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Corona und Fantasy

Begonnen von AlpakaAlex, 31. Juli 2020, 18:51:16

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AlpakaAlex

Ich sitze aktuell vor einer Frage für mein neues Projekt (nachdem ich bei meinem anderen einfach nicht voran komme). Es ist Urban Fantasy. Ich habe nicht genau festgelegt, wann es spielt, aber eigentlich sollte es "relativ jetzt" spielen. Was natürlich bei Urban Fantasy aktuell eine recht wichtige Frage mit sich bringt: Gibt es in meiner Geschichte den Corona-Virus mit all seinen Folgen? Müssen meine Charaktere Masken tragen, wenn sie rausgehen?

Meine aktuelle Neigung geht dahin, dass ich tatsächlich Corona als etwas einbaue, dass gerade passiert. Zwar nicht im Vordergrund, aber eben als eine Sache, die gerade passiert.

Gleichzeitig frage ich mich auch, wie sich das in der Urban Fantasy allgemein entwickeln wird. Wird man so tun, als gäbe es Corona nicht? Immerhin sind viele Geschichten nicht genau datiert. Auf der anderen Seite fand ich es damals in den Sookie Stackhouse Büchern richtig gut, dass Hurricane Katherina nicht nur vorkam, sondern auch eine zentrale Rolle für den Plot der späteren Bände spielte. Und letzten Endes ist das hier eine vergleichbare Situation - nur dass das hier global ist.

Allerdings habe ich auch schon Stimmen gehört, die sagen: "Na ja, man liest halt Fantasy um genau diesem Scheiß zu entkommen." Und das verstehe ich auch total. Fantasy ist Eskapismus. Und wenn einem diese Pandemie schon im echten Leben auf die Laune schlägt, will man eventuell nicht in der Fiktion damit konfrontiert werden.

Ein Gegenargument, das ich auch gehört habe, war: "Na ja, aber bald ist die Pandemie vorbei und dann wirkt das komisch." Was ... auch ein Argument ist, wenngleich diese Personen deutlich optimistischer sind als ich.

Wie denkt ihr: Würdet ihr Corona bei Urban Fantasy einbauen?

Oder auch allgemeiner gefragt: Seid ihr in Anbetracht der Umstände vielleicht eher geneigt, über Pandemien oder dergleichen auch in fantastischen Welten zu schreiben?

 

FeeamPC

Über einen Hurricane kann man schreiben, weil man da weiß, wie er ausgagangen ist. Über eine Seuche? Wenn man das Ende nicht kennt und es anders ist als im Buch ist das Buch relativ schnell für die Leser veraltet oder unglaubwürdig. Gebe ich nur zu bedenken...

Elona

Nimmst du Corona in der jetzigen Situation an, wird man dein Buch immer diesen Zeitraum zuordnen können. Also 2020. Du kannst deine Geschichte aber auch genauso in 2019 spielen lassen und hättest kein Corona.

In meinem ersten Fatum Corporation Band 1 (Gefährder) hatte ich Anfang 2019 vom Prinzip her das Thema gehabt. Da war Corona in weiter Ferne, ändert aber nichts an der Grundlage für ein solches Problem, die nun einmal existiert. Es gab da auch noch ein ganz bekanntes Buch (vergessen wie es heißt, da nie gelesen), da ging es auch darum. Ironischerweise hatte der Autor den Namen der chinesischen (?) Stadt genommen, in der es in seiner Geschichte entstanden ist.

Dem jetzigen Stand vorweg greifen würde ich persönlich nicht. Wobei man selbst das machen könnte, wenn es dafür einen Grund gibt.

Am Ende ist es eine Frage, was du möchtest.

