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[Geschichte] Adeliges Abendessen im viktorianischen England

Begonnen von Maja, 14. Oktober 2016, 04:22:26

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Maja

Ich brauche gerade ein bisschen kulinarische Nachhilfe von der Victorianer-Fraktion. Meine in einfachsten Verhältnissen aufgewachsene Heldin muss ihr erstes Abendessen im Kreise ihrer neuen adligen Familie einnehmen, und weil das alles neu und fremd für sie ist, sollte ich zumindest erwähnen, was es gibt.

Es handelt sich um ein normales Samstagabendessen im Jahr 1871 - kein Festmahl mit Besuch, sondern nur die Familie des Earls, die aber nicht klein ist. Ich denke, ein klassisches englisches Vier-Gang-Menu sollte ausreichen  - also Suppe, Fischgang, Hauptgang und Pudding, wobei ich im Internet Speisepläne mit bis zu vierzig Gängen gefunden habe und nicht wirklich sicher bin, ob meine vier Gänge dann ausreichen.

Als Vorspeise würde ich gerne Mockturtlesuppe servieren, weil ich versuche, so viele Anspieleungen auf "Alice in Wonderland" wie irgendwie möglic unterzubringen. Aber würde Mockturtlesuppe überhaupt auf einen Adelstisch kommen, oder ist das die Alternative für die Middle Class? Muss ich stattdessen echte Schildkröten auftischen?

An Fischrezepten habe ich verschiedene victorianische Lachsrezepte gefunden, aber man darf natürlich die Verfügbarkeit nicht vergessen, der Koch kann nicht einfach in den Tesco gehen und kaufen, was immer er will. Es ist jedenfalls noch keine Austernsaison, und wir befinden uns nicht in Küstennähe.

Für den Hauptgang stehe ich völlig auf dem Schlauch. Lammsaison ist vorbei, nehme ich dann eher Schwein oder Rind? Ist Braten eine Sonntagssache, oder gab es ein typisches Samstagsessen?

Und für den Nachtisch möchte ich gern eine Charlotte servieren, schon um unserer @Charlotte, die mir immer so lieb hilft, ein kleines Denkmal zu setzen. Nach allem, was ich herausgefunden habe, war die Charlotte ein im viktorianischen England sehr beliebter Nachtisch, aber es existieren zig verschiedene Versionen. Muss ich da ins Detail gehen?

Ich hoffe sehr, ihr könnt mir helfen. Ich hänge mich im Moment an zig kleinen Details auf, die alle verhindern, dass ich vorankomme, und über meiner Speisekarte habe ich gerade einen ganzen Schreibtag verloren, ohne wirklich auf einen grünen Zweig zu kommen.


EDIT
Damit ich den Link morgen wiederfinde: Diese Dokumentation über victorianische Cuisine sieht hilfreich aus. Muss ich morgen gucken. https://www.youtube.com/watch?v=t5dr8WSPhzw
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Koboldkind

Was die Verfügbarkeit angeht, ich bin mir nicht ganz sicher, aber zum ende des 19.Jh dürften auch Eisschränke sich etabliert haben, in Adelskreisen sicher zuerst. Damit könnten auch erste Meeresfrüchte etwas weiter ins Land gekommen sein.

Zum Fleischgang: Wild ist Herrschaftlich, das gab es bei ihnen sicher öfter als gewöhnliches Schwein (allerdings gehe ich da noch von mittelalterlichen/aufklärungs- Verhältnissen aus, wo Essen von Reh = Wilderei = Tod für den Bauern bedeutete). Ob der Braten auch in England so zelebriert wurde wie man den Sonntagsbraten in Deutschland kennt, würde ich spontan auch in Frage stellen.

Zur Charlotte: Wenn die Grundidee der Protagonistin bekannt ist (sicher haben auch Mittel- und Unterschicht ihre Versionen davon), dann mach einen Geschmack, eine Zutat zum hervorstechenden Merkmal, dass dies ein Oberschichten-Nachtisch ist. Statt Äpfeln lieber Feigen oder Ananas, statt Rübenzucker Kardamom oder Vanille, Safran wäre natürlich das Gewürz in Gold :)
Wer jetzt nicht wahnsinnig wird, muss verrückt sein.

