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Reden schreiben

Begonnen von Sunflower, 12. Juni 2012, 15:24:44

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Sunflower

Hallo, liebe Zirkler.

Es kommt ja immer wieder vor, dass einer unserer Charaktere eine motivierende Rede halten muss und das auch noch vor großem Publikum. Glücklich ist, wer Reden schreiben kann. Ich kann es zum Beispiel nicht. Wenn der Charakter ebenfalls ein ungeübter Redner ist, sind kleine oder größere Patzer ja in Ordnung, aber ein begabter Redner darf sich so etwas nicht erlauben.

Mir passiert es in meinem aktuellen Projekt immer wieder, dass ich einen meiner Charaktere vor ein großes Publikum manövriere. Er will seinem Volk dann meistens die Hoffnung auf eine Zukunft machen oder ähnliches (Das passiert zur Zeit wirklich sehr oft).
Meine Frage: Wie macht ihr das? Schreibt ihr einfach drauf los und hofft, dass die Rede später beeindruckend wirkt? Oder folgt ihr einem bestimmten Aufbau? Ich bin sehr unerfahren, was diese Textart angeht, also hoffe ich, dass ihr mehr Ahnung habt als ich  ;)

PS: Ich bin mir wegen dem Forum nicht sicher, falls es hier falsch ist, bitte verschieben. Ich habe lange zwischen Workshop und Sprachbastelboard geschwankt ...
"Stories are, in one way or another, mirrors. We use them to explain to ourselves how the world works or how it doesn't work. Like mirrors, stories prepare us for the day to come. They distract us from the things in darkness."
- Neil Gaiman, Smoke and Mirrors

Arcor

Ich glaube, ich würde so eine Rede vorher extra plotten. Bisher habe ich so etwas noch nicht geschrieben, aber ich würde dabei denke ich sehr planvoll vorgehen. Also mir erst die einzelnen Themen überlegen, die in der Rede angesprochen werden sollen, mir Argumente dazu notieren und dann versuchen, das ganze in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, sodass es gut und logisch aufeinander aufbaut.

Wenn es eine anspornende Rede sein sollte, ist es sicherlich auch nicht schlecht, sie so aufzubauen, dass zuerst die Probleme/Hindernisse aufgezeigt werden, vielleicht auch die schlechte/aussichtslose Lage, um dann als Ende der Rede einen Appell an den Einsatzwillen/den Glauben o.Ä. zu richten, der das Volk dann anspornt in dem, was es tun soll. Eine Rede sollte auf jeden Fall so schließen, dass sie dem Volk Vertrauen und Glauben in die eigene Stärke gibt und es anstachelt, das gemeinsame Ziel zu erreichen. Etwas Pathetisches vielleicht, wo das Volk dann gemeinsam jubeln kann.
Not every story is meant to be told.
Some are meant to be kept.


Faye - Finding Paradise

Rosentinte

Hallo Sunflower,

Ich persönlich bin ja doch eher Bauchschreiberin bei so etwas, aber ich denke, dass man sich Reden auch erarbeiten kann.
Zunächst ist es wohl wichtig zu wissen: Was will der Charakter mit der Rede erreichen? Was tut er, um sein Publikum anzusprechen und zu überzeugen? Wie ist seine persönliche Meinung zu dem Thema?

Überzeugung des Publikums: Welche Argumente hat der Redner? Was ist die Grundeinstellung des Publikums? Was ist der Anlass der Rede (muss der Redner das Publikum noch von etwas überzeugen oder will er sie nur noch mehr in seinen Bann ziehen?)?

Und schließlich sollte eine Rede auch die ganze Zeit die Aufmerksamkeit des Publikums erhalten. Helfen kann hier, wenn der Redner sich mit dem Publikum identifiziert bzw. sich integriert ("Wir alle wissen..." "Ich habe an eurer Seite gekämpft..."). Argumente, die meistens ziehen, sind auch die, die sich an einzelne Gruppen richten ("All diejenigen unter euch, die verletzt wurden...", "Jeder, der an dieser Krankheit leidet..." "Die Armen/Kranken/Jungen/Alten...").

Es folgt dann noch eine kurze Zusammenfassung, die möglichst prägnant sein sollte, damit der Zuhörer sie noch lang im Gedächtnis behält.

Hilfreich finde ich, zunächst mithilfe des Wikipedia-Artikels die Rede einzugliedern. Zur Rhetorik und zum allgemeinen Aufbau einer Rede siehe auch hier und hier.

