in der Diskussion. Niemand sollte sich outen müssen, um seinem Werk mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen oder sich vor einem Shitstorm zu schützen. Aktuell geht die Entwicklung aber ein bisschen dahin, befürchte ich.




Alhambrana

Tasha

#22
Ich persönlich handhabe es in meinen Texten so, dass ich mich um Diversität bemühe, da ich wie Maja finde, dass es absolut normalisiert werden sollte, dass alle Arten von Charakteren in Geschichten vorkommen.
Das Beschreiben bestimmter Aspekte, wie bspw. ein outing, eine Geschlechtsangleichung (nicht, dass das passiert, sondern wie es sich genau anfühlt) oder die Erfahrung einer Migration würde ich own voice Autor*innen überlassen.

Gewisse Erfahrungen habe ich selbst und über diese würde ich auch jederzeit so schreiben,  wie ich es erlebe/ erlebt habe. Mit Kritik würde ich dann umgehen und sie annehmen.
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Mondfräulein

Ja, da sprichst du wichtige Punkte an, Alana. Wahrscheinlich war das Buch nicht das beste Beispiel für das, was ich meine, auf der anderen Seite ist der Fall aber so komplex, dass hier sehr interessante Beiträge zusammenkommen. Auf der anderen Seite war es ja auch ein Problem, dass Kritiker sich ebenso outen müssten, damit ihre Kritik ernstgenommen wird. Generell werden am Buch aber Sachen kritisiert, von denen nicht nur einmal eine trans Person gesagt hat, dass sie das nicht gut findet, sondern eben Dinge, die sehr häufig kritisiert werden und von denen sehr oft schon gesagt wurde, dass trans Personen sie nicht lesen möchten.

Wichtig finde ich eben auch, dass man nicht immer einfach einen Freund oder Bekannten vorschieben kann, der das Buch gelesen hat und zur Gruppe gehört und der fand das aber gut, deshalb darf ich das. Das ist ja häufig ein Argument, zum Beispiel auch wenn es um Alltagsrassismus geht ("Mein Kumpel hat da kein Problem mit!"). Das ist nicht fair diesen Freunden und Bekannten gegenüber, letztendlich steht aber auch der Name der Autorin auf dem Buch und sie ist dafür verantwortlich, wie sie das Buch geschrieben hat. Wenn sie es mit ihrem Verlobten zusammen geschrieben hätte, müssten beide Namen auf dem Cover stehen.

Wen ich aber eigentlich viel lieber in die Verantwortung nehmen würde ist der Verlag. Die Autorin ist selbst queer und hat eine Reihe Bücher über queere Liebe geschrieben, ohne je irgendeine schlechte Intention zu haben. Sie wollte nur etwas gutes tun. Dass ihr das mit diesem Buch nicht so gut gelungen ist, ist die eine Sache, aber Menschen machen Fehler. Aber wo ist der Verlag in dieser Sache? Ist es nicht auch Aufgabe des Verlags und der Lektoren, auf so etwas zu achten? Sollte ich mir nicht die nötige Expertise aneignen oder ins Haus holen, wenn ich Bücher mit queeren Geschichten verlege? Darf sich der Verlag hier darauf verlassen, dass die Autorin schon weiß, was sie tut? Unterstützt der Verlag die Autorin gerade während dieses Shitstorms? Klar, die Autorin hat das Buch geschrieben, aber ehrlich gesagt habe ich in meinem Leben auch schon viel Müll geschrieben, da waren auch problematische Dinge dabei. Wir machen alle Fehler. Aber die Verantwortung der Verlage wird in solchen Fällen häufig nicht genug diskutiert finde ich. Als einzelner Autor ist man schnell gebrandmarkt, aber Verlage kommen mit erstaunlich viel davon (siehe Dylan Farrow).

Mindi

@Malinche @Fianna
Danke für die Erklärung. Das macht es für mich klarer, das Buch bzw. den Fall in dem Kontext einzuordnen.

@Mondfräulein
Danke auch dir. Ich wollte auch nicht andeuten, dass nur auf dem Buch herumgehackt wird, sondern vor allem verstehen, was in diesem Fall "falsch" war. Immerhin schien mir die Autorin zumindest gewisse Eigenerfahrung zu haben.

