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Hütet euch vor Orks oder war Tolkien ein Rassist?

Begonnen von Maria, 10. September 2019, 13:20:56

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Amanita

Um das Ganze mal noch über die Orks hinaus zu erweitern...
Wie steht ihr eigentlich zu feindseligen, die Menschheit vernichten wollenden Aliens in Science Fiction? Bei Geschichten von durch tapfere SeeRaumfahrer erreichten fremden Welten, die "leider" schon bewohnt sind, sind die Paraellen zu realen Entdeckungsreisen ja schon recht deutlich. Einerseits werden feindliche Aliens ja meist so "anders" dargstellt, dass sie nicht mehr als Menschen durchgehen, sondern eher Richtung Insekten etc. andererseits entspricht eine solche Darstellung dann aber in gewisser Weise auch wieder der Einstellung von rassistisch motivierten Eroberern, die in den Ureinwohnern keine Menschen sehen, was dann im Alienfall tatsächlich real ist. Daneben gibt es ja auch noch Aliens als "edle Wilde" wie beispielsweise bei Avatar.
Ich muss  sagen, dass ich da persönlich mehr Parallelen zu realen Geschehnissen sehe als bei den Orks, aber andererseits muss es ja auch irgendwie möglich sein, über Begegnungen mit Aliens zu schreiben, die auch feindselig sein dürfen und es liegt nahe, dass die Menschen eben die Helden sind, auf deren Sieg die Leser hoffen.
Was meint ihr zu dieser Problematik?

Trippelschritt

Wie ich persönlich dazu stehe? Gar nicht. Das muss jeder Autor für sich entscheiden, und vieles hängt auch von der Zeit ab, in der die Geschichte geschrieben wird (wurde). In den Fünfzigern war das eine Art Wildwest im Weltraum. Dann folgte eine Abbildung von Kalter Krieg. Die Siebziger gingen thematisch enorm in die Beite und Autoren wie Ursula LeGuin betraten einen eher ethnologischen Pfad. Auch Stanislam Lem arbeitete sich an  der Unmöglichkeit ab mit Außerirdischen zu kommunizieren (z.B. Polaris)

Orson Scott Card in seinem Mehrbänder beginnend mit Enders Game erzählte eine Geschichte, in der die Menschen ihren Urängsten begegnen und die fremde Rasse vernichten, aber dann findet eine interessante Neubewertung statt und der große Held wird zum Büßer.
CiXin Liu erzählt in seinem Koloss von Dreibänder die Geschichte einer fremden Rasse, die ihren sterbenden Planeten verlassen muss. (Band 1: The three body problem).

Für mein Empfinden sind die vielen Möglichkeiten der Begegnung ereits sehr gut ausgeschöpft worden, bieten aber einem kreativen Geist immer noch neue Möglichkeiten. Aber die Altmeister zu übertreffen wird immer schwieriger. Auf jeden Fall gibt es alle Schattierungen vom platten Klischee bis zur facettenreichen Erzählung und das sei mehr als dreißig Jahren.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Maria

Es gibt zig Geschichten über Begegnungen von Aliens und Menschen. Und sie laufen nicht alle nach einem Schema ab.
Der Film "Enemy Mine" ist eine ganz besondere Geschichte und sehr empfehlenswert.
Daneben gibt es noch Planet 51, wo die Sichtweise umgedreht wird.
Und ganz Star Trek, ebenso Babylon 5 zeigt eine ganze Bandbreite von Aliens, beginnend von friedlich bis zu kriegerisch, von Eroberern, Eroberten bis zu Gottgleich.
An Büchern mag ich die Flinx Reihe, Der Splitter im Auge Gottes, Doppelleben im Kosmos, ... und die Bandbreite der Aliens ist einfach viel größer als jene der Fantasyfiguren.