LG, Rosentinte
El alma que anda en amor ni cansa ni se cansa.
Eine Seele, in der die Liebe wohnt, ermüdet nie und nimmer. (Übersetzung aus Taizé)

Tintenweberin

#3
Ich würde vermutlich nicht die ganze Rede im Text zitieren, sondern vielleicht nur den Einstieg, dann würde ich einen "Schwenk" zu den Eindrücken, Gefühlen oder Gedanken des Redners machen, eine wichtige Kernaussage und die "famous last words" noch einmal im O-Ton erklingen lassen und dann die Reaktionen der Zuhörer, die Stimmung im Saal oder ähnliches einfangen.

Snöblumma

Als Inspiration und Schnellhilfe empfehle ich immer wieder gerne die Lektüre der Klassiker:

Einmal die Rede von Mark Anthony aus Julius Ceasar von Shakespeare, III. Akt, 1. Szene: "Friends, Romans, Countryman". Diese Rede ist gerade das klassische Vorbild aller Mittel, mit denen man es schafft, ein eigentlich feindlich gestimmtes Publikum vom Gegenteil zu überzeugen.

Für heroische Reden ebenfalls inspirierend: Henry IV, ebenfalls von Shakespeare, III. Akt, 1. Szene: Dieses berühmte "once more" ist der Klassiker für alle motivierenden, aufrüttelnden Reden in Schlachtsituationen, finde ich.

Daneben hilft es wahrscheinlich ganz allgemein, sich mit Rhetorik auseinanderzusetzen und die rhetorischen Mittel genau zu kennen. Das hilft nicht nur beim Schreiben, sondern im Leben ganz allgemein. Rhetorikkurse besuchen ist unwahrscheinlich aufschlussreich, und ich muss sagen, seit ich mich damit wirklich beschäftigt habe, habe ich auch kein Problem mehr damit, Reden zu schreiben. Ganz im Gegenteil... ich liebe es :). Ich blende dabei auch selten aus, sondern gehe eher bis zum Schluss.

Wobei aber immer die Grundregel aller öffentlichen Reden gelten sollte: tritt fest auf, mach's Maul auf, hör bald wieder auf. Lapidar und etwas derb, aber wenn man sich daran hält, funktioniert es meistens, zu überzeugen. Auch ohne echte Argumente.

caity

#5
Hallo Sunflower,

ich kann dir sonst auch Joachim Knapes "Was ist Rhetorik" empfehlen, da geht er besonders am Anfang darauf ein, was einen guten Rhetoriker ausmacht. Reden zu verfassen ist definitiv eine Kunst für sich, aber auch da gibt es Kniffe, Handwerk, das man lernen kann. Ich würde mich da wirklich eher an die Theorien halten und mit Beispielen vergleichen, weil Beispiele alleine imho noch nicht reichen - es sei denn, man ist begnadet darin, so etwas zu analysieren, was ich z.B. nicht mit *räusper*.

Knape erklärt z.B, dass das "Vor-Augen-führen" eine gute Taktik ist. Er nimmt da das Beispiel der Grabrede an Julius Caesar, bei dem der Redner durch Verweis auf den unschuldigen Leichnam, der ja neben ihm liegt, die Brutalität der Mörder anprangert, und somit das Volk gegen die Caesar-Mörder wendet.

Weitere Möglichkeiten fallen mir momentan leider nicht ein, wenn du magst kann ich dir aber mal die Stichworte schicken, die ich mir für meine Hausarbeit zusammengeschrieben hatte. Da ging es mehr um die Frage, ob die Rhetorik einen Einfluss auf die Predigtarbeitet hat / haben soll, aber dadurch habe ich natürlich auch damit beschäftigt, was Rhetorik überhaupt ist. Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass dir das etwas bringt.

Bis dann!
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Zanoni

Wirkungsvolle Reden appellieren auch immer an die Gefühle, oder rufen solche hervor. Bei einzelnen Menschen kann man logisch-sachlich argumentieren und überzeugen, aber große Menschenmengen sind eher auf der Gefühlsebene zu erreichen.

Churke

Zitat von: Snöblumma am 12. Juni 2012, 15:43:03
aber wenn man sich daran hält, funktioniert es meistens, zu überzeugen. Auch ohne echte Argumente.