Märchen

Hmm, knifflige Frage... das, was du selbst, @NelaNequin und auch die anderen schon aufgegriffen haben, stimmt natürlich. Es kommt darauf an, ob du dein Buch immer mit Corona (ob du "deine" Pandemie jetzt so nennst oder nicht) in Verbindung gebracht sehen willst. Und Fiktion wird von vielen, einschließlich mir selbst, zur Alltagsflucht genutzt.
Andererseits ist es immer noch deine Geschichte, mit der du machen kannst und sollst, was du am besten findest. Gerade Urban Fantasy spielt halt in unserer Welt, und wenn so eine Pandemie hier passieren kann, dann auch in deinem Buch. Kommt auch drauf an, was du daraus machst. Solange immer noch der Plot im Fokus steht und die Pandemie vielleicht sogar ein zu überwindendes Hindernis für deine Charaktere darstellt, größtenteils aber nur im Hintergrund passiert könnte das durchaus machbar sein. Ich persönlich würde aber davon absehen, der Realität in dem Punkt vorzugreifen, weil wir -im Gegensatz zum Hurricane oder dem Tsunami- ja eben noch nicht wissen, wie es am Ende ausgeht.
Wenn du die Pandemie aber nur einbauen willst, weil es "jetzt" spielen soll, finde ich auch, dass du dann vielleicht eher eine Zeit (kurz) vor Corona nehmen solltest; so lange her wie sich das anfühlt ist es ja nicht.
"Doors are very powerful things. Things are different on either side of them." (Diana Wynne Jones, Howl's Moving Castle)

Romy

#4
Über diese Dinge habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, Nela, wobei ich allgemein über alle (Unterhaltungs-)Medien und Genres nachgedacht habe, das betrifft ja nicht nur die Fantasy. Ich denke, Corona wird zukünftig noch in Romanen, Filmen und TV-Serien aller Genres irgendwie verarbeitet und wird dort in vielen Fällen einfach nur Hintergrund sein, um ganz andere Geschichten zu erzählen, ob nun Fantasy oder realistische Geschichten. Ich kann mir z.B. vorstellen, dass Serien der Coronazeit eine Staffel (oder mehrere) widmen, je nachdem wie lange es noch dauert.
Wie all das in der Realität ausgeht und was die Unterhaltungsmedien/Literatur etc. dann wirklich darauß machen, werden wir alles noch sehen, aber wir als Menschen und Autor*innen sind ja auch ein Teil davon und haben somit auch ein klein wenig Einfluss darauf. ;)
Viele Experten meinen ja auch, dass uns die Pandemie noch viele Jahre beschäftigen wird, selbst nachdem ein Impfstoff gefunden wurde und ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, dass Autor*innen, Film- und Serienmacher*innen diese Zeit einfach so ignorieren werden, nicht einmal falls sie wirklich demnächst vorbei ist, wonach es realistisch betrachtet momentan wirklich nicht aussieht. Aber grundsätzlich kann man jede Art von Geschichte in jedem Genre erzählen, während die Figuren Masken tragen, Abstand halten etc. Ich fände es sogar unrealistisch all das zu ignorieren.
Gut, wenn man erzählen will, wie die Figuren irgendwelche Großveranstaltungen besuchen, dann ist auch für die Leser*innen sofort klar, dass es nicht in der Coronazeit spielt, sondern wohl eher davor, selbst wenn man es nicht genau datiert.

Welche Zeitspanne umfasst denn die erzählte Handlung Deines Romanes? Wenn es nur einige Tage oder Wochen sind, wüsste ich nicht, warum er nicht im Frühjahr oder Sommer 2020 spielen sollte, da wir ja bereits wissen, wie diese Zeit verlief. Aber die Handlung könnte auch im Herbst oder Winter spielen, die uns in diesem Moment zwar noch bevorstehen, aber immerhin wirst Du ja auch eine Weile zum Schreiben brauchen und wenn in der Realität ganz unvorhergesehene Dinge passieren, die unbedingt erwähnt werden müssen, kann man das später noch einarbeiten. Zu viel Arbeit sollte es ja nicht werden, wenn Corona sowieso nur Hintergrund darstellen soll. :)

Churke

Zitat von: NelaNequin am 31. Juli 2020, 18:51:16
Ich habe nicht genau festgelegt, wann es spielt, aber eigentlich sollte es "relativ jetzt" spielen.