Tintenteufel

Das ist ein ganz spannendes Thema. Ich hab meine Masterarbeit unter Anderem zum Thema Othering und Fremdem geschrieben und hätte ich mich da gerne noch weiter mit befasst, wenn da nicht so etwas dummes wie Vorgaben bzgl. Umfang dazwischen gekommen wäre.  ::)

Rein von der Ästhetik her ist das, wie man so schön sagt, ein weites Feld. Wie du richtig bemerkst gibt es mehrere Arten von Aliens, die sich ziemlich grundlegend unterscheiden. In der Phänomenologie v.A. seit Waldenfels unterscheidet man da drei "Grade der Fremdheit", die sich mehr oder weniger direkt auf das Fremde in der Ästhetik anwenden lassen: alltägliche Fremdheit, strukturelle Fremdheit und radikale Fremdheit. Dabei ist ganz wichtig, dass Fremdheit was relationales ist. Es gibt nicht "das Fremde" es gibt nur "mir Fremdes".
Alltägliche Fremdheit ist das, was mir innerhalb meines gewohnten Erfahrungshorizontes fremd ist, also z.B. bei mir das Auto. Für mich ist das ein großes Gerät, mit dem andere Leute mich in den Urlaub fahren, aber ansonsten ein ziemliches Rätsel. Ich wüsste nicht, wie man eines fährt, geschweige denn repariert.
Strukturelle Fremdheit liegt außerhalb dieses Horizonts, würde sich potentiell aber integrieren lassen, wenn man die innere Struktur des Erfahrungshorizonts ändert. Für mich wären das z.B. Opferrituale, von denen sich Spuren zwar noch in der (mir fremden) Kirchenwelt finden lassen, mit denen ich aber nichts anfangen kann. Die sind in meiner Erfahrungswelt eher out, werden aber anderswo noch von Menschen praktiziert und es ist allgemein nicht undenkbar, dass ich als Mensch irgendwie wieder Zugang zu dem einen Ding finde, das sich in den allermeisten menschlichen Kulturen findet.
Radikale Fremdheit ist dagegen radikal fremd - lässt sich nicht integrieren, lässt sich nicht vorhersehen und übersteigt die Ordnung an sich. Das muss man sich so vorstellen, dass die beiden kategorial gar nichts mehr miteinander zu tun haben und eine Relation beider Dinge beide vollständig auflösen würde. Also zum Beispiel... Radfahren und die Doppelsonnen von Alpha Centauri. Berührt einander so gar nicht.
So ganz hart runter gebrochen.

In der Ästhetik wird's jetzt ein bisschen tricky, weil wir technisch gesehen radikal Fremdes gar nicht darstellen können - indem wir es denken können, ist es nicht mehr radikal fremd. Wenn wir es uns denken können, können wir es uns auch anders denken und das macht es zu einem bloßen Fakt, der eben auch anders sein könnte. (Philosophy 101: nennt sich Hume's Fork. Radikale Fremdheit ist mehr eine negative "Relation of Ideas", die wir noch gar nicht gefunden haben.)
Zwischen struktureller und radikaler Fremdheit befindet sich aber ein ziemlicher Sprung, rein ontologisch. Das radikal Fremde bedroht durch seine bloße Gegenwart, weil es eine alternative Welt darstellt und Welten in diesem Sinne sind immer totalitär, die dulden keine nicht integrierten Bestandteile und auch nichts, was da irgendwie Grenzen aufzeigt. Das hat (noch) gar nichts mit Imperialismus und politischem Totalitarismus zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie sich menschliche Wahrnehmung bewegt.

Um's jedenfalls kurz zu machen: Bei alltäglicher oder struktureller Fremdheit kann der Kritikpunkt durchaus angebracht werden. "Avatar" und meinetwegen "Star Trek" sind da gute Beispiele. Einerseits geht es oft genau darum, dass Fremdheit nur ein Spektrum ist und man sich annähern kann. Andererseits nimmt man Aliens damit oft auch nur als Schablone, um über historische Probleme zu reden oder die irgendwie neu darzustellen. "Avatar" ist ja eine ziemlich simple Analogie zu amerikanischen Ureinwohnern und deren Verdrängung durch weiße Ausbeutung (und darin rassistisch oder wenigstens bedient es sich einer Menge rassistischer Motive).
Bei radikaler Fremdheit sieht die Sache meiner Meinung nach anders aus. Ich glaube fast niemand würde sagen, dass das Xenomorph aus "Alien" oder die "Invasion of the Body Snatchers" Codes für irgendwelche Minderheiten sind oder rassistische Botschaften transportieren, soweit es die Aliens betrifft. Selbst Kritik wie Speciesism oder Anthropozentrismus greift da zu kurz, weil die nicht einmal ansatzweise zur gleichen Kategorie wie Säugetiere gehören würden. Diese Viecher sind radikal fremd und die entsprechenden Filme benutzen diesen radikalen Einspruch gegen die totalitären Ansprüche der menschlichen Erfahrungswelt, um über diese Erfahrungswelt selbst etwas auszusagen: Über unseren Platz in der Welt, über  die Bedeutung von Hunger, Menschlichkeit, Einsamkeit usw. usf.*

