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Wie krass ist zu krass?

Begonnen von heroine, 19. März 2015, 12:33:24

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Lothen

#15
Zitat von: pink_paulchen am 19. März 2015, 17:10:58
Jedenfalls meine ich: Es müssen ein Autor, der das kann und sich traut und ein Leser, der es genießen kann, aufeinander treffen.
Das ist wirklich ein wichtiger Punkt! Ich zum Beispiel weiß von mir, dass ich sehr viel wegstecken kann - und dass ich auch nicht davor zurückschrecke, selbst krasse Dinge zu fabrizieren. Aber ich akzeptiere das durch und durch, wenn jemand sagt: "Sorry, zu heavy, lass mal!"

Irgendjemand (ich finde den Post gerade nicht mehr - vielleicht ist das auch durch das Mod-Chaos verschwunden?) schrieb vorhin auch etwas, das ich noch einmal aufgreifen möchte: Ich kann es auch nicht leiden, wenn ich das Gefühl habe, da wird extreme Gewalt regelrecht zelebriert und alles, was der Autor will, ist noch einen oben drauf setzen. Schockieren um jeden Preis. Aus diesem Grund bin ich auch kein großer Fan von billigen Splatterfilmen ohne Hirn und Handlung.

Extreme Entwicklungen werden, in meinen Augen, nämlich vor allem durch die psychologische Komponente interessant: Wie wirkt diese Erfahrung auf den/die Prota? Wenn der/die Prota durch 100 Höllen geht und sämtliche menschlichen Abgründe sieht und danach immer noch derselbe Typ ist wie vorher, dann fände ich das seltsam. Wie eine solche Entwicklung aussieht, hängt natürlich immer vom Charakter ab - aber irgendeine Entwicklung erwarte ich!

Ich finde es total spannend, dass du das Thema aufbringst, Heroine, ich hatte mich nämlich auch schon damit auseinandergesetzt. Allerdings fällt es mir schwer, ein abschließendes Urteil zu fällen zur Frage: "Was ist zu viel?" Ich glaube, da kann ich nur mit dem nichtssagenden "Das kommt darauf an" kontern. ;)

Rein vom Gefühl her würde ich ja behaupten, es sei zu viel, wenn man seine/n Prota misshandelt, vergewaltigt, entstellt, verschleppt und noch ein paar seiner/ihrer Liebsten umbringt. Aber dann werfe ich einen Blick in meinen aktuellen Roman und stelle fest: "Genau das hab ich gemacht." ;D Und es kommt mir alles realistisch und passend vor. Zumal jedes dieser Erlebnisse die Prota ein stückweit geformt hat.

Zitat von: DämmerungshexeIst es nicht spannend mal wirklich den absoluten Absturz zu inszenieren/zu verfolgen?
Wenn es gut gemacht ist, dann sicherlich - allerdings würde ich wahrscheinlich eher bei einem Roman "am Ball" bleiben, wenn ein Gegenpol geschaffen wird. Ein Lichtblick. Eine Prise Humor. Skurrilität. Wenn die Sache zu ernst und schwer wird, hätte ich wahrscheinlich Probleme, mich zum Weiterlesen zu animieren.

Sipres

Zitat von: Lothen am 19. März 2015, 17:25:02Wenn es gut gemacht ist, dann sicherlich - allerdings würde ich wahrscheinlich eher bei einem Roman "am Ball" bleiben, wenn ein Gegenpol geschaffen wird. Ein Lichtblick. Eine Prise Humor. Skurrilität. Wenn die Sache zu ernst und schwer wird, hätte ich wahrscheinlich Probleme, mich zum Weiterlesen zu animieren.