Wenn du fertig bist, einen Verlag gefunden hast und die Sache in Druck geht, ist "relativ jetzt" vorbei. Das ergibt nur Sinn, wenn die Geschichte konkret im Jahr 2020 spielt und "echt" sein soll.

Zitat von: NelaNequin am 31. Juli 2020, 18:51:16
Wie denkt ihr: Würdet ihr Corona bei Urban Fantasy einbauen?
Ganz klar nein. Für eine Fantasy-Geschichte ist das Virus viel zu harmlos. 99 % der Beeinträchtigungen beruhen auf öffentlichen Panikreaktionen. Das ist soziologisch und ökonomisch interessant, aber wir reden hier von Fantasy.

Zitat von: NelaNequin am 31. Juli 2020, 18:51:16
Oder auch allgemeiner gefragt: Seid ihr in Anbetracht der Umstände vielleicht eher geneigt, über Pandemien oder dergleichen auch in fantastischen Welten zu schreiben?
Absolut. Man sieht ja auch, dass seit Corona die Dokus über vergangene Seuchen boomen. Seien wir ehrlich: Wir erleben gerade eine Realität, die wir uns vor einem Jahr nicht vorstellen konnten. So etwas regt die Phantasie an. Aber Corona ist für eine "Outbreak" zu lasch, da muss man schon eine paar Schippen drauf legen.

Tintenteufel

Bin da so ziemlich bei @Churke. Historische Seuchen sind, zum Glück, noch deutlich abgefahrener und tödlicher. Für Fantasy erwarte ich da größere Einschnitte, zumal je nach Art und Grad der Phantastik magische Seuchen und Seuchenbekämpfung ja noch abgedrehter sein sollte. Die gesellschaftlichen Auswirkungen sind, wie Churke sagte, bei Corona meiner Meinung nach auch am interessantesten. Um die richtig abzuschätzen muss die Pandemie aber erst einmal vorbei sein. Sonst ist man da vermutlich sehr schnell wieder draußen. Das lohnt sich also nur, wenn der Roman wirklich nicht in einem ominösen Gegenwart spielt, sondern 2020 in unserer Welt mit all dem anderen Kram - also nicht nur Corona, sondern auch Trump, BlackLivesMatter, Krimkrieg, Syrien etc. pp. Sonst ist das alles bisschen dünne.

Zitat von: Churke am 01. August 2020, 00:01:01
Zitat von: NelaNequin am 31. Juli 2020, 18:51:16
Oder auch allgemeiner gefragt: Seid ihr in Anbetracht der Umstände vielleicht eher geneigt, über Pandemien oder dergleichen auch in fantastischen Welten zu schreiben?
Absolut. Man sieht ja auch, dass seit Corona die Dokus über vergangene Seuchen boomen. Seien wir ehrlich: Wir erleben gerade eine Realität, die wir uns vor einem Jahr nicht vorstellen konnten. So etwas regt die Phantasie an. Aber Corona ist für eine "Outbreak" zu lasch, da muss man schon eine paar Schippen drauf legen.
Den Teil sehe ich allerdings etwas anders. In meinem aktuellen Projekt spielt eine Seuche eine Rolle, insofern sie vor Beginn der Handlung die Stadt zerlegt hat und die Handlung sich eben um den Wiederaufbau einer Polis nach einer schweren Krise dreht - allerdings wird mir wegen Corona jetzt niemand glauben, dass mir die Grundidee letzten Herbst eingefallen ist. Ich finde Corona aber immerhin als Material ganz interessant. Wir sehen jetzt live eine Entwicklung, die für die meisten zumindest schwer vorstellbar war und die viele Mechanismen an Seuchenbekämpfung reaktiviert, die wir noch nie in Aktion gesehen haben. Das finde ich zumindest spannend, um darauf dann meine Recherche aufzubauen und von dort aus weiterzudenken.

