• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Assoziationen des Lesers vorwegnehmen und darauf einwirken

Begonnen von Sanjani, 25. Januar 2018, 11:27:42

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Evanesca Feuerblut

ZitatDas einzige, was mich stört, ist, wenn etwas nicht beschrieben wird, ich mein Bild habe und dann auf Seite 100 oder so eine Beschreibung kommt, die meinem eigenen Bild widerspricht. Dann lieber ganz weglassen.
Jepp. Das ist etwas, worauf ich sehr achte, wenn ich lektoriere.

@Aphelion , du hast das, was ich meinte, vieel schöner geschrieben, als ich :D

Churke

Zitat von: Aphelion am 26. Januar 2018, 02:27:23
Vorurteile sind noch kein Rassismus. Aber Vorurteile können sehr subtil und hartnäckig sein. Gerade das ist das Problem.
Ich sehe darin kein Problem, sondern den Projektor fürs Kopfkino.
Wenn ich jemanden als "adiöpsen NPD-Funktionär mit Hitler-Bärtchen" bezeichne, spart das mir und dem Leser mindestens eine halbe Seite Blabla.

Jedes Bild, das wir uns von einer Person machen, wird von Vorurteilen bestimmt. Man muss sich dessen aber bewusst sein und jedes Vorurteil auf den Prüfstand stellen. Aus dem Widerspruch zwischen Vorurteil und Urteil entstehen spannende Plots und Figuren.
Also: Das Vorurteil des Lesers ist der wichtigste Verbündete des Autors. Man muss ihn nur für sich arbeiten lassen.



Aphelion

Zitat von: Churke am 26. Januar 2018, 15:49:59
Wenn ich jemanden als "adiöpsen NPD-Funktionär mit Hitler-Bärtchen" bezeichne, spart das mir und dem Leser mindestens eine halbe Seite Blabla.
Schlechtes Beispiel. ;) Aus zwei Gründen:

1. Grund, warum das ein schlechtes Beispiel ist

adipös - keine Ahnung, an was für eine Assoziation du dabei denkst. Für mich ist das eine sachliche Beschreibung, im Gegensatz zu z.B. "fett", weil das Wort eine ganz andere Konnotation hat. "adipös" gilt im Allgemeinen als neutral. Gibt es ein Vorurteil, demzufolge alle NPDler übergewichtig sind? Habe ich um ehrlich zu sein nicht den Eindruck. Wenn du das so siehst, siehe unten.

NPD-Funktionär - freiwillig gewählte Beschäftigung, sagt also schon etwas über eine Person aus (im Gegensatz zur Hautfarbe, die nicht selbst gewählt ist) - wenn ich denjenigen jetzt politisch rechts einordne, ist das kein Vorurteil, sondern eine legitime Schlussfolgerung, da es einen eindeutigen inhaltlichen Zusammenhang gibt

Hitler-Bärtchen - ist ein bewusst gewähltes Wort mit eindeutigem Verweis auf Hitler. Wenn du Oberlippenbart oder kleiner Schnauzer geschrieben hättest, wäre das etwas anderes.

Was du mit dieser Beschreibung machst, ist kein Spiel mit Vorurteilen oder Assoziationen, wie Sanjani es bescheibt. Deshalb passt das Beispiel hier nicht.

Die Beschreibung allein ist auch an sich noch kein Vorurteil - die Frage ist, was macht/denkt/fühlt die Person in der Geschichte, welche Stellung bekommt sie zugeteilt usw.

Anderes Beispiel:
Großer bulliger Mann mit Glatze und Lederjacke aus Dresden.
→ ist nicht eindeutig, würden aber auch viele mit Nazi assoziieren; das wäre ein Vorurteil, mit dem man spielen kann

Oder:
Adipöser NPD-Funktionär mit Schnauzer rettet auf sportliche Art und Weise ein illegal eingereistes Kind vor der Abschiebung.
→ Selbst hier wäre die Frage, inwiefern das etwas mit Vorurteilen zu tun hat - oder ob das schon eine Charakterentwicklung bzw. ein Charakterbruch ist; denn wie gesagt, die politische Funktion ist ja frei gewählt und stellt eine klare Aussage der Figur dar.

Oder anders ausgedrückt: Menschen an eindeutigen Aussagen und Handlungen zu messen, ist kein Vorurteil. Problematisch sind Attribute, die keine Aussagekraft haben, aber trotzdem mit Assoziationen belegt werden (Statur, Größe, Geschlecht, Hautfarbe, Haarfarbe, Größe der Nase, Anzahl der Nasenhaare usw.). "NPD-Funktionär" ist nicht einmal mehrdeutig und steht damit auf einem völlig anderen Blatt.