Dafür habe ich gerne meine Nebencharaktere. Sie lockern das ganze auf und lassen den kaputten Prota nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Angela

Was ist zu krass? Das ist auch und gerade eine Frage des Zeitgeistes. Was im Moment als 'normal' durchgeht, finde ich häufig unerträglich und wirkt auf mich dazu auch wirklich billig, im Sinn von Effekthascherei mit dem Holzhammer. Bei Thrillern und Krimis ist das zum Teil einfach nur ekelhaft. Noch schlimmer, immer perverser muss es sein. Dabei gibt es Meister wie Minette Walters, die grausamste Dinge geschehen lässt, ohne sie ausführlich zu beschreiben. Der Leser versteht auch so, wie abgründig der Täter tickt, wie sehr das Opfer leidet. Das ist in meinen Augen eben die wahre Kunst.

Erzbrecher

#18
Zu viel ist, wenn der Charakter nur noch als Schockmoment herhält, ohne durch seine Motivation oder Aktionen die Handlung zu unterstützen. Eine Geschichte führt von A nach B. Sie verändert die Protagonisten und führt sie höher oder tiefer. Zu viel ist, wenn der Charakter in einer Sackgasse steht und nicht mehr fähig ist, innerhalb der Handlung eine Position oder Interaktion durchzuführen, mit der die Geschichte weitergeht.

Neon Genesis Evangelion...Shinji Ikari...ich verstehe, dass es da um Depressionen etc. ging und das ist auch Stoff, der verarbeitet gehört. Aber in einer Welt, die am Abgrund steht, weil biblische Ungetüme das Dasein der Menschheit beenden wollen, ist jemand so dermaßen Handlungsunfähiges manchmal nervtötend für ein Publikum, das sehen will, wie sich die Situation entwickelt. Wenn er da an der Hand zu seiner Eva gezerrt werden muss, während das HQ angegriffen wird und seine Freunde herum draufgehen. Und völlig verschissen hatte er dann, als er sich vor der bewusstlosen Oska einen von der Palme wedelt und dann voller Selbstmitleid in seine Hand schaut. Soll ich wütend auf ihn sein? Angewidert? Entschuldigung, geht es nicht um riesige Monster??! Wieso ist diese Szene hier?!

Es muss in den Kontext passen und im Rahmen der Geschichte Sinn ergeben. Habe ich jemanden, der mit dem Leben abgeschlossen hat, dann kann er am Ende einen heroischen Tod sterben, der bitter schmeckt, weil er eh nicht mehr leben wollte oder etwas finden, eine Motivation, die ihn zwingt, sich mit Leben, Vergangenheit etc zu arrangieren. Ein Happy End ist da immer noch keine Garantie. Hauptsache, der Protagonist kann die Geschichte tragen, statt nur zu schocken oder Mitleid zu erregen. Gerade den Fertigsten wünscht man in einer Story, irgendwie über den Schmerz hinauszuwachsen und in der Geschichte etwas zu erreichen.

Vic

Also persönlich habe ich nicht so viel Spaß dabei zu lesen wie ein Charakter unrettbar kaputt gemacht wird ohne jede Aussicht wenigstens halbwegs wieder "okay" zu werden.
Es muss nicht immer alles super gut enden.
Aber eine Geschichte wo ich auf 500 Seiten verfolgen muss wie ein Charakter systematisch zerstört wird, würde ich nicht lesen.
Andererseits würden das sicher viele andere ... also ...?

Sturmloewin

Also ich beschäftige mich in meinem aktuellen Projekt auch mit einem sehr kaputten Menschen und ich habe auch ehrlich gesagt nichts gegen solche Geschichten, im Gegenteil. Ich finde so etwas oft ziemlich spannend.
Problematisch  wird es eher für mich, wenn entweder a) wie Vic sagt, ein Charakter eine ganze Geschichte über einfach nur systematisch zerstört wird, ohne dass wirklich der Sinn dahinter klar wird. Das heißt, selbst wenn es kein Happy End gibt, sollte doch wenigstens ein Sinn aus dem Leiden entstehen, oder?
Oder b) ein Charakter durch ganz ganz viel Leid und Schmerz und Grausamkeiten geht, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich finde es dann einfach unglaubwürdig, wenn die Personen gar nicht berührt werden, wie zum Beispiel Shedzyala es beschreibt.
So when the world knocks at your front door
Clutch the knob tightly and open on up
And run forward and far into its widespread, greeting arms
With your hands outstretched before you
Fingertips trembling, though they may be
--- Anis Mojgani "Shake the Dust"

