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Darf ein Geist den Leser ansprechen?

Begonnen von LinaFranken, 25. Dezember 2015, 00:50:46

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LinaFranken

Ich hoffe, ich bin hier richtig mit meinem Thema und werde nicht mit verbrannten Weihnachtsplätzchen beworfen  :versteck: aber ich habe eine experimentelle Idee und wollte gerne hören, welche Erfahrungen ihr damit habt.
Vorabinfo: Ich schreibe an einer Reihe, die in der echten Welt passiert. Die ständig auftauchenden Fantasy-Elemente werden immer mit Pseudo-Wissenschaft erklärt. Ich schreibe aus der Autor-Perspektive, aber manchmal auch einzelne Kapitel aus der Sicht bestimmter Charas.

Und hier das Dilemma: In dem jetzigen Kapitel taucht ein Geist auf (der als Drogen-Halluzination eines anderen Charas erklärt wird)
Ich möchte dem Geist jedoch eine besondere Rolle geben. Er soll nicht nur selbst, in seiner Perspektive erzählen, wie es zu seinem tragischen Tod kam, er soll auch die Barriere zum Leser durchbrechen. Zudem möchte ich das als wiederkehrendes Ereignis über die ganze Reihe machen (oder solange, bis mein Junkie sein Drogen-Problem überwunden hat).
Der Leser ist der unbeteiligt Beobachter der Geschichte und selbst bei der Ich-Perspektive, soll es sich so anfühlen, als würde er nur vorübergehend im Kopf der Charas "mithören" können, aber der Geist durchbricht als einziger diese Barriere und spricht den Leser direkt an.
So in etwa:
Christian schrie ihn an: "Du bist nur im meinem Kopf, hör auf mich zu nerven!"
"Ja, er hat recht, ich bin nur ein Geist der Vergangenheit, aber wollt ihr hören, wie ich gestorben bin und mir helfen, über ihn zu wachen? blabla..."

Was halte ihr von so etwas?
Könnt ihr es leiden, wenn ihr als Leser angesprochen werdet?
Ist es ok, wenn es gelegentlich und nur von einem "Geist" ist?
Habt ihr selbst Erfahrung mit dem Ansprechen des Lesers?
Und wäre es besser wenn er "du" sagt oder "ihr"?
Wie findet ihr solche Perspektiv-Wechsel mitten in einer Geschichte?

Siara

Vorab: Fragen, die mit "Darf ..." beginnen, möchte ich reflexartig immer mit "Ja!" beantworten. Ob es am Ende zur Qualität der Geschichte beiträgt, ist eine andere Sache und kommt meiner Meinung nach auch immer zuoberst auf die Umsetzung an.

Als ich den Titel und den Beginn des Threads gelesen habe, musste ich sofort an die Bücherdiebin von Markus Zusak denken. Diese Geschichte wird ja aus dem Off vom Tod persönlich erzählt, der sich auch direkt an den Leser wendet. (Mit einem "ihr" übrigens). Der Unterschied liegt ganz klar darin, dass er der durchgehende auktoriale Erzähler der Geschichte ist. Wenn du aus der Ich-Perspektive schreibst und dann der Geist den Leser anspricht, würde ich mich als Leser fragen, ob der Perspektivträger das gerade mithört.

Die Frage, die du dir stellen musst, ist in dem Fall vielleicht: Was will ich durch das Auftreten des Geistes bewirken? Du willst eine Brücke zum Leser schlagen, aber warum? Einerseits sagst du, dass du den Leser als unbeteiligten Zuschauer willst, andererseits ziehst du ihn durch die direkte Anrede in die Geschichte. Wozu? Wenn du weißt, welche Gefühle und Gedanken du genau auslösen möchtest, lässt sich vermutlich leichter der richtige Weg finden.

