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[Medizin/Geschichte] Behandlung Schizophrenie-Kranker 1880 in England

Begonnen von traumfängerin, 09. Mai 2015, 14:57:11

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traumfängerin

Ich stehe gerade vor einem Problem, bei dem ich eure Hilfe brauche. Die junge Protagonistin aus meinem "Traumfalken" wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, da sie zwanghaft besessen von einer Feder ist, von der sie glaubt, sie könne diese in einen Mann verwandeln, sich verfolgt wähnt und schon zum zweiten Mal ihr Zimmer zerlegt hat. Vielleicht würde man das heute als Schizophrenie diagnostizieren, damals gab es den Begriff allerdings noch nicht.

Das alles spielt in England um 1880. Zur Behandlung Schizophrenie-Kranker ab 1910 habe ich etliches gefunden. Zur Behandlung bis 1840 habe ich auch einiges gefunden. Aber nichts zu dem Zeitraum, den ich brauche.  :brüll: Noch dazu habe ich Anna ins Bethlem-Hospital in London verfrachtet, das zu früheren Zeiten einen überaus schlechten Ruf hatte, zu dieser Zeit jedoch der non-restraint-Strategie folgte, was bedeutete, dass auf die Kranken keinerlei Zwang ausgeübt wurde und insgesamt die Lebensbedingungen in den Anstalten verbessert wurden (Einzelzimmer, ausgebildetes Pflegepersonal, Möglichkeiten zur Weiterbildung usw.). Ich habe gefunden, dass es im Bethlem-Hospital unterschiedliche Abteilungen für heilbare und unheilbare Kranke gibt, ich weiß auch, wie es dort aussah, und dass die Patienten lesen durften, ausgebildet wurden, einen Gemüsegarten hatten, in dem sie arbeiteten, einen Hof, einen Park und einen Bauer mit süßen, kleinen Vögeln - nette Informationen, aber nicht wirklich hilfreich.

Eine Arbeitstherapie, zum Beispiel im Gemüsegarten, ist das einzige, was ich gefunden habe. Nur wie versuchen sie, die Kranken zu heilen? Nur durch Arbeit und freundliche Gespräche? Und was tun sie, wenn Patienten selbstverletzendes Verhalten zeigen? Es gibt zwar so etwas wie eine Gummizelle, aber wie hindern sie Patienten daran sich selbst blutig zu kratzen? Haben sie die Patienten durch Mohnsaft beruhigt oder haben sie doch so etwas wie die Behandlung durch Eiswasserbäder gemacht, um die Kranken von ihrer Schizophrenie zu heilen?

Eine andere Möglichkeit, Annas Krankheit zu erklären, wäre, dass sie hysterisch war. Dies war wohl eine weitverbreitete Diagnose bei Frauen Ende des 19. Jahrhunderts. Als Therapie wurde empfohlen, dass diese Frauen möglichst schnell heiraten und Kinder bekommen sollen - was mir jetzt auch nicht wirklich weiterhilft. Auch die Stimulation bis hin zum Orgasmus (da man glaubte, eine Verspannung der Gebärmutter sei Schuld am hysterischen Zustand) ist nicht ganz das, was ich suche.

Aber vielleicht kennt ja einer von euch eine Behandlungsmöglichkeit von Schizophrenie- oder Hysterie-Kranke, die man auch in einer möglichst zwangsfreien Anstalt in England um 1880 herum durchführen würde. Wenn diese Behandlungsmethode zusätzlich noch zu einer Fehlgeburt führen könnte, wäre das perfekt.

Vielen Dank schon einmal für eure Hilfe.  :knuddel:

Vic

Ich habe hier was zur Hydrotherapie gefunden (http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2009/7270/pdf/RohnertKoch_2009_10_08.pdf) eine recht aktuelle Abschlussarbeit. Also Wasserbäder und sowas scheinen sie sehr hilfreich gefunden zu haben.
War das schon die Zeit der Lobotomie? Weil das wurde ja auch recht gerne gemacht ...

Ich fürchte es hatte auch viel damit zu tun, wie viel Geld und Einfluß man damals hatte wie gut man damals in einer Psychiatrie behandelt wurde.

"Arbeitstherapie" ist, fürchte ich, nicht so schön wie es klingt. ;) Da wurde man vermutlich ganz schön geschunden und durfte nicht nur Socken stricken.
Immer dran denken, Oscar Wilde ist an den Folgen seiner Arbeitstherapie (die er wegen Homosexualität bekommen hat) gestorben...