Für mich persönlich liegen die interessantesten Fälle von Aliens und Monstern zwischen struktureller und radikaler Fremdheit - in dem dünnen Streifen von Erfahrung, wo menschliche Welt auf ihre Grenzen trifft und dann versucht wird, das Fremde zu fassen zu kriegen. Da spielen sich für mich die interessantesten Existenzkonflikte ab, weil die eigene Identität und Welt dabei zwangsläufig in Scherben springt.

*Was wir dabei noch gar nicht angesprochen haben sind dann Fragen wie das Fremde als Sujet, wie sich Andersheit von Fremdheit unterscheidet (das ist so ein Punkt wo der amerikanische Diskurs erbärmlich flach geblieben ist), wie sich die Alterität innerhalb von Geschichten von der Alterität von Werken an sich unterscheidet und all so spannende Themen. Kann man hunderte Seiten drüber schreiben.

Judith

Zitat von: AngelikaD am 05. Oktober 2019, 20:23:43
Ich bin sicher eine individualisierte Darstellung jedes Orks der Armee wäre zeitlich nicht machbar gewesen. Sie ist es auch in meiner Geschichte nicht. Das Bedrohungsszenario ginge absolut flöten, also muss ich die Armee anders aufstellen.
Es ging um problematische Stereotypen, die so auch existierenden Kulturen und/oder Minderheiten zugeschrieben werden, und nicht um eine individualisierte Darstellung jedes Orks. Wenn du das so aus meinem Kommentar herausgelesen hast, habe ich mich entweder unglücklich ausgedrückt oder du mich missverstanden.

Churke

Zitat von: Amanita am 06. Oktober 2019, 08:08:36
Ich muss  sagen, dass ich da persönlich mehr Parallelen zu realen Geschehnissen sehe als bei den Orks, aber andererseits muss es ja auch irgendwie möglich sein, über Begegnungen mit Aliens zu schreiben, die auch feindselig sein dürfen und es liegt nahe, dass die Menschen eben die Helden sind, auf deren Sieg die Leser hoffen.
Was meint ihr zu dieser Problematik?

Außerirdische sind rein fiktional und entsprechend die Eigenschaften, die für die Geschichte benötigt werden. Die Marsianer greifen nicht an, weil sie es sie gibt, sondern, weil der Autor sie zu diesem und keinem anderen Zweck erfunden hat.

Davon abgesehen ist Aggression ein nachweislich erfolgreiches Evolutionsmodell. Man kann die Sache freilich auch umdrehen, in meinem SF-Roman steht die "außerirdische Bedrohung" der Privatisierung des Weltalls im Weg. Die Agression geht zu 100 % von den Menschen aus, aber die Propaganda hat sogar das Lektorat überzeugt, dass die Außerirdischen die Bösen sind.  8)

Maria

Zitat von: Judith am 06. Oktober 2019, 10:40:56
Es ging um problematische Stereotypen, die so auch existierenden Kulturen und/oder Minderheiten zugeschrieben werden, und nicht um eine individualisierte Darstellung jedes Orks. Wenn du das so aus meinem Kommentar herausgelesen hast, habe ich mich entweder unglücklich ausgedrückt oder du mich missverstanden.
Und da die problematische Darstellung die von Orks als Armee Mordors sind, wo sie als bedrohliche, gefährliche, dunkle Masse perfekt koordinierter Soldaten auftreten, ist das Gegenteil ein loser Haufen Individuen, die nun einfach ein bunter Haufen verschiedener Leute sind mit Alltagsnamen und alltäglichen Problemen. 
Tja. Damit geht das Bedrohliche einer epischen Schlacht nun mal flöten und man kann eine lustige Geschichte daraus machen.

Guddy

Nein. Das Gegenteil bzw das, was nicht mehr problematisch ist, besteht aus einer Masse bedrohlicher Orks, die nicht rassistischen Stereotypen folgt.
Das hat mit der Individualisierung der Orkschaft doch nichts zu tun. ???

Silvia

Aber aus der Sicht des Gegners ist das eine gesichtslose bedrohliche Masse. Zumal ja nun auch alles aus der Perspektive der Ork-Gegner geschildert wird.