2. Grund, warum das ein schlechtes Beispiel ist

Du kannst deien adipösen NPD-Funktionär mit Hitlerbärtchen ruhig beschreiben. Die Frage ist aber, wie du ihn darstellst und ob er an Handlungen und Einstellungen oder am Aussehen und seiner Herkunft gemessen wird.

Mal abgesehen davon sind wir hier schon wieder bei einer bewussten Thematisierung, nicht bei unterschwelligen Vorurteilen. Spätestens bei der Formulierung "Hitler-Bärtchen" wird klar, dass du hier mit voller Absicht auf eine bestimmte Art (be)schreibst. An der Stelle müssten wir über die Wortwahl sprechen, nicht über den Inhalt (um den es in diesem Thread bislang geht). Zur Wortwahl habe ich ein oder zwei ältere Threads in Erinnerung, vielleicht findest du die ja, wenn du daran wirklich interessiert bist.

Viel interessanter wäre in dem Zusammenhang allerdings, wie NPD-Funktionäre grundsätzlich dargestellt werden; eine Beschreibung hat für sich genommen wenig Aussagekraft. Es stört ja niemanden, dass Dunkelhäutige MAL die zweite Geige spielen, dass Frauen MAL schwach sind, dass Männer MAL die perfekte V-Form haben oder dass Glatzenträger MAL Nazis sind. Wenn das aber (fast) immer so ist, ist das ein klarer Hinweis auf Vorurteile.

Die Rechten werden in der Literatur nicht alle als dick mit Schnauzer dargestellt. Ironischerweise sind die Darstellungen von Rechten in der neueren Literatur recht divers. ;)

Churke

Ich habe mir gerade ein Späßchen gemacht und mit "NPD Funktionär" Bilder gegoogelt.
Volltreffer.  ;)
Da gibt es 2 Archetypen: Den dicken und den dünnen. Rate mal, wen ich gemeint habe...

Du nennst es ein schlechtes Beispiel, weil ich das Bild absichtlich heraufbeschwöre.
Ich sage, es ist ein gutes Beispiel, weil es verdeutlicht, dass Assoziationen kein schlechte, sondern eine gute Sache sind, wenn es ums Erzählen geht.

FeeamPC

Kommt immer auf die Zielgruppe an. Je nach Alter haben wir sehr unterschiedliche Assoziationen zu manchen Wörtern. Für mich wäre der adipöse NPD-Funktionär mit Hitlerbärtchen passend. Für andere eventuell entweder völlig nichtssagend oder verzerrt.

Sanjani

@Aphelion: Schöner Post. Jetzt muss ich doch glatt mal Vorurteile bei Rechts- und Linkshändern googeln. Ehrlich gesagt, warum ich mir das so gedacht habe mit der Linkshändigkeit, keine Ahnung. Den Prota gibt es in meinem Kopf schon seit drei Jahren, aber mir fiel das erst vor kurzem ein. Ich glaube, die Wahrheit wäre, dass ich so was noch nicht hatte. Also es ist so eine Art "Feature" wie rote Haare statt blond oder schwarzhaarig. Zusätzliche Ideen haben sich erst danach entwickelt, z. B. dass seine Begleiterin mit Linkshändern schlechte Erfahrungen gemacht hat. Und es ist noch nicht gesagt, dass die Ideen auch Einzug in die Geschichte halten.

VG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Aphelion

@Churke

Interessant, dann scheint es medienspezfische Unterschiede zu geben - wenn du Bild meinst, die fiktive Figuren darstellen. Denn darum geht es uns als Autoren ja. Ich habe mich explizit auf literarische Darstellung bezogen. Das habe ich auch so geschrieben. ;)

Im Nachhinein fiel mir noch der Begriff Karikatur ein. Auch da spielen natürlich Vorurteile eine Rolle, aber in anderer Weise.

Vorurteile/Assoziationen sind auch nicht die einzige mögliche Grundlage für visuelle Beschreibungen. Wenn du z.B. reale Personen ansiehst oder eine bestimmte Person als Vorbild wählst, ist das auch wieder kein subtiles, unbewusstes Vorurteil.

Die einfachste Möglichkeit, wenn du Vorurteile vermeiden möchtest, wäre allerdings auch hier: einfach weglassen. Dadurch entstehen eben keine seitenlangen Ausschweifungen, sondern du hast zwei Wörter weniger im Text.

Was genau meinst du mit "Bild heraufbeschwören"? Das ist mir zu schwammig. Es gibt zwei Prozesse:

1. Du hast als Autor ein Bild vor Augen und setzt es im Text in geschriebene Tatsachen um. Das ist für mich kein "Heraufbeschwören", denn die Beschreibung steht dann nunmal genau so im Text. Faktisch, nicht suggeriert oder "beschworen".