ZitatÜber diese Dinge habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, Nela, wobei ich allgemein über alle (Unterhaltungs-)Medien und Genres nachgedacht habe, das betrifft ja nicht nur die Fantasy. Ich denke, Corona wird zukünftig noch in Romanen, Filmen und TV-Serien aller Genres irgendwie verarbeitet und wird dort in vielen Fällen einfach nur Hintergrund sein, um ganz andere Geschichten zu erzählen, ob nun Fantasy oder realistische Geschichten. Ich kann mir z.B. vorstellen, dass Serien der Coronazeit eine Staffel (oder mehrere) widmen, je nachdem wie lange es noch dauert.
Das denke ich tatsächlich gar nicht so. Ich meine einige "topical" Sendungen werden das sicherlich machen, vor allem amerikanische Sendungen. Aber ich bin mir unsicher, wie der gesellschaftliche Einschlag wirklich aussehen wird. Einfach, weil er noch nicht vorbei ist. In den härter betroffenen Ländern z.B. kocht - durch Corona als Katalysator - ja auch noch einiges anderes über derzeit. Und ich glaube zumindest in den USA kommt die Endzeitstimmung durch die Kombination von alledem auf. Ich bin mir nichtmal sicher, ob sich das reguläre Maskentragen im Winter in Deutschland durchsetzen würde, geschweige denn dass Corona selbst so eine große Rolle in irgendwelchen Sendungen spielen würde. Einfach weil Deutschland die Sache im internationalen Vergleich extrem gut im Griff hat bislang. Das ist natürlich Spekulation von meiner Seite aus, aber ich denke das sieht man wirklich erst, wenn die Pandemie offiziell vorbei ist und man das Ende absehen kann. Das hatten FeeAmPc und Elona ja auch schon angedeutet.

Zu deiner Frage, Nela:
Ich finde Corona als "Marker" durchaus sinnvoll. Gerade, wenn man den Handlungszeitraum einigermaßen eingrenzen, aber auch nicht einfach eine Jahreszahl nennen möchte. Allerdings neige ich dazu, solche Dinge immer sehr subtil im Hintergrund einzubauen. Einige meiner Geschichten lassen sich durch Nebensätze datieren, in denen auf die erste Körperweltenausstellung in Berlin angespielt wird, oder in denen bestimmte Gebäude noch nicht stehen. Dann wiederum habe ich aber auch das Stadtbild generell verändert und es gibt noch mehr alte Gebäude und mehr Rückbauten als im tatsächlichen Berlin - das ist dann eine Frage des Geschmacks.

Für mich ist es aber irrelevant. Meine Urban Fantasy Sachen handeln zwar oft von Medizinern und Krankenhäusern, aber die stecken alle auf die ein oder andere Weise in Blutmagie fest. Und die Geschichten sind ja wie gesagt sehr schwammig datiert. Für mehr oder minder unsterbliche Kannibalen/Vampire, die ohnehin nie krank werden, nicht atmen und Zeit in eher großen Sprüngen wahrnehmen ist eine bis zum Zeitpunkt dieses Postings gerade fünf Monate dauernde Pandemie... Ein Nickerchen.
Mein historisches Projekt ("Südlich des Südpols") ist dagegen eindeutig um den 30 Jährigen Krieg herum angesiedelt und nimmt sich ohnehin einige Freiheiten heraus. Da ist es für mich nur spannend, die Maßnahmen und Reaktionen und die historischen Parallelen jetzt aufgearbeitet zu bekommen - die kann ich dann nämlich auch dafür verwenden.

FeeamPC

#7
Für eine heute spielende Geschichte braucht man nur die Realität z.B. in den USA zu beschreiben. Klingt wie Fantasy. Pandemie, Katastrophenstimmung, ungekennzeic hnete Truppen auf den Straßen, die scheinbar willkürlich Leute verhaften, Witch Doctors, alien DNA, Schwangerwerden durch Geister ...  Und über allen ein evil bad man, der nur auf Profit und Selbstbestätigung aus ist (... warum lieben die Doktor Fauci und nicht mich?...). Klingt sehr nach einer dystopischen Horror-Geschichte, und man braucht noch nicht einmal etwas zu erfinden.