Also ob das wirklich so schön und idyllisch war, kann ich mir nicht vorstellen. Als Tipp - es gibt erstaunlich viele Fälle von Frauen die zu Unrecht in die Psychiatrie gesperrt wurden (meistens von ihren Männern, die sie loswerden wollten) und jahrelang nicht mehr raus gekommen sind. Louisa Lowe z.b.
Vielleicht findest du was Biographisches zu?   

traumfängerin

Danke, Vic!  :knuddel: Das mit der Hydrotherapie sehe ich mir gleich an.
Lobotomie kam erst irgendwann nach 1910 auf, ebenso wie die Elektroschocktherapie.

Zitat von: Vic am 09. Mai 2015, 15:09:19
"Arbeitstherapie" ist, fürchte ich, nicht so schön wie es klingt. ;) Da wurde man vermutlich ganz schön geschunden und durfte nicht nur Socken stricken.
Immer dran denken, Oscar Wilde ist an den Folgen seiner Arbeitstherapie (die er wegen Homosexualität bekommen hat) gestorben...
Das klingt gut.  :darth: Wobei es bei den Frauen wohl tatsächlich viele typisch weibliche Arbeiten waren, wie Nähen und Stricken. Zudem waren die Patientinnen im Bethlem Hospital für die gesamte Wäsche des Krankenhauses zuständig.

ZitatAls Tipp - es gibt erstaunlich viele Fälle von Frauen die zu Unrecht in die Psychiatrie gesperrt wurden (meistens von ihren Männern, die sie loswerden wollten) und jahrelang nicht mehr raus gekommen sind. Louisa Lowe z.b.
Vielleicht findest du was Biographisches zu?   
Über Louisa Lowe bin ich auch bereits während meiner Recherchen gestolpert. Aber der Tipp mit dem Biographischen ist gut. Danke!  :)

traumfängerin

So, jetzt habe ich die Doktorarbeit zur Hydrotherapie durchgearbeitet. Tatsächlich klingt das nach einer Therapiemöglichkeit, die auch im Bethlem-Hospital zu dieser Zeit angewandt worden sein konnte, da dort die Baderäume explizit erwähnt wurden. Besonders interessant finde ich die Behandlung durch tagelange Vollbäder bei 32-35 Grad, um Patienten nach Anfällen zu beruhigen. Genau so etwas werde ich Anna erleiden lassen. Vielen Dank noch einmal, Vic.  :knuddel:

Da sie allerdings über Wochen im Bedlam sein wird, würde ich mich über weitere Therapiemöglichkeiten freuen.  :)

Maja

Wegsperren. Das ist leider in der Zeit die effektivste Behandlungsmöglichkeit für Schizophrenie. Die Lobotomien sind erst ab den 1950ern wirklich verbreitet gewesen (und wenn die Figur ein Prota war, ist sie danach ein Fall für die Tonne), und die modernen Psychopharmaka gibt es noch nicht, noch nicht einmal ihre Vorläufer.

Die Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen waren geprägt vor allem von Hilflosigkeit. Auch die Diagonsemöglichkeiten hielten sich in Grenzen - wie du schon schriebst, war der Begriff Schizophrenie noch nicht im Umlauf, auch wenn es die Krankheit selbst natürlich schon gab. Bei Frauen fiel bei psychischen Erkrankungen im Zweifelsfall die Diagnose Hysterie (was darauf geschoben wurde, dass sich die Gebärmutter von ihrem Platz gellöst hatte und im Körper herumwanderte, weswegen ab der Jahrhundertwende Frauen mit Vibratoren therapiert wurden - da ist deine Heldin aber noch zu früh dran). Unbehandelte Schizophrenien bedeuten eine Gefahr für den Kranken durch das stark erhöhte Selbstmordrisiko, aber auch für die Umgebung, weil die Betroffenen in psychotischen Phasen extrem aggressiv werden können. Daher war die übliche Behandlungsmethode, die Kranken wegzusperren, oft permanent, und es dabei zu belassen - effektive Behandlungsmlöglichkeiten gab es eben noch nicht. Du hast nichts darüber finden können, wie sie versucht haben, die Kranken zu heilen, weil es nicht versucht wurde. Es wurde akzeptiert, dass diese Menschen verloren waren, und die Energie vor allem aufgewandt, um sie vor der Welt, insbesondere aber die Welt vor ihnen zu schützen.