funkelsinlas

Also ich finde, dass Protas bis zu einem gewissen Punkt noch funktionieren sollten. Ein total kaputter Prota kann nicht mehr die Geschichte tragen, außer aus Rache.
Ich mag aber auch Charaktere, die durch die Hölle gehen müssen. Keine Ahnung warum, aber ich find das spannend.  :darth:
Plotte auch gerade an einer Geschichte, wo meine eine Hauptperson (General, weiblich) von ihrem König immer wieder vergewaltigt wurde, weil er ihren Willen so einfach brechen konnte und etwas gegen sie in der Hand hatte. Dessen Herrschaft beruhte einfach auf solchen Dingen. Keiner der Macht hatte, durfte sich gegen ihn stellen können. Dass sie ein nervliches Wrack ist, ist klar. (Warum noch mal ist man so fies zu seinen Lieblingsfiguren??? :hmmm:)
Diese Folgen sind aber, wie Regentänzerin schon gesagt hat, wichtig. Ein Charakter muss davon gezeichnet werden, sonst ist es unwahrscheinlich. Außerdem sollte die Gewalt einen Platz in der Geschichte haben. Find es immer doof, wenn das noch schnell eingebaut wird, weil es sonst so unblutig ist. Gummistiefel sollten nur mit Sinn und Verstand eingesetzt werden.
Vielleicht noch ein Tipp. Hab mal ein Patienten über mehrere Rückschläge reden hören: Das psychische war viel schlimmer als die körperlichen Symptome. So leicht hat noch nie jemand eine Krebserkrankung genommen. Gegen psychische Probleme kann man einfach schwerer etwas machen. Da bekommt man gerade bei Vergewaltigung, Folter und Co die Hölle ja jeden Abend aufs neue im Schlaf serviert.

Aljana

Ich grabe diesen thread hier auch mal wieder aus, weil er so schön in mein derzeitiges Gedankenkonstrukt passt. Ich gehe übrigens mit Funkel konform, dass nicht die physischen Schäden die wesentlichen sind. Die Psyche spielt eine sehr große Rolle.

Mehrfach wurde jetzt auch schon die Frage aufgeworfen, warum wir unseren, oft geliebten, Protagonisten ein solches Schicksal geben. Ich selbst kann mich da ja direkt vorne mit einreihen. Mein Hauptcharakter ist am anfang der Geschichte völlig am Ende, seelisch, körperlich steckt sie alles schreckliche, was sie erleben musste erstaunlich gut weg. Ich liebe diesen Charakter und ich will, dass die Leser sie lieben. Warum sie also leiden lassen?
Weil es einfach ist, die Welt zu retten, wenn sie einem noch nichts schlimmes getan hat. Aber als völlig zerstört, gefoltert, vergewatigt, am Ende alles genommen zu bekommen, selbst jene, die man liebt, keine hoffnung darauf zu haben, dass ein tapferer Held einen rettet, erst da, an diesem Punkt kann ein Charakter für mich stark werden, indem er seinen eigenen Wert begreift und sich selbst rettet. Das allerdings glaubhaft und völlig unkitschig zu verpacken ist nicht einfach.
Und ich strauchle immer wieder an der Frage: ist das jetzt zu viel Rumgeheule? kommt der chrakter, der durch all das Elend eigenltich stark wirken soll, jetzt vielleicht doch wie eine Heulsuse rüber ...
Psychisch stark in Mitleidenschaft gezogene charaktere sind eine Herausforderung in vielerlei Hinsicht und ich finde es spannend, das auch ihr so euren Umgang damit sucht.