Berjosa

Diese Frage beschäftigt mich auch gerade.

Meine Geschichte soll eben keine Dystopie werden, sondern eher ein Wohfühl-Buch. Ich habe eine Plotvariante mit Corona und eine ohne, rein technisch geht beides.
Zur Zeit neige ich dazu, ein paarmal deutlich "2019" an den Rand zu schreiben und die zweite Variante zu verwenden. Corona nur mal kurz zu erwähnen oder für jedes seuchenbedingte Problem eine Ausrede aus dem Hut zu zaubern, erscheint mir nicht angemessen.

Nikki

Ich denke, du musst für dich klären, ob du dein/e Werk/e dem "Corona-Genre" zuordnen willst oder nicht. Nach der Dreifachkatastrophe in Fukushima 2011 gab es "Fukushima-Romane" zuhauf, genauso wie es auch "Nicht-Fukushima-Romane" gab. Fukushima wie Corona sind Teil unserer Gesellschaften, genauso wie Millionen von anderen Dingen. Nicht allen kann und sollte man Rechnung tragen.

Romane bieten Interpretationsmöglichkeiten für die Wirklichkeit, indem sie diese abstrahieren. Autor*innen entscheiden, wo sie den Rotstift ansetzen und wo nicht. Wenn du bspw. einen Vampirroman schreiben möchtest, ist dann Covid-19 in deinem Universum relevant für blutsaugende Geschöpfe? Wenn nein, dann weg damit. Wenn ja, dann bau es in deine Handlung ein. Ich würde es allerdings nicht als Randnotiz einbauen, à la "Vladimier beugte sich über sein Opfer. Er hielt in der Bewegung inne, als er sich fragte, ob er sich durch zwei Schlückchen mit Corona infizieren könnte." Das wirkt billig und wie Effekthascherei.

Ich für meinen Teil möchte, dass meine aktuelle Romanserie im beginnenden 21. Jahrhundert verortet wird, weil das meiner Lebenswelt und der des Großteils meiner protentiellen Leser*innen entspricht. Dabei versuche ich auf Trenderscheinungen wie Iphones, SMS etc. zu verzichten und halte mich allgemein, indem ich von Smartphones und Nachrichten schreibe. Sie könnte genauso gut 2010 wie 2030 spielen, für die Geschichte würde es keinen Unterschied machen. Mit der Verortung mit Wien als Schauplatz bin ich zwar spezifisch, doch zeitlich möchte ich nicht zu konkret werden, sodass die Romane auch nach ein paar Jahren noch immer lesbar sind.

Wenn ich explizit einen Roman über Pandemien schreiben wollen würde (was nicht der Fall ist, da ich Schreiben und Lesen als Eskapismus sehe und keine literarisierte Form von Zeitungsartikeln oder Verschwörungstheorien produzieren wie rezipieren will), dann würde ich mir die Frage stellen, ob ich die Reaktion und Handhabung von Covid-19 als Vorbild hernehme. Aber das fällt dann unter die gängige Recherche zum Thema.

Eluin

Ich sag es mal so: Ich habe letzten September ein Buch ("Myalig - gestohlene Leben", Märchenspinnerei + Shortlist Seraph - das als Rahmenbedingungen) veröffentlicht, in dem eine Seuche die zentrale Rolle spielt. Vor Corona war es einfach nur "interessantes Setting". Seit Corona, gerade als es darum ging, dass Zeitungen über die Seraph-Nominierung hier in der Region informiert wurden, wurde dann ständig Corona in den Artikeln erwähnt und spielte beinahe die Hauptrolle. DAS fand ich extrem nervig, vor allem weil die Seuche nichts mit Corona zu tun hat, sondern eigentlich die Aufmerksamkeit auf eine ganz andere, reale Krankheit gelenkt werden sollte  ::)

Ich denke, es ist wirklich die Frage, wie real du sein möchtest in der Urban Fantasy, wie sehr du es im Jetzt verorten möchtest oder ein paar Jahre zurück oder nach vorne gehst. Und welche Assoziationen du da im Leser wecken willst. Egal wie du die Seuche nennst, am Ende wird womöglich die Assoziation mit Corona da stehen, auch wenn du das gar nicht willst.
Träume verändern die Zukunft. Doch erst wenn wir die Augen öffnen, können wir sie verwirklichen!
Mein Spruch, mein Motto.