Und die Zustände in den psychiatrischen Kliniken damals kann man nicht im Entferntesten mit den heutigen vergleichen. Ich habe keinen Augenzeugenbericht aus Bedlam vorliegen, aber schau dir mal Nellie Blys Reportage "Ten Days in a Madhouse" von 1887 an. Sie war eine Investigativjournalistin, die sich undercover in ein New Yorker Irrenhaus eingeschleust hat, und im großen und ganzen wirst du hier britische und amerikanische Verhältnisse gleichsetzen können, auch wenn es bei dir vielleicht nicht ganz so krass zugehen muss. Nellie Blys Text findest du hier: http://digital.library.upenn.edu/women/bly/madhouse/madhouse.html.

Es ist für uns heute, wo Schizophrenie gut behandelbar ist und man damit sogar ein Autorenforum führen kann ;) schwer vorstellbar, wie schlecht diese Krankheit bis in die siebziger hinein behandelbar war. Die Entdeckung moderner Psychopharmaka war ein Meilenstein, was das angeht. Vorher wurden die Betroffenen mit schweren Beruhigungsmitteln ruhiggestellt, bekamen in öffentlich vorgeführten Operationen ihre Hirnlappen durchtrennt, oder konnten ihr Leben als Zirkusattraktionen in Freakshows bestreiten. Es dauerte einfach lange, bis die Funktionen des Hirnstoffwechsels verstanden wurden, und gerade was Schizophrenia angeht, tappen Forscher heute noch in vielerlei Hinsicht im Dunkeln, wo es um die Entstehung und den genetischen Aspekt geht. Bei Fragen zu dem Thema stehe ich als Betroffene gern zu deiner Verfügung.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Antigone

ZitatEine andere Möglichkeit, Annas Krankheit zu erklären, wäre, dass sie hysterisch war. Dies war wohl eine weitverbreitete Diagnose bei Frauen Ende des 19. Jahrhunderts. Als Therapie wurde empfohlen, dass diese Frauen möglichst schnell heiraten und Kinder bekommen sollen - was mir jetzt auch nicht wirklich weiterhilft. Auch die Stimulation bis hin zum Orgasmus (da man glaubte, eine Verspannung der Gebärmutter sei Schuld am hysterischen Zustand) ist nicht ganz das, was ich suche.

Aber vielleicht kennt ja einer von euch eine Behandlungsmöglichkeit von Schizophrenie- oder Hysterie-Kranke, die man auch in einer möglichst zwangsfreien Anstalt in England um 1880 herum durchführen würde. Wenn diese Behandlungsmethode zusätzlich noch zu einer Fehlgeburt führen könnte, wäre das perfekt.

Da gab es doch auch die gegenteilige "Therapie", nämlich die Entfernung der Gebärmutter... (in der damaligen Zeit sicher auch keine sehr angenehme, geschweige denn sichere OP!). Und eine Fehlgeburt hättest du damit 100%ig herbeigeführt...

traumfängerin

Zitat von: Antigone am 10. Mai 2015, 09:32:56
Da gab es doch auch die gegenteilige "Therapie", nämlich die Entfernung der Gebärmutter... (in der damaligen Zeit sicher auch keine sehr angenehme, geschweige denn sichere OP!). Und eine Fehlgeburt hättest du damit 100%ig herbeigeführt...
Danke, @Antigone:knuddel: Ja, die Behandlung Schizophrenie-Kranker zur damaligen Zeit ist ein wahres Gruselkabinett voller Möglichkeiten.  :gähn: Ich werde den Doktor diese "Therapie" vorschlagen lassen, allerdings wird er sich dann doch dafür entscheiden, Anna lieber so schnell wie möglich zu verheiraten. Die Fehlgeburt wird Anna dann vermutlich deshalb bekommen, weil ich sie körbeweise nasse Wäsche schleppen lasse, die sie im Rahmen der Arbeitstherapie waschen muss.

Danke auch dir, liebe @Maja:knuddel: Ich habe mir den Artikel durchgelesen, der ziemlich grauenvoll ist. Ich vermute, dass die Zustände im Bedlam etwas besser waren, da in England zu dieser Zeit die non-restraint-Theorie allgemein anerkannt und in den meisten Anstalten auch durchgeführt wurde. Allerdings kann ich mir durchaus vorstellen, dass einige Pflegerinnen dennoch die Patientinnen mit Zwang und Grausamkeit behandelten. So oft waren die Ärzte schließlich nicht da, und da viele von ihnen noch eine private Praxis in der Innenstadt hatten, waren sie an ihren verrückten Patientinnen im Bedlam vielleicht auch nicht allzu interessiert. Der Artikel bietet mir eine Fülle an Details, mit denen ich Annas Leben in der Irrenanstalt sehr anschaulich ausgestalten kann.