2. Du liest als Leser eine allgemeine Beschreibung ("NPD-Funktionär") und denkst dabei sofort an ein bestimmtes Bild (adipös und Hitlerbärtchen).

Also?

@Sanjani

Sogar bei Haarfarben gibt es meiner Ansicht nach ein ziemlich deutliches Schema. Rothaarige sind z.B. fast nie langweilig, sondern werden als besonders dargestellt. Sie sind kaum eitel und häufig besonders selbstbewusst oder besonders schüchtern. Wenn blonde Protagonistinnen sehr intelligent sind, sind sie eher aschblond als hellblond. Schwarzhaarige werden quasi nie als Modepüppchen oder besonders dumm präsentiert. Brünette sind häufig generisch - oder sie fühlen sich so und wollen/müssen sich beweisen.

Sanjani

Zitat von: Aphelion am 27. Januar 2018, 16:49:43
Sogar bei Haarfarben gibt es meiner Ansicht nach ein ziemlich deutliches Schema. Rothaarige sind z.B. fast nie langweilig, sondern werden als besonders dargestellt. Sie sind kaum eitel und häufig besonders selbstbewusst oder besonders schüchtern. Wenn blonde Protagonistinnen sehr intelligent sind, sind sie eher aschblond als hellblond. Schwarzhaarige werden quasi nie als Modepüppchen oder besonders dumm präsentiert. Brünette sind häufig generisch - oder sie fühlen sich so und wollen/müssen sich beweisen.

Du lieber Himmel! Da bin ich ja echt froh, dass ich blind bin. Dass blonde Frauen nicht mit Intelligenz verknüpft werden, ist mir geläufig, aber die ganzen anderen Sachen habe ich noch nie gehört. Ich weiß nur, dass man rothaarige Frauen früher als Hexen verbrannt hat :)

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Churke

Zitat von: Aphelion am 27. Januar 2018, 16:49:43
2. Du liest als Leser eine allgemeine Beschreibung ("NPD-Funktionär") und denkst dabei sofort an ein bestimmtes Bild (adipös und Hitlerbärtchen).

Assoziationen sind Bilder/Vorstellungen, die schon im Kopf des Lesers stecken. Man muss sie "nur" herausholen. Ich nenne es "heraufbeschören", weil das Bild nicht von mir, sondern schon da ist.

canis lupus niger

Zitat von: FeeamPC am 27. Januar 2018, 11:59:11
Kommt immer auf die Zielgruppe an. Je nach Alter haben wir sehr unterschiedliche Assoziationen zu manchen Wörtern.

Das halte ich für eine ganz entscheidende Aussage. Die reine Erwähnung der Linkshändigkeit würde bei mir keine Assoziationen auslösen, nicht einmal den Gedanken hervorrufen, dass sie von Bedeutung wäre. Ich glaube, dass ein Autor seine Leser auch sehr leicht überfordern kann, zum Beispiel wenn er unterstellt, dass dieser durch unterschwellige Hinweise die gleichen Assoziationen erhält, wie er selber. Die Hinweise sollten schon so deutlich sein, dass sich der Leser spätestens dann daran erinnert, wenn die dadurch bedingten Ereignisse (oder Rückschlüsse oder Plotwendungen etc) eintreten.

Auch in meinem aktuellen Projekt wird eine vorübergehende Linkshändigkeit (erzwungen durch Verletzung der rechten Hand) thematisiert, aber nur deswegen, weil dies Auswirkungen auf spätere Ereignisse hat. Zunächst muss der Leser natürlich davon ausgehen, dass die Verletzung den Prota beeinträchtigt, ihn sogar gefährdet. Im Endeffekt rettet die Linkshändigkeit ihm aber das Leben, weil der Prota sich dadurch anders verhält als sonst.

Cailyn

Hallo Sanjani

Ich halte es grundsätzlich so, dass ich solche Details weglasse. Außer ich würde einen Krimi schreiben und der Täter ist ein Linkshänder z.B.
Aber diese Details sind Geschmacksache. Ich persönlich finde, sie haben nicht mit der Story zu tun. Aber ich hatte auch schon eine Leserin, die das ganz anders empfand. Obwohl ich die Haarfarbe einer Figur insgesamt 5x Mal erwähnt habe, wusste sie am Ende nicht, was er für eine Haarfarbe hatte und störte sich daran. Dann gibt es andere, die sehr dankbar sind (und das sind die meisten), wenn sie sich selbst ein Bild davon machen können. Ich gehöre auch zu jenen. Wenn ich lese, dass eine Figur den Arm gebrochen hat, stelle ich mir einfach einen der beiden Arme vor und gut ist. Links oder rechts - spielt keine Rolle.