Elona

Ich glaube wir reden mittlerweile von zwei verschiedenen Dingen: Setting und Thema.

Grundsätzlich an alle die sagen, sie würden es außenvorlassen:
Wenn es hier in Europa jetzt beispielsweise einen Krieg gegeben hätte, würdet ihr ihn auch nicht erwähnen? So gar nicht?
Und hätte die Notre Dame bei euch gebrannt oder nicht, wenn sie in eurer Geschichte vorgekommen würde?

;)

Worauf ich hinaus will: Corona ist ein einschneidendes Erlebnis, von dem wirklich alle Menschen weltweit betroffen waren und sind. Deshalb ist diese Aussage in meinen Augen nicht korrekt:
ZitatSie könnte genauso gut 2010 wie 2030 spielen, für die Geschichte würde es keinen Unterschied machen. Mit der Verortung mit Wien als Schauplatz bin ich zwar spezifisch, doch zeitlich möchte ich nicht zu konkret werden, sodass die Romane auch nach ein paar Jahren noch immer lesbar sind.
2010 hat es niemanden gekümmert, ob man einen Mundschutz getragen hat, oder nicht. 2020 hingegen schon. Und 2030 ... wer weiß schon, was dann ist. Es könnte z.B. genauso gut sein, dass dann Mundschutz nicht mehr wegzudenken ist und verschärftere Hygeniemaßnahmen gelten. Und in dem Fall stimmen Beschreibungen vom Setting nicht mehr mit der Realität überein. Mal davon abgesehen, dass man dahingehend nie eine Sicherheit hat und die Geschichte spätestens mit einem anderen geschichtlichen Ereignis nicht mehr passt. Von daher kann und sollte man auch den Mut haben, es korrekt anzugehen und festzulegen, wenn man eben (leider) genau in einer solchen Zeit landet oder man legt aus Gründen eine andere Realität an. Gründe sollte dann aber auch da sein.

Die Frage ist ja nicht nur, ob Corona mein Romanthema ist, sondern behandel ich es, weil es einfach ein geschichtlich einschneidendes Erlebnis in der Menschheitsgeschichte war/ist (und sorry, dass ist es). Und dann bin ich ganz bei @FeeamPC , wenn sie sagt, es klingt veraltet bzw. was ich viel schlimmer finde: unglaubwürdig. Denn jeder von unseren Zielgruppen ist von diesem Ereignis betroffen. Persönlich. Und deshalb kann man es auch nicht mit einem Trend vergleichen, der durch den nächsten abgelöst wird.

Ich kann meine Aussage auch gerne mit Beispielen untermauern:
- Unser/e Prota ist z.B. Arzt/in - allein deren Vergangenheit wird davon geprägt sein, selbst wenn nach 2020 alles wieder beim Alten sein sollte (was ich ehrlich gesagt bezweifle).
- Ein Baby kam gerade zu der Zeit auf die Welt, wo der Vater nicht einmal im Kreißsaal dabei sein konnte - hat genauso Auswirkungen auf nach 2020.
- Das Unternehmen hat in der Zeit auf Home Office umstellen müssen, dann gemerkt wie toll das klappt und ist dabei geblieben
- Prota hatte Probleme wegen Abi
- Konkurse, Arbeitslosigkeit, Todesfälle und eventuelle gesundheitliche Langzeitfolgen ganz außer Acht gelassen

Das ist in meinen Augen Setting relevant und wird es immer bleiben!   