Danke, ihr Lieben, ihr habt mir wirklich sehr geholfen.  :knuddel: Ich werde Anna jetzt zunächst einsperren lassen, und immer dann, wenn sie ausrastet mit Opium, Morphin oder Laudanum beruhigen lassen. Außerdem bekommt sie ein tagelanges warmes Bad, als weiteres Mittel, um sie zu beruhigen. Der Arzt berichtet ihr davon, dass er die Gebärmutter entfernen könnte, da sie inzwischen aber nicht mehr ganz so verzweifelt und gewalttätig ist, glaubt er an Heilung, will sie noch einige Wochen weiterhin in der Anstalt behalten, wo sie durch die harte körperliche Arbeit in der Wäscherei weiterhin so erschöpft wird, dass ihre Verrücktheit nicht zum Ausbruch kommt, und wenn sie dann als einigermaßen geheilt gilt, soll sie möglichst schnell heiraten und Kinder bekommen, damit ihre Gebärmutter nicht mehr frei in ihrem Körper herumwandert.

Zum Glück für Anna leidet sie nicht wirklich an Schizophrenie, sondern wird nur von der Welt für krank gehalten. Denn wenn sie wirklich krank wäre, wäre sie zu dieser Zeit verloren gewesen. Vielen lieben Dank, @Maja, für dein Angebot, dich zur Schizophrenie noch einmal näher zu befragen. Vielleicht komme ich darauf noch zurück. Du hast mir schon sehr geholfen, indem du von den aggressiven Phasen berichtet hast. Genau das lasse ich Anna nämlich erleben, auch wenn dies nur den Grund hat, dass sie aus der Anstalt herauswill, dies von den Ärzten allerdings ganz anders interpretiert werden kann.

Ich lasse den Thread noch das Wochenende über offen, falls doch noch jemand Kenntnis von einer ungewöhnlichen Behandlungsmethode haben sollte, danach werde ich ihn auf erledigt setzen.

Aljana

Einige Artikel, wie dieser hier, legen nahe, dass bis zur Schussverletzung von Tourette durch eine seiner Patientinnen auch Hypnose als Therapeuticum versucht wurde.
Ob es dir hilft, weiß ich nicht. Aber unter Umständen kannst du deinen Prota so auch fremdgesteuert Dinge tun lassen, die vielleicht nicht unbedingt ihrem Wesen entsprechen und zu ihrem mentalen Trauma betragen können. Stress und schwere körperliche Arbeit halte auch ich für die plausibelste Ursache einer Fehlgeburt, wenn du sie nicht gleich für immer unfähig haben willst, Kinder zu bekommen.

http://historyofmentalhealth.com/category/1880-1899/

traumfängerin

@Aljana: Danke für den Hinweis mit der Hypnose, ich habe mich dann gleich mal schlaugemacht. Tatsächlich hat man um diese Zeit Hypnose bei Hysterikern angewandt, allerdings als Schaueffekt (evtl. kann man sich das so ähnlich vorstellen wie bei Thomas Manns "Mario und der Zauberer") und nicht als Therapie. Ungefähr 1880 bis 1885 entstanden die ersten wissenschaftlichen Forschungen zur Hypnose als Therapie, vor allem in Frankreich. Von diesen ließ sich später Freud inspirieren für seine Psychoanalyse. Wenn ich das richtig verstanden habe, gab es um 1880 herum also bereits erste Ansätze, Hypnose als Therapie bei Geisteskranken einzusetzen, allerdings war dies noch nicht in der Behandlungsmethodik etabliert. Wäre Anna in Behandlung eines privaten Arztes könnte diese Behandlung durchaus denkbar sein. Doch ich fürchte, eine staatliche Anstalt wie das Bethlem-Hospital war nicht innovativ genug, um eine solche Behandlung auszuprobieren, bevor sie allgemein anerkannt war.

Danke dir aber dennoch dafür.  :knuddel: Ich behalte die Hypnose als theoretische Möglichkeit im Hinterkopf.  :)

traumfängerin

Noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle Helfenden.  :knuddel: Ich habe jetzt eine sehr beklemmende Szene im Bethlem Hospital geschrieben und mehr als ausreichend Material für die folgenden. Danke euch!  :)

Und damit kann der Thread ins Archiv verschoben werden.