Generell glaube ich aber, dass Bücher, die sich verkaufen, auch dazu beitragen, dass Own Voice Autoren eine Chance bekommen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Die dann vielleicht sogar besser und authentischer sind. Ich denke nicht, dass diese Plätze "weggenommen" werden, sofern für die Geschichten ein Markt besteht.
Und wenn ich das Cover von Not Your Type sehe, sieht es von außen auch aus wie "Lass uns nochmal sowas machen, wie Someone New von Kneidl". Sie haben also erneut einem Buch eine Chance gegeben, dass ein ähnliches Thema aufgreift. Ja, diese Art Cover gerade auch "in" aber es bedient sich auch eines passenden Titels, Farben. Da würde ich schon Parallelen sehen.

Was ich damit sagen will: Wenn ein Thema sich verkauft - und sei es zuerst durch eine AutorIn, die nicht Own Voice ist, werden die Verlage auch gewillt sein, mehr Bücher dieser Themen aufzunehmen. Und wenn dann zwei handwerklich gleichwertige Bücher auf dem Tisch liegen - eines von jemanden und eines von jemanden mit Own Voice Erfahrung, mag ich wetten, dass Own Voice der Vorzug gegeben würde.

@Mondfräulein
Ich würde den Verlagen unterstellen, dass sie vor allem verkaufen wollen. Und verkauft wird an die breite Masse und die ist mit dem Thema auch nicht unbedingt firm. Die breite Masse, die das Buch kaufen soll, sind auch keine Transpersonen oder kennen vermutlich nicht einmal solche Personen. Und da sind solche Bücher, die Klischees bedienen, vielleicht gerade noch das, was die breite Masse erwartet. Ich möchte das keineswegs schönreden - ich denke nur, dass da ein Funken Wahrheit drin steckt.
"When we are asleep in this world, we are awake in another." - Salvador Dalí

Maja

Ohne das Buch gelesen zu haben: Mobbing und negative Erfahrungen gehören zur Lebenswelt von Trans*menschen, Deadnaming ebenso. Und auch Probleme, sich selbst zu akzeptieren. Das sind keine unrealistischen Darstellungen. Und Deadnaming ist etwas, das für die Betroffenen schlimm sein kann - aber hier ist es eine fiktive Person, die betroffen ist. Und es gibt auch Trans*menschen, die ihren Namen nicht ändern oder nur minimal abändern, um klar zu machen, dass sie nicht jemand anders werden wollen, sondern vielmehr sie selbst sein.

Da gibt es eine große Bandbreite an Erfahrungen und unterschiedlicher Selbstwahrnehmung. Manche haben starke Gender Dysphoria, andere nicht. Manche werden von allen akzeptiert, andere von ihren Familien verstoßen. Die eigene Lebenswelt kann anders sein als die der fiktiven Person - das macht deren Darstellung nicht automatisch wertlos oder falsch.

Ich habe ein Buch geschrieben, in dem ein Junge, der trans ist, große Probleme mit seinem Körper hat und ein Alkoholproblem entwickelt, weil Alkohol ihm hilft, seinen Körper zu akzeptieren oder ignorieren. Das habe ich mir nicht ausgedacht, gerade junge Trans*menschen mit familiären Problrmen sind überdurchschnittlich suchtanfällig. Er wird nicht gemobbt und von seinen Freunden akzeptiert, aber seine Eltern haben den Kontakt abgebrochen, weil sie nicht damit klarkommen - auch das eine realistische Situation. Ich denke nicht, dass es bei der fiktiven Darstellung von Randgruppen darum gehen sollte, alle negativen Aspekte oder Erfahrungen auszuklammern.