Mondfräulein

Das ist eben die Herausforderung. Willkommen im Leben eines Schriftstellers.

Maria

Zitat von: Guddy am 06. Oktober 2019, 20:03:28
Nein. Das Gegenteil bzw das, was nicht mehr problematisch ist, besteht aus einer Masse bedrohlicher Orks, die nicht rassistischen Stereotypen folgt.
Das hat mit der Individualisierung der Orkschaft doch nichts zu tun. ???

Also, dann dürfen die Orks:
1. als Masse auftreten
2. aggressiv sein
3. bedrohlich sein
4. gewalttätig sein
5. Gegner töten
7. unsensibel und brutal auftreten
8. Waffen schwingen und dabei Kriegsparolen gröhlen
9. den Eindruck machen, dass sie alles niederwalzen, sobald ihre Generäle es befehlen
10. eine Farbgebung haben, die nicht mit Teletubbys in Verbindung gebracht wird
???

Churke

Und dann ist natürlich auch die Frage, ob Orks so sind, wie sie wahrgenommen werden.

Lisa Bell

Die gesichtslose graue Masse, die dem Bösen (oder nicht Idealem) nachsteigt wie einer Droge, ist sehr alt. Gewissermaßen bietet dieser wenig differenzierte Haufen an Dunkelheit der (Haupt-)Figur erst Raum und Strahlkraft, die sie vom Rest abhebt.
Wie schon anderer Stelle erwähnt wurde, war Tolkien wohl kein großer Verfechter des Analogieschlusses von seiner fiktiven Welt auf die reale Welt. Orks sind ja ausdrücklich keine Menschen. Und ganz so einheitlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen, sind sie dann auch bei Tolkien nicht. Von Goblins, zu Hobgoblins, über Uruks und Gundabad-Orks ist selbst Tolkiens eigene Begriffswelt vielfältig.

Dass nun die Gegenwart des 21. Jh. beschließt Tolkiens fiktionale Welt zu deuten, die in ihren Ursprüngen etwa 100 Jahre alt ist, zeigt nur, dass Mittelerde und Co. ein kanonisches Kulturgut wird, welches wie alle Klassiker im Rahmen der neuen Zeit reinterpretiert wird. Auf den Autor und dessen Haltungen lässt das aber keine Rückschlüsse zu. Dazu muss man den Autor betrachten, nicht sein fiktionales Werk.
Wenn man sich nun aber entschließt, die Orks im tolkienschen Verständnis als ,,Rasse", wie das Wort in der Phantastik als Begriff zur Systematisierung verschiedener intelligenter Spezies verwendet wird, zu untersuchen, sind sie das Ergebnis einer Manipulation des Bösen. Etwas aus dem Guten Entstandenes wurde verunreinigt und verdreht. Die absoluten Pole und die Eindeutigkeit der Zuordnung der meisten Figuren im tolkienschen Universum wurde schon an anderer Stelle bis zur Erschöpfung besprochen. Gleiches gilt für die Interpretation, dass der Christ Tolkien darin das Gute in einem allmächtigen Schöpfer (Eru) und einem Bösen (Satan) polarisiert, der das Gute verführen will. Die Helden bzw. die Gefährten im Herrn der Ringe tanzen entlang der Verwerfungslinie dieser Verführung, wenn man so will. Zwei scheitern. Erst Boromir und ganz am Ende gibt sich auch Frodo der Macht des Ringes hin und es ist Gollum, der den Ring, das Instrument der Versuchung, schließlich zerstört.