Mir ist gerade übrigens auch aufgefallen, dass ich zwar nicht mit meinem aktuellen Roman davon betroffen bin, aber mit den Folgebänden. Band 1 landet zeitlich noch fein in 2019, aber spätestens bei Band 3 habe ich nicht nur Corona, sondern auch die Thematik von Black Lives Matter. Das kann ich nicht ignorieren. Genauso wenig einen Präsidenten, der Truppen in seine Städte entsendet (vorausgesetzt "meine" Stadt ist davon betroffen). Das sind einfach geschichtliche Fakten, die ich nicht ignorieren kann. 

Nikki

Setting und Thema sind verschiedene Dinge, ja, aber für beides gilt die Regel der Abstraktion.

Zitat2010 hat es niemanden gekümmert, ob man einen Mundschutz getragen hat, oder nicht. 2020 hingegen schon. Und 2030 ... wer weiß schon, was dann ist.

Der Punkt ist, ich will keinen Roman für 2010, 2020 oder 2030 schreiben, sondern einen, der sowohl 2010, 2020, als auch 2030 "Sinn ergibt", weil er zu jeder der Zeiten spielen könnte. Sobald coronaspezifische Settingmarker eingebaut werden, ist er zeitlich spezifiziert. Sofern Corona nicht mein Thema ist, sehe ich keinen Anlass dazu, es in mein Universum (Urban Fantasy) einzubauen.

Kleine Nebenbemerkung: Meine Handlung startet im November, es liegt schienbeinhoher Schnee in der Stadt. Seit über einem Jahrzehnt hat es in Wien im November nicht mehr geschneit. Schreibe ich den Roman jetzt um, weil die Klimakrise micht ausgestochen hat? Nein, ich verbuche diesen Teil des Settings eben unter dem "Fantasy"-Aspekt. Wer seinen Roman immer aktuell halten möchte, schreibt über kurz oder lang einen Roman, der schnell altert bzw. sich in ein ganz spezifisches Genre ordnen lässt.

Der Vorteil daran, Corona nicht zu erwähnen, ist: Die Leser*innen können in das, was nicht gesagt ist, Coronaspezfisches interpretieren. "XY steigt in den Bus" (in Wien gilt Maskenpflicht in den Öffis) - nichts spricht dagegen, dass sich die Leser*innen vorstellen, die Figur trägt eine Maske.

Der Nachteil daran, Corona zu erwähnen, ist: Corona ist in dem Universum etabliert und damit auch der gesamte Diskurs, der im Gange ist, sodass der Roman von Haus aus in gewissen Szenen eine bestimmte Stimmung hat, die man vielleicht eigentlich ausblenden wollte - sowohl als Leser*in, als auch Autor*in.

Ich frage euch: Schildert ihr den Stuhlgang jeder einzelnen Figur oder überlasst ihr dieses Detail der Fantasie der Leser*innen, die davon ausgehen, dass die Figuren ähnliche Bedürfnisse haben wie sie selbst? Wenn ihr nicht jeden Stuhlgang schildert, wieso aber auf einmal jedes Händewaschen?

Es bleibt die Frage: Möchte ich einen Corona-Roman schreiben, sei es jetzt, weil Corona ein handlungstragendes Element ist, oder weil der Roman explizit zur "Coronazeit" spielt?

Ich kann diese Frage für mich (im Hinblick auf meine Romanserie) mit einem klaren Nein beantworten. Und aus meiner Perspektive als Leserin: Wenn ich einen amerikanischen Roman nach dem 11. September 2001 lese, möchte ich nicht zwangsläufig über das World Trade Center lesen. Wenn ich einen japanischsprachigen Roman nach 2011 lese, möchte ich nicht unbedingt von Fukushima lesen. Genauso wenig möchte ich Romane nach 2020 lesen, in denen Corona obligatorisch, explizit oder implizit, vorkommt.

Yamuri

Ich würde sagen, das ist ein Problem von Urban Fantasy, die den Anspruch erhebt sich möglichst nah an unserer Zeitlinie zu orientieren. Aber muss Urban Fantasy zwingend unsere Realität abbilden? Kann und darf es nicht eine alternative Zeitlinie sein in der verschiedene Ereignisse einfach nie stattgefunden haben?