Was man nicht tun darf, ist, eine Figur auf ihre Randgrupenness zu reduzieren und alle ihre Probleme nur daran festzumachen. Auch wenn man trans ist, ist man das nicht im Hauptberuf. Bei meinem Esh liegt der überwiegende Teil seiner Probleme in einer Entscheidung, die er in völlig anderem Zusammenhang gerroffen hat, begründet, und dass er seinen Freunden nicht die Wahrheit sagt über das, was er getan hat - er hat einen Story Arch, der völlig unabhängig von seiner sexuellen Identität funktioniert, und ich denke, das ist ein ganz wichtiger Aspekt.

Ich möchte nicht, auch wenn ich selbst trans bin, für das Buch die Own Voice-Karte ziehen, weil Eshs Situation und Selbstwahrnehmung so völlig anders  ist als meine und weniger auf eigenen Erfahrungen beruht als dem von Freunden, auch die waren nicht eins-zu-eins Esh. Es gibt ja nicht das eine Abziehbild, wie eine Figur, die trans ist, zu sein hat, es ist wichtig, dass auch diese Charaktere in erster Linie Individuen sind. Individuen darstellen, das kann man auch ohne Own Voice. Man muss nur zuhören können, und verstehen, und sich hineinversetzen.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

FeeamPC

Ich glaube nicht, dass das Problem bei den Autoren oder Verlagen zu sichen ist. Das Problem ist wohl eher, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der das Sprechen über Probleme einzelner Menschen oder Menschengruppe tatsächlich als zu viel empfunden wird. Und zwar so viel als zu viel, dass es andere Betroffene am Veröffentlichen hindern können soll, wenn ich als nicht Betroffene ein Buch darüber schreibe.
Wie viele Schneewittchen-Versionen gibt es weltweit und in allen Kulturen? Niemand kommt auf die Idee, sie als zu viel zu empfinden. Aber bei POC-Themen oder LGBT-Themen soll das der Fall sein?
Da stimmt einfach etwas in unseren Köpfen nicht.
Das ist ungefähr so, als wenn eine Gärtnerei die 1001-Rose züchtet, aber das Züchten einer dritten Lavendel-Variante ablehnt, weil die Kunden denken könnten, es gäbe bei bereits zwei Lavendel-Sorten mehr als genug davon.

Die Frage ist also, warum fast alle Themen, die mit Menschen zu tun haben, zehntausendmal wiedergekaut werden dürfen, nur ein paar Themen nicht. Egal, von wem.

Malinche

Ich glaube, es ist insgesamt einfach extrem komplex, und ich fühle mich auch eigentlich nicht tief genug im Thema drin, um viel beizusteuern. Was mir aber noch einfiel als zusätzlicher Punkt (ich hoffe, das wird jetzt nicht zu OT): Um problematische Tropes und Erzählstrukturen erkennen zu können, braucht es auch Übung, Sensibilisierung und letztendlich Kontextwissen (also z.B.: Was sind häufige Tropes und in welchen Debatten und Diskursen sind die womöglich schon eingesetzt worden? Woher kommen manche Muster historisch?).

Nicht jede:r geht mit diesem Blick (und z.T. Wissen) an Geschichten heran, egal worum es geht. Insofern ist es auch absolut realistisch und legitim, dass nicht alle Angehörigen bestimmter marginalisierter Gruppen mit diesem Blick Inhalte konsumieren und darauf aufbauend Kritik formulieren - das ist ja auch gesamtgesellschaftlich unterschiedlich.

Es gibt natürlich auch Tropes und problematishe Darstellungen, die so offensichtlich sind, dass sie beim Konsum fast automatisch Unbehagen auslösen, aber vieles ist eben auch subtil und nicht jede:r hat den Blick für entsprechende Strukturen. (Ich merke das auch bei mir selbst, dass es ein Lernprozess ist, was ich früher womöglich unkritisch hingenommen habe, aber heute so nicht mehr reproduzieren oder auch nur konsumieren möchte, weil ich mittlerweile dafür sensibilisiert bin.)

Wenn innerhalb einer bestimmten Gruppe Person A sich von einem Inhalt gut repräsentiert fühlt und Person B eben nicht, weil sie darin problematische Strukturen erkennt, heißt das Benennen dieser Strukturen m.E. nicht zwangsläufig, dass Person A dadurch ihre Erfahrungen abgesprochen werden. (Dass es solche Debatten leider auch geben kann, ist eine andere Sache.)