Die Frage, ob Orks auch gut sein könnten, wird nie gestellt. In keinem von Tolkiens Werken geschieht das, weil die Orks aus einer Handlung des Verderbens entstanden sind. Dass man das auf in der realen Welt lebende Wesen überträgt, ist für meine Begriffe der Denkfehler. Die ,,guten" Rassen in Tolkiens Universum haben Stereotype Eigenschaften, auch negative. Elben neigen zu Arroganz, Zwerge sind gierig und Menschen lassen sich leicht manipulieren. Aber keine dieser Rassen ist per se Böse.
Dem Werk latenten Rassismus zu unterstellen, halte ich also für falsch. Es rassistisch zu finden, dass eine Gruppe schon nach Definition Böse ist, also die Orks, halte ich ebenfalls für falsch. Oder ist es rassistisch die Schergen Satans als durch und durch Böse zu betrachten.  Vielleicht ist es langweilig, da so Charakterentwicklung für einen Ork im tolkienschen Sinne nicht möglich ist. Dass haben andere Werke der Phantastik erkannt und geben den Orks deshalb ein zwielichtiges Erbe, kein rein böses. Dann macht es aber wenig Sinn, sich auf Tolkien zu beziehen.
Welche Hautfarbe Orks dabei haben oder dass es bei Tolkien ausgerechnet die Ostlinge und Südländer sind, die sich dem dunklen Diktator anschließen, der nach der absoluten Weltherrschaft trachtet, ist aus heutiger Sicht, eine Möglichkeit die Handlung zu deuten. Das war vor 50 Jahren aber kaum anders, auch wenn das Ergebnis der Deutung wohl anders ausgefallen wäre. Interpretation ist schon immer erlaubt und oft geistig fruchtbar, aber dem Text damit eine eindeutige Intension zu unterstellen, wo das gängige Bild von Orks durch die Filmadaptionen des Herrn der Ringe und diversen anderen ,,Orks" aus anderen Welten überfrachtet ist, halte ich für abenteuerlich.
Wie man Orks als Gruppe interessanter macht, ist als Autor doch die spannendere Frage.

Churke

Zitat von: Lisa Bell am 07. Oktober 2019, 14:31:52
Die Frage, ob Orks auch gut sein könnten, wird nie gestellt. In keinem von Tolkiens Werken geschieht das, weil die Orks aus einer Handlung des Verderbens entstanden sind.

Zu kompliziert. Schwarz-Weiß-Malerei und die Archetypisierung sind die Pfeiler von Tolkiens mythischem Geraune. Mit einer differenzierten Betrachtung der Finsterlinge funktioniert die Geschichte nicht.

Aphelion

@AngelikaD

Ein paar Überlegungen zu Orks: Dass sie nicht an menschliche Ethnien angelehnt werden sollen, sehe ich auch so.

Ich verbinde mit Orks menschenähnliche Lebewesen, die stärker, größer, stämmiger und dickhäutiger/unempfindlicher sind als Menschen, und die als blutrünstig gelten. Lebewesen, die völlig davon abweichen, würde ich nicht mehr als Orks bezeichnen.

Wegen ihrer körperlichen Gestalt würde ich den evolutionären Ursprung der Orks in einer Region vermuten, die eine reichhaltige Nahrung bietet, aber kalt ist. (Ich habe im Kopf, dass Tiere in kälteren Regionen tendenziell größer und kompakter sind als in kälteren Regionen, zumindest im Vergleich zu Arten derselben Spezies in wärmeren Regionen. Menschen sind auch nur Tiere und Orks sind ja menschenähnlich.)

Vielleicht gibt es in dieser kalten Region häufig Hagel oder Eisregen, wodurch die dickere Haut ein evolutionärer Vorteil wäre. Vielleicht ist diese dicke Haut auch mit einem netzartigen Fettgewebe durchwachsen und dient als zusätzliche Isolationsschicht gegen die Kälte, über der eigentlichen Fettschicht der Haut.

Beim Merkmal ,,blutrünstig" wäre die Frage, ob Orks wirklich blutrünstiger sind oder nur als blutrünstiger diffamiert werden. Letzteres ist leichter, deshalb reizt mich Ersteres – wobei die Wertung, die in ,,blutrünstig" steckt, dann natürlich nicht mehr überall passt:

  • Vielleicht haben Orks bei Wut nur einen Alles-oder-nichts-Schalter. Das heißt, sie sind die meiste Zeit über enorm friedlich, bis das Maß voll ist und sie von 0 auf 100 ausrasten. Das muss nicht unbedingt in Mord und Totschlag enden, könnte ihnen aber bei ihren Gegnern (die sie selten in friedlichen Situationen erleben und deshalb denken, Orks seien immer so!) den Ruf einbringen, blutrünstig zu sein.
  • Vielleicht töten Orks (z.B. nach einem Kampf) Schwerverletzte mit geringer Überlebenswahrscheinlichkeit, weil in ihrer Kultur ein schneller Tod dem langsamen Sterben vorgezogen wird. In dem Zusammenhang sind reale Debatten über Sterbehilfe interessant. Wenn die Menschen in einer fiktiven Welt Sterbehilfe mehrheitlich ablehnen und die Orks sie mehrheitlich befürworten, würden Menschen Orks für barbarisch halten, weil sie sie aus ihrer eigenen kulturellen Perspektive heraus betrachten.
  • Aus dem vorigen Punkt resultiert, dass Orks nicht nur ihre Gegner in/nach einem Kampf töten würden, sondern auch ihre eigenen Leute – und das wiederum würde den Ruf, blutrünstig zu sein, noch weiter verstärken.
  • Vielleicht sind Orks einfach kriegerisch, weil sie es können und andere ihnen (technisch, strategisch, ...) unterlegen sind/waren – und die Unterlegenen reden sich die Menschen schön, indem sie die kämpferische/strategische Überlegenheit der Orks fälschlicherweise nur auf ihre überlegene Körperkraft zurückführen, was wiederum im allgemeinen mit Grobheit assoziiert wird.
Selbst Klischee-Eigenschaften von Orks können also Sinn ergeben und in einer Geschichte als stimmig präsentiert werden.

Terry Pratchetts Trolle sind in den Scheibenwelt-Romanen ziemlich dumm und prügeln sich ständig. Die Dummheit wird irgendwann dadurch erklärt, dass ihre Gehirne an kühlere Temperaturen angepasst sind, und das Schlagen gehört bei ihnen zur Kommunikation. Pratchett sagt m.W. nichts über Schmerzempfinden etc. von Trollen; aber vielleicht haben sie ja gar keins, weshalb ein Fausthieb für sie etwas völlig anderes ist als für Menschen.

Das könnte man auch auf Orks übertragen: Wenn sie eine dicke Haut mit einer unempfindlichen Schutzschicht besitzen, dann müssen sie einem anderen Ork schon seeehr fest auf die Schulter klopfen, damit er das überhaupt spürt – was Außenstehende, die von dieser eingebauten Schutzschicht nichts wissen, als brutal interpretieren könnten.

Bei Pratchett hat natürlich alles ein Augenzwinkern.

Völlig unabhängig davon: Es gibt heute noch viele, viele Länder (und Lager in den übrigen Ländern), für die Der Feind™ immer absolut böse ist und höchstens marginale positive Eigenschaften besitzt. Jetzt kommt es darauf an, aus welcher Perspektive du schreibst ... Solange du das nicht als absolute Wahrheit darstellst, ist ein einseitiges Bild von Orks aus Sicht deiner Protas okay.

Oder deine Orks sind halt wirklich durch und durch böse, aber dann fände ich persönlich die Begründung spannend, weil ich solche Gedankenspiele mag und sie für mich zum Weltenbau gehören (siehe oben). Ich will nicht den Millionsten Abklatsch lesen, in dem Orks böse sind, weil Orks halt immer böse sind; nicht, weil mich böse Orks grundsätzlich stören, sondern weil es sonst langweilig wird. Von einer Begründung für das Verhalten von Orks profitiert die Geschichte, weil sie dadurch mehr Tiefe erhält.

Und an der Stelle kann man Tolkien kritisieren, aber seine Bösen hatten wenigstens eine Begründung – über die man sich streiten kann. Soll! Aber dass er sich überhaupt eine Begründung überlegt hat, warum Orks (und die übrigen Bösen) so sind, ist noch heute nicht selbstverständlich. Lange Erklärblöcke wie bei Tolkien sind natürlich nicht nötig ...

Mir fällt dazu auch die Kampfszene aus ,,Die Brücke" ein und was sich die Alliierten gedacht haben müssen: ,,Hey, das sind quasi Kinder! – Schei*e, die Kinder versuchen, uns umzubringen!" Wenn eine Situation bereits eskaliert ist, musst du dich verteidigen. Selbst wenn du deinen Gegner nicht für 100% böse hältst.

Ein bisschen Binnendifferenzierung kann spannend sein und eine schöne Gelegenheit, um Hintergrundinfos einzubauen: Vielleicht haben Orks aus der Region Trkapvu eine dickere Haut als die aus der Region Mrzalwkcnymf, was in einer Schlacht durchaus einen Unterschied macht. Wichtig: Differenzierung kann, muss aber nicht genutzt werden. Ich will damit nur sagen, dass eine Differenzierung nicht immer Weichspülen bedeutet, und dass sie zusätzliche Herausforderungen (und Möglichkeiten, besondere Fähigkeiten hervorzuheben) für deine Figuren bringen kann.