Vermischungen verschiedener Perspektiven sind allgemein nicht ganz einfach und funktionieren - so meine Erfahrung - beinahe ausschließlich durch deutlich sichtbare Trennungen. Wenn der Geist also innerhalb einer anderen Perspektive auftauchen soll (was bei Halluzinationen ja das einzig Sinnvolle wäre), geht die Ich-Perspektive nicht gut, denke ich. Im Grunde springst du, wenn der Geist sich an den Leser wendet, ja nicht nur in der Perspektive, sondern auch im Erzähler. Du wechselst aus einer personalen Sicht des Protagonisten in eine übergeordnete oder die des Geistes. Dieser Bruch würde mir beim Lesen schon übel aufstoßen. Daher: Konsistenz in der Erzählweise finde ich wichtig. An sich gefällt mir die Idee mit dem Geist, aber die Vermischung verschiedener Perspektiven (personal/auktorial) und dazu noch das Wechseln des Erzählers (Protagonist/Geist/externer Erzähler) stelle ich mir als Lösung zu wirr vor.
I'm going to stand outside. So if anyone asks, I'm outstanding.

Trippelschritt

Du sagst ja, dass es ein Experiment ist. Also mach es. Dürfen ... Ein Autor ist Gott und darf alles. Interaktion mit dem Leser ist in der Tat schwierig, weil die viele Leser es nicht mögen. Aber wenn es gekonnt gemacht ist, warum nicht.

Schöne Weihnachten
Trippelschritt

Asterya

Generell stört es mich nicht, als Leser direkt angesprochen zu werden. "Ihr" finde ich als Anrede dabei schöner, aber das ist ja Geschmackssache.

Aber: Wenn, dann sollte diese Ansprache durchgängig oder zumindest in einem großen Teil des Buchs stattfinden. Ansonsten würde mich das wahrscheinlich stören.
Die Perspektive zu vermischen würde für mich in diesem Kontext sogar ganz gut passen, es geht immerhin um die Halluzinationen eines Junkies. Es ist zwar anfangs vielleicht verwirrend, gemischte Perspektiven zu haben, aber gerade das würde die Verwirrung des armen Mannes ja ganz gut darstellen. Aber den Stil gleich so massiv zu ändern, wäre mir zu viel.

Ansonsten würde ich mich meinen Vorrednern anschließen: Du darfst alles. Schreib doch ein oder zwei Szenen so, wie du es dir vorstellst und schau dann, ob sie dir selbst gefallen oder gib sie jemandem zum Testlesen.
You wake up every morning to fight the same demons that left you so tired the night before. And that, my love, is bravery.

Assantora

Ganz ehrlich, ich sehe da auch keine Probleme, vor allem, weil ich bei dem Tital direkt an Bartimäus denken musste, der sich ja vor allem am Anfang ständig an den Leser wendet und ihm erklärt, wie das alles so ist und abläuft und so.
Ob es der Geschichte nun hilft, oder mehr ein Hindernis ist, dass zu entscheiden, ist deutlich schwieriger, weil es da sehr auf die Umsetzung ankommt, aber grundlegend spricht eigentlich nichts dagegen. Also lass deinen Geist reden :)

Grey

Ich sehe das größte Problem eigentlich darin, dass der Leser möglicherweise gar nicht versteht, dass er angesprochen wird, wenn du dieses Stilmittel nur so sporadisch benutzt. Stattdessen wird er eher davon ausgehen, dass der Geist mit der Figur spricht, die ihn sieht, und dann wäre der Effekt gleich null.

Und wie auch Siara schon meinte, würde ich mir gut überlegen, was ich mit diesem doch recht starken Stilmittel eigentlich (beim Leser und/oder für die Geschichte) bewirken will. So ein starkes und dann auch noch akzentuiert eingesetztes Mittel wäre mir für ein "Weil's cool ist!" zu schade. Gerade weil es - richtig eingesetzt - so cool ist. ;)

Jenna

Also ich persönlich hab es noch in keiner Geschichte gelesen, aber finde die Idee super.  :jau:
Wäre eine tolle Abwechslung beim Lesen und würde mich an das Buch fesseln.
Benutze es ruhig, nur vielleicht direkter, wie es Grey schon gesagt hat, dass es der Leser auf jeden Fall versteht.
Weiß nicht, ob die Idee jetzt so gut ist, aber vielleicht bei der ersten Ansprache dieser Art, eine direkte Ansprache benutzen, wie "Lieber Leser.." oder so. Dann versteht man es auf jeden Fall.