Es heißt erst einmal vor allem, dass beide Personen mit einem unterschiedlichen Blick und einem unterschiedlichen Bewusstsein für Tropes und Erzählstrukturen an den gleichen Inhalt herangegangen sind - Person A betrachtet diese Ebene vielleicht einfach nicht, weil sie nie den entsprechenden Blick dafür entwickelt hat.

Dadurch ist die Einschätzung von Person A nicht weniger valide und wird auch nicht dadurch entwertet, dass man auf die entsprechende Ebene hinweist - aber dass Person A sie nicht wahrgenommen hat, bedeutet im Umkehrschluss eben auch nicht, dass es die Ebene nicht gibt oder sie komplett zu vernachlässigen ist. Das hat m.E. auch weniger mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu tun, sondern damit, wie wir Inhalte konsumieren, reflektieren und einordnen. Dafür hat nicht jede:r den gleichen Blick und das gleiche Handwerkszeug (und will es vielleicht auch nicht und das ist okay).

Und das beinhaltet erstmal noch keine Wertung und auch noch keine pauschale Lösung dafür, wie man mit diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen umgeht oder wie man diese einordnet. Es ist meiner Meinung nach einfach nur etwas, was man mit im Hinterkopf behalten sollte, gerade wenn es um Debatten innerhalb einer Community geht.

Auf der anderen Seite spielt da mit rein, was @Mondfräulein angesprochen hat: Ein Verlagsbuch durchläuft ein Lektorat, und im Lektorat gehört genau dieser kritische Blick für die strukturelle Ebene dazu. Das ist Teil des Jobs.
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

FeeamPC

#28
Das mit dem kritischen Blick stimmt, ist aber notwendigerweise begrenzt durch unser eigenes Wissen. Ich entsinne mich, dass ich bei einem meiner Märchen in den Anthologien den Autor (mit muslimischen Kulturhintergrund) erklären durfte, weshalb eine Szene in seinem historisch arabischen Setting einfach nicht funktionieren konnte und durfte. Dafür hatte ich genug Wissen. Aber bei den gleichen Buch hat mir dann eine muslimische Standnachbarin erklärt, wie problematisch ein Koran-Zitat in dem Buch sei. Weil der Koran, auch in kleinsten Stücken, Gottes Wort ist, und es könnte ja sein, dass jemand das Buch gering schätzt und einfach mal auf den Boden legt, obwohl Gottes Wort darin ist, und das war für sie völlig inakzeptabel.
Dafür hatte ich nicht genug Wissen.
Will heißen, selbst mit den besten Vorsätzen und Voraussetzungen kann man trotzdem in Fettnäpfchen treten, auch als Verlag. Aber niemand unter uns weiß einfach alles. Soll ich als Konsequenz nun lieber keine Bücher mehr veröffentlichen, die Probleme haben könnten, oder soll ich eine gewisse Fehlerbereitschaft zeigen?

Alana

#29
@Malinche Ich stimme dir grundsätzlich zu, aber ich sehe eben gerade ein Problem damit, dass ich solche drunterliegenden Strukturen und ihre Problematik auch oft als subtil empfinde, und ich auch nicht urteilen möchte, dass Person B recht hat mit ihrer Einordnung einer Erzählstruktur als problematisch. Wir gehen halt heute oft davon aus, dass eine solche Struktur, hat man sie mal entdeckt, allgemeingültig problematisch ist. Und genau darum geht es mir. Ich denke, dass sowas häufig auch subjektiv sein kann und ich als Nicht-Betroffener eben nicht unbedingt beurteilen kann, was richtig ist und was nicht, und auch Menschen aus der Community nicht unbedingt, weil vieles eben einfach Ansichtssache ist. Ich empfinde die Annahme als problematisch, dass jemand mehr auf Strukturen achtet, dadurch automatisch recht hat und dadurch eben doch zugrunde liegt, dass Person A nicht gut genug war, um diese Struktur zu erkennen. Ich denke, so einfach ist es nicht, das sieht man auch an Majas Beitrag.
Alhambrana