Churke

Zitat von: canis lupus niger am 29. Januar 2018, 13:25:34
Das halte ich für eine ganz entscheidende Aussage. Die reine Erwähnung der Linkshändigkeit würde bei mir keine Assoziationen auslösen, nicht einmal den Gedanken hervorrufen, dass sie von Bedeutung wäre.

Die militanten Linkshänder schreien bei der Aussage gleich "Diskriminierung!".
Der Durchschnittsbürger stellt sich nicht vor, welche Ausmaße das annehmen kann.



Trippelschritt

Zitat von: canis lupus niger am 29. Januar 2018, 13:25:34
Zitat von: FeeamPC am 27. Januar 2018, 11:59:11
Kommt immer auf die Zielgruppe an. Je nach Alter haben wir sehr unterschiedliche Assoziationen zu manchen Wörtern.

Das halte ich für eine ganz entscheidende Aussage. Die reine Erwähnung der Linkshändigkeit würde bei mir keine Assoziationen auslösen, nicht einmal den Gedanken hervorrufen, dass sie von Bedeutung wäre. Ich glaube, dass ein Autor seine Leser auch sehr leicht überfordern kann, zum Beispiel wenn er unterstellt, dass dieser durch unterschwellige Hinweise die gleichen Assoziationen erhält, wie er selber. Die Hinweise sollten schon so deutlich sein, dass sich der Leser spätestens dann daran erinnert, wenn die dadurch bedingten Ereignisse (oder Rückschlüsse oder Plotwendungen etc) eintreten.


Auch die Deutlichkeit der Hinweise ist vom Alter der Zielgruppe. Ein Zwanzigjähriger braucht deutlichere Hinweise als ein Fünfzigjähriger, weil ältere Leute die meisten Situationen schon zigmal erlebt haben, die die Jüngeren erst noch erleben müssen.

Trippelschritt

cryphos

Nochmal zurück folgender Frage: Ist es wichtig, dass eine Person Linkshänder ist und muss dass in der Geschichte thematisiert werden?
Antwort: Es kommt darauf an.
1) Wenn es eine Geschichte über einen Buchhalter in Europa ist, ist es von geringerer Bedeutung, auf welcher Hand die Tintenflecken sind.
2) Ist es ein Buchhalter in Indien, bei denen die Linke als unrein gilt und der Buchhalter ist im Alltag immer Linkshänder, dann ensteht da ein Spannungsverhältnis, weil in Indien eigentlich alle auf Rechtshänder umerzogen werden.
3) Spielt die Geschichte im mittelalterlichen Europa und der Prota ist ein Soldat/Ritter, dann ist es schon relevant, weil er anders kämpft und z.b. beim Stürmen einer Burg Vorteile hat. in den Burgen sind die Wendeltreppen nämlich so angelegt, dass der Rechtshänder im Verteidigungsfall im vorteil ist, wenn er von oben nach unten kämpft. Der Vorteil wird negiert, wenn der Angreifer ein Linkshänder wäre.
4) Bleiben wir in der Epoche, wechseln aber nach Japan. Den linkshändigen Schwertkämpfer gäbe es dort nicht. Denn Linkshänder aus der Kaste der Samurei wurden entweder von klein auf umerzogen oder getötet. Ein linkshändiger Samurei wäre also ein Alleinstellungsmerkmal und damit von immenser Bedeutung.

Bei Fall 1 wäre die Linkshändigkeit reiner Fluff.
Bei Fall 2 kann sich daraus ein Spannungsverhältnis entwickeln. Je nach Auslegung der Geschichte wäre es relevant und dann wäre auch die alleinige Assoziation Linkshänder in Indien nicht ausreichend und müsste näher erläutert werden.
Zu Fall 3: Linkshänder sein ist hier wichtig und die Bedeutung muss ausgeführt werden. Nicht alle Leser sind fit in Architektur und Burgkampf.
Zu Fall 4: Die Linkshändigkeit ist hier für unseren Kulturkreis immanent und die Bedeutung muss zwingend dargelegt werden. Assoziationen reichen hier definitiv nicht. In Japan selbst könnte die Assoziation aber ausreichen (anderer Kulturkreis).

Churke

Cryphos, Fall 3 ist schon viel zu kompliziert gedacht. Mit dem Schild kannst du einen Linkshänder kaum blocken, weil er "von der falschen Seite" angreift. Da macht ihn zu einem gefürchteten Gegner und gehört auf jeden Fall zu den essentialia der Figur.