Nuya

Ich hab es in der Harry Dresden-Reihe erlebt, angesprochen zu werden und war Anfangs irritiert. Da spricht Harry aus der Ich-Perspektive manchmal mit dem Leser, siezt ihn. Das kam jetzt auch nicht so häufig vor, aber viel öfter hätte es für meinen Geschmack auch nicht sein müssen.
Ich finde das schwierig. :-\

Fynja

#8
Erst einmal: Was das "Dürfen" angeht, bin ich Siaras und Trippelschritts Meinung. Dürfen tut der Autor alles, und herumexperimentieren und nachher testen, wie es auf die Leser wirkt (und gegebenenfalls noch anpassen, wenn es nicht den gewünschten Zweck erfüllt), ist natürlich erlaubt und sicher interessant zu sehen.

Was für einen Effekt so etwas auf mich haben würde, da bin ich zwiegespalten. Zuerst habe ich mir gedacht, dass es mich stören würde, wenn diese Du-Perspektive durchgehend auftaucht und hätte eher dafür plädiert, sie als Stil-Mittel in geringer Dosis einzusetzen. Allerdings kommt dann das andere Problem auf; dass es den Leser vermutlich zu sehr verwirren würde. Auf jeden Fall sollte der Wechsel zur anderen Perspektive nicht zu plötzlich erfolgen und gekennzeichnet sein insofern, dass der Leser sich vor dem Bruch auf den Wechsel vorbereiten kann und sofort versteht, was Sache ist. Hier habe ich auch an Bartimäus denken müssen, eines der wenigen Bücher, in denen ich die Passagen, in denen die Leser angesprochen wurden, total mochte, da waren diese aber natürlich häufiger und die Perspektive durchgehend die gleiche. Es würde also tatsächlich etwas schwierig werden und einen Bruch beim Lesen erzeugen, die Frage ist also, ob du genau das auch damit bezwecken willst oder ob das zu störend wäre.
Übrigens würde ich persönlich mich wohler fühlen, wenn ich mit "Du", angesprochen werden würde, ein "Ihr" oder gar "Sie" würde eventuell zu viel Distanz schaffen und den Effekt verfehlen.
Generell mag ich es aber, Konventionen zu brechen und würde es wie gesagt, einfach einmal ausprobieren. Im Zweifelsfall sollten solche Passagen bei der Überarbeitung doch recht einfach heraus zu streichen sein.

Sascha

Wenn es nur sporadisch sein soll, wird das m.E. tatsächlich schwierig. Dann müßte für mich gleich das erste Kapitel oder von mir aus ein Prolog vom Geist gesprochen werde, wo er sich gleich direkt an den Leser wendet. Vllt. sogar erklären, daß er sich immer wieder mal einschalten wird oder so.
An sich kann sowas genial sein. Hab ja vor kurzem die beiden "Bobby Dollar"-Bücher von Tad Williams gelesen, die sind komplett in der Ich-Perspektive geschrieben, und Bobby spricht andauernd den Leser an. Da macht es unheimlich Spaß. Vor allem, weil er dabei auch noch eine herrliche Selbstironie an den Tag legt. Etwa so in der Art:
"Natürlich werden Sie jetzt sagen, so eine Aktion bringt doch kein halbwegs vernünftiger Mensch. Da haben Sie natürlich recht. Aber wann bin ich schon mal vernünftig?"

Akirai

Mich hat das spontan an Bartimäus erinnert, dort wird der Leser ja auch direkt angesprochen. Und ich habe es geliiiiiiiiebt  ;D.
Allerdings wird dort ja viel mit Fußnoten gearbeitet, um die direkte Leseransprache von der eigentlichen Geschichte zu trennen. Evtl. wäre das eine Option für dich?

EDIT: Oh, Assantora hat auch schon drauf hingewiesen  :versteck: .

canis lupus niger

#11
Zitat von: Lina Franken am 25. Dezember 2015, 00:50:46
Was halte ihr von so etwas?
Hab ich schon das eine oder andere mal gelesen, auch wenn ich jetzt kein konkretes Beispiel nennen könnte. Kann gut funktionieren, wenn es gut gemacht ist. Wäre vielleicht eine Art Alternative zum inneren Monolog des Junkies, der während seiner High-Phasen eigentlich nicht klar genug denken könnte für verständliche Aussagen.