Es gibt Bücher, die über eine Zukunft schreiben, die eines Tages kommen wird. Diese beinhalten ja auch Themen, von denen die Autor*innen damals einfach noch nicht wussten und die logischerweise daher auch nicht berücksichtigt wurden. Die Bücher wird es womöglich aber dann noch geben und sie werden dann der Realität auf einmal widersprechen.

Wenn bestimmte Ereignisse nicht zum Thema und Setting passen, würde ich sie rauslassen. Denn letztlich erschafft jedes Urban Fantasy Buch in gewisser Weise eine alternative Zeitlinie, nämlich eine in der es Magie gibt. Warum also nicht noch mehr ändern?

Bei Harry Potter z.B. hat es niemanden gestört, dass so getan wurde als würde Esoterik gar nicht existieren und als seien grundsätzlich alle nicht Zauberer so einfältig, dass man mit einem einfachen Obliviate verhindern könnten, dass sie herausfinden, dass Magie eben doch existiert. Das verbuche ich als alternative Zeitlinie, weil es einfach unserer Realität widerspricht.

Daher denke ich mir, man darf Corona, Black lives Matter oder einen Trump durchaus weglassen. Man darf sogar sagen, in der Buchrealität hat Amerika einen anderen Präsidenten. Wird in amerikanischen Serien ja auch öfters gemacht. Ich würde mich da wirklich nicht so stressen. Wenn man über keine Pandemie schreiben möchte, kann man Corona auch rauslassen, möglicherweise sollte man das sogar, weil die Erwähnung einer Pandemie den Fokus der Leser*innen automatisch auf die Pandemie lenken wird, die eigentlich gar nicht Thema ist.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Elona

Sorry, wenn du dich angegriffen gefühlt hast und ist doch fein, wenn du einen Grund hast.  :)

Die Notre Dame kann niemals gebrannt und ein Krieg nie stattgefunden haben. Ist alles möglich. Selbst, dass es Corona nicht gegeben hat. Meine Grundaussage ist folgende und die bleibt: Beim Schreiben sollte man wissen, warum man was macht oder auch nicht. Und man sollte sich vor Augen führen, dass Corona nun einmal geschichtlich relevant ist. Weicht man davon ab, ist das vollkommen okay und es kommt auch immer auf die Geschichte selbst an, weshalb man eigentlich grundsätzlich keine pauschale Aussage treffen kann. Bei einer Story mag es funktionieren, bei einer anderen meckern die Leser*innen (/Lektor*in oder sogar der Verlag, weil es einfach nicht "zeitgemäß" ist). Denn anders als die von dir angeführten Beispiele, hat Corona andere Auswirkungen.

Der Mundschutz mag nicht das beste Beispiel sein und ich finde es schade, dass es durch den Stuhlgang ins lächerliche gezogen wird. Neutral betrachtet schafft beides in einer Geschichte Tiefe. Kann man gerne lesen, muss man aber nicht. Besagten Stuhlgang habe ich schon in einem Buch "beschrieben" gesehen und auch wenn ich es persönlich eigentlich nicht lesen mochte, das war Tiefe. Dessen sollte man sich ebenfalls bewusst sein und dann sind wir beim Setting. Eine andere Aussage habe ich nie getroffen, weil ich mich von vornherein auf Setting und nicht auf Thema bezogen habe. Und wie umfangreich man Details zum Setting anlegt, ist dann ja auch noch mal eine ganz andere Frage.

(Unabhängig davon und OT: Das ein Buch 20-30 Jahre lang aktuell sein wird, bezweifle ich dennoch. 20 Jahre zurück hatten wir 2000, gänzlich andere Zeit als jetzt. 20 Jahre drauf usw. usf. Aber das ist nur meine persönliche Meinung, die mir genauso zusteht wie dir, was du lesen magst oder auch nicht.  ;) )

Edit: Mit Yamuri überschnitten.