Argumente sind unnütz. Die Zuhörer sollen nicht nachdenken, das ist viel zu schwierig, sie sollen die Forderung emotional übernehmen. Da appelliert man an das Bauchgefühl und weckt den gerechten Zorn. Immer wieder gut sind hier agitatorische Metaphern. "Heuschrecken", "Bankster", "Steuerbetrüger", "Ratinghuren".
Fordert man Opfer ein (die Zuhörer bei Verständnis der Sachlage verweigern würden), spricht man von "Solidarität", "Schicksalsgemeinschaft", "Nothilfe" und verspricht den nahen Endsieg.
Ist die Lage wirklich aussichtslos, dann ist die Rede von "Fahnenflucht", "Drückebergerei", "Verrat"  und dem Wunder von Bern oder so ähnlich.

Sehr lehrreich auch die propagandistische Orchestrierung der Euro-Krise. In jeder Kolumne neue Stimmungmache mit weiteren Gefühlsappellen. Einfach lesen und die Stilmittel analysieren.  ;)

Sunflower

Wow, vielen Dank für eure vielen Antworten!

@Arcor: Ich denke, all zu viele Argumente werde ich nicht einbringen, vor allem, weil es sich bei diesen speziellen Reden mehr um Gefühle handelt und um Hoffnung-Geben. Das ist zu abstrakt für konkrete Argumente, vor allem aber haben gerade viele Freunde und Familienmitglieder verloren - sie sind gar nicht empfänglich für Argumente.
Aber das Plotten an sich ist eine gute Idee (und so viel Arbeit  :d'oh:). Dein Vorschlag für einen Aufbau finde ich auch ziemlich hilfreich.

@Rose: Danke für deine Links! Das Integrieren ist sicher eine gute Idee, vor allem, weil sich das Publikum in einer so verzweifelten Situation befindet. Normalerweise bin ich auch mehr die Bauchschreiberin, aber als ich die Rede schreiben sollte ... Erst hatte ich eine totale Blockade und dann ist mir nur Unsinn eingefallen.

@Tintenweberin: Das gefällt mir auch - so etwas liest man ja auch oft, wie mir gerade auffällt. Vor allem ist das dann ein bisschen weniger Arbeit :D

@Snö: Dann werde ich mich wohl man an Shakespeare-Lektüre machen. Das ist auf jeden Fall ein guter Tipp, danke. Ob ich in nächster Zeit einen Rhetorikkurs besuchen werde, ist eher fraglich, aber ich behalte es im Hinterkopf, falls es sich mal ergeben sollte. Ansonsten werde ich zumindest jede Menge darüber recherchieren (wo mir das doch so viel Spaß macht).

@caity: Das Buch kann ich auf jeden Fall mal in der Bibliothek suchen, wenn ich das nächste Mal in die Stadt komme. Das klingt ja ziemlich hilfreich und Theorie ist wichtig, auch wenn ich sie nicht wirklich mag. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du mir gerne deine Stichworte schicken :)

@Zanoni: Ja, ich denke, Gefühle werde ich viele reinbringen. Eine große Menge hitzt sich ja auch gegenseitig auf - da ist das sicher einfacher.

@Churke: Solche Begriffe sind auch eine gute Idee. Zwar passen die der Euro-Krise nicht so ganz zum Thema, aber als allgemeine Inspiration sind sie sicher hilfreich. Ich werde ab sofort mehr Nachrichten schauen und Zeitung lesen  :) Und auch das mit dem Gefühle-Ansprechen ist echt ein wichtiger Tipp, der ja mehrmals genannt wurde.

Fazit: Es liegt viel zu viel Arbeit vor mir und ich bin so faul  ::) Aber am Wochenende schreibe ich dann eine Rede, von der zumindest das Publikum in meiner Geschichte begeistert sein wird  8)
"Stories are, in one way or another, mirrors. We use them to explain to ourselves how the world works or how it doesn't work. Like mirrors, stories prepare us for the day to come. They distract us from the things in darkness."
- Neil Gaiman, Smoke and Mirrors

Simara

Wir hatten "Reden schreiben" als Unterrichtseinheit in Englisch. Da haben wir diese ganzen "must-haves" (Wie hier glaube ich schon genannt: "Wir"-Gefühl erzeugen, Publikum direkt ansprechen, auf Gefühlsebene "arbeiten", an den richtigen Stellen Pausen setzen, wichtige Dinge ruhig widerholen/ Parallelismen einsetzen.) sooft oft geübt, dass sich die Reden relativ gut von alleine schreiben. Wenn es dann doch mal hakt, lese ich mir am liebsten Reden von Emma Goldman durch. 