Zitat von: Lina Franken am 25. Dezember 2015, 00:50:46Könnt ihr es leiden, wenn ihr als Leser angesprochen werdet?
Nur wenn es gut gemacht ist. Das gilt aber für jede Art Stilmittel.

Zitat von: Lina Franken am 25. Dezember 2015, 00:50:46Ist es ok, wenn es gelegentlich und nur von einem "Geist" ist?
Von wem, wäre mir egal. Damit es funktioniert, würde ich aber empfehlen, dass der Geist einen großen (und eventuell mit dem Entzug kleiner werdenden) Anteil an dem Gesamttext hat.

Zitat von: Lina Franken am 25. Dezember 2015, 00:50:46Habt ihr selbst Erfahrung mit dem Ansprechen des Lesers?
Selber habe ich diese perspektive, dieses Stilmittel noch nicht beutzt.

Zitat von: Lina Franken am 25. Dezember 2015, 00:50:46Und wäre es besser wenn er "du" sagt oder "ihr"?
'Ihr' fände ich besser, weil der ja 'jeden', bzw. alle Leser meint. Mich persönlich kennt er nicht. Mit 'Du' könnte er den Junkie ansprechen.

Zitat von: Lina Franken am 25. Dezember 2015, 00:50:46Wie findet ihr solche Perspektiv-Wechsel mitten in einer Geschichte?
Wenn es gut gemacht ist, ...  ;D

LinaFranken

Das sind alles super Anregungen. Ich stimme auch völlig zu, das es keine Frage des "dürfen" ist.
Geht im Grunde wohl eher um das wie. Wenn ich von so einem Experiment also nicht lassen kann (und das kann ich wirklich nicht  ;D), dann sollte ich wohl hauptsächlich den Übergang beachten. Wenn ich euch richtig verstanden habe, kommt es hauptsächlich auf den an. Der Geist müsste sich also unmissverständlich erklären, wo er herkommt, warum er da ist, warum er meint, den Leser plötzlich ansprechen zu dürfen und warum er als einziger dazu in der Lage ist. Zudem ist es vermutlich das besste, wenn er die Leser in der Hehrzahl duzt, also "ich möchte euch meine Geschichte erzählen..." Das ist schon ne große Herausforderung, sowas nicht gegen die Wand zu fahren, aber das macht auch den Reiz so eines Perspektiv/Erzähler-Wechsels aus.  :hmmm:

canis lupus niger

#13
Mach aber bloß nicht so 'ne nette Augsburger Puppenkiste daraus: Liebe Leser, jetzt erzähle ich Euch erstmal wer ich bin und warum ich das hier mache ... ! Das passt nicht zum Thema.

Fianna

#14
Wenn Du mittendrin wechselst, finde ich das nicht so sehr schlimm, nur der Wechsel sollte dann konsequent bis zum Szenenende durchgehalten werden.
Beispielsweise redet der Geist mit dem Protagonisten. Dieser rastet aus und Du machst deutlich, dass er den für das Produkt seiner Entzugserscheinungen oder so hält.

Dann Bruch (nicht nur Absatz, sondern auch Leerzeilen - bzw. besser wäre es, ein neues Kspitel zu machen) und Du schliesst nahtlos an, nun aber in der Ich-Perspektive des Geistes. Wenn der fertig ist, (wieder) neues Kapitel zum Protagonisten - da aber besser nicht mehr nahtlos anschliessen (meine Meinung), also wichtige Informationen entweder bis zum Auftreten des Geistes geben oder später als Rückschau aufgreifen.

Edit:
Kapitel finde ich nicht nur schöner, sondern auch strategisch am sinnvollsten. Du musst ja immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner planen, d.h. den Leser ohne historische Vorkenntnisse, oder der nicht wichtiges prägendes Fantasy-Buch X dieses Genres gelesen hat, oder der sehr unaufmerksam ist bzw. immer nur 5 Minuten zwischen Tür und Angel Zeit findet.
So einen Leser kannst Du am ehesten bei deutlicher Abgrenzung durch Kapitel mitnehmen.