Naudiz

Wow, mir wird erst jetzt, wo ich lese, dass ihr euch mit diesem Thema echt auseinandersetzen müsst, klar, wie verdammt gesegnet ich sein muss. Ich kann solche Reden nämlich aus dem Bauch heraus schreiben, und bisher kam darauf von den Testlesern immer recht positive Resonanz, die Message habe ich also immer gut rübergebracht. Wobei meine Mono- und Dialoge sowieso immer ziemlich lebensnah sind (das ist der Vorteil, wenn man "Stimmen im Kopf" hat  ;D)

Argumente bringen bei großen Massen wirklich sehr wenig, da kann ich meinen Vorrednern schreibern nur zustimmen. Was auch immer schlecht kommt, sind Fachausdrücke, gerade, wenn der strahlende Held vor einfachem Volk redet. Pathetisch darf so eine Rede natürlich sein, aber ich finde, man sollte es damit nicht übertreiben. Wie so oft im Leben gilt das Motto: Die Mischung macht's.

Sprotte

Shakespeare kann auch ich nur von Herzen empfehlen.
Heinrich V: Rede am Sankt Crispianus-Tag.
"Wir glücklichen wenigen." Wahnsinn.

Sunflower

@Simara: Wieso lerne ich sowas nicht in Englisch?  ::) Aber Emma Goldman merke ich mir, ihre Reden werde ich mir dann auch mal anschauen, wenn ich meine Motivation wiedergefunden habe. Danke!

@Naudiz: Das freut mich für dich  :D Normalerweise machen meine Charas auch quasi alles alleine, ich muss nur "mitschreiben" - wenn du weißt, was ich meine. Aber Jiyian (ja, der Jiyian) hat keine Ahnung von Reden und ich auch nicht. Er sollte aber ein Naturtalent sein, um sein Volk wieder aufzubauen. Argumente werde ich wohl nur wenige einbringen, wenn mir so einstimmig davon abgeraten wird. Aber viele hätte ich sowieso nicht gefunden.

@Sprotte: Ich sollte wirklich mal Shakespeare lesen. Nach der Rede schaue ich dann auch mal.
"Stories are, in one way or another, mirrors. We use them to explain to ourselves how the world works or how it doesn't work. Like mirrors, stories prepare us for the day to come. They distract us from the things in darkness."
- Neil Gaiman, Smoke and Mirrors

Lisande

Ich habe noch nie eine Rede für einen Charakter geschrieben, aber ich hatte Anfang des Jahres ein Rhetorik-Seminar und habe da etwas erschreckendes gelernt: gerade einmal 7%! einer Rede werden über den Inhalt vermittelt. Den Rest machen Körpersprache und Betonung. (Ich habe die Unterlagen im Büro, deswegen kann ich jetzt nicht genau nachsehen). Richtig heftig fand ich es, dass ein Teilnehmer des Seminars dafür auch sofort ein Beispiel parat hatte: er musste eine Rede analysieren, die er als grottenschlecht, langweilig und ohne bleibenden Eindruck eingestuft hat - bis er zu der Frage kam "Wollte ihr den totalen Krieg?" Es war die Goebbels-Rede im Berliner Sportpalast - die ja, wie man aus der Geschichte weiß, auf das Publikum einen gewaltigen Eindruck gemacht hat. Ich muss dazu sagen: ich habe diese Rede nie komplett gehört oder gelesen, immer nur in Auszügen, ich kann also nicht beurteilen, ob ich sie genauso einstufen würde - aber trotzdem fand ich das Beispiel sehr anschaulich.

Insofern kann man sich vielleicht damit helfen, wenn man selber Reden nicht gut schreiben kann, dass man schon im Vorfeld den Charakter darüber nachdenken (oder mit jemand anderem reden) lassen kann, frei nach dem Motto: es ist gar nicht so wichtig, was Du sagst - das Wie ist entscheidend!

Sprotte

Hier die deutsche Fassung der St. Crispianusrede aus Henry V (Ulrich Matthes ist Branaghs Synchronsprecher, und er ist brillant)
http://youtu.be/N59BcT6Sh4A

Englische Fassung
http://youtu.be/OAvmLDkAgAM