Kati

#2
In Adelskreisen sind beim normalen Familiendinner meist bis zu sieben Gänge üblich gewesen, obwohl ich denke, dass du mit vier Gängen auch gut dabei bist. Es kommt da auch stark darauf an, was die Familie gewohnt ist oder einfach, wie sie es bevorzugt, wenn keine Gäste anwesend sind. Falls du einen fünften Gang hinzufügen willst, würde ich einen Entrée-Gang vorschlagen. Das können Früchte sein (je exotischer, desto besser) aber auch ein bisschen kaltes Fleisch. Vielleicht Truthahnstreifen oder so etwas. Dieser Gang kommt noch vor der Suppe, wichtig ist nur, dass es leichtes Essen ist und er kalt serviert wird. Ansonsten (oder noch dazu) ginge auch ein kleiner Salat nach dem Hauptgang für einen zusätzlichen Gang.

Man hat auch im Kreise der Familie ganz gern mit dem, was auf den Tisch kam, seinen Status und Reichtum ausgedrückt (vor sich selbst eben, man wollte seinen Luxus ja auch leben), weshalb ich fast denke, dass du um die richtige Turtle Soup nicht herumkommst. Obwohl ich sicher bin, dass sich kaum ein Leser über Mockturtle Soup wirklich beschweren würde (das würde nicht einmal ich), wäre eine richtige Turtle Soup natürlich realistischer. Es kann aber natürlich sein, dass der Bedienstete gerade keine Schildkröten bekommen hat - besonders, wenn das Haus nicht in der Stadt steht, sondern auf dem Land und es nur ein Dorf oder eine kleinere Stadt zum Einkaufen gibt, kann das sicherlich vorkommen, dass teure, seltene Schildkröten gerade nicht zu haben sind. Dann würde sich sicherlich auch ein Adeliger mit Mockturtle Soup zufrieden geben (und sich vielleicht sogar peinlich berührt bei deiner Protagonistin entschuldigen, dass nur falsche Schildkröte auf den Tisch kommt, die damit wahrscheinlich deutlich überfordert wäre  ;D.)

In Adelskreisen können die Bediensteten sicherlich Lachs einkaufen, auch weiter von der Küste entfernt, wenn du eine größere Stadt in der Nähe hast. Ich weiß nicht, ob in Dorfläden Lachs angeboten werden würde, aber ich bezweifle es, wenn eigentlich niemand da ist, der ihn kauft. Vielleicht lässt der Ladenbesitzer aber auf Wunsch des adeligen Herren extra für ihn jede Woche eine bestimmte Menge an Lachs anliefern. Ich denke, das wäre möglich. Das kommt stark drauf an, ob der Ort bereits an das Schienennetz angeschlossen ist. Falls ja, dürfte es kein Problem sein, Lebensmittel einzubestellen, da diese mit dem Zug geliefert würden und dann auch recht zeitnah eintreffen würden, ohne zu verderben - in Eis gelagert eben. Ich habe mal gelesen, dass Fisch schon ab den 1860er Jahren auch im englischen Landesinneren keine Seltenheit mehr war, eben durch die Anbindungen ans Eisenbahnnetz. Wenn Fisch generell geht, dann sicherlich auch Lachs, wenn es sein muss auf ausdrückliche Bestellung des Adeligen.

Beim Hauptgang ist eigentlich großteils wichtig, dass es üppige Fleischgerichte waren. Die späten Viktorianer haben nicht mehr so filigran und detaillreich gegessen wie die frühen Viktorianer, also es gab weniger Firlefanz und mehr Substanz. Falls du unsicher bist, was serviert werden soll: Huhn. Huhn ging immer, gern auch als Auflauf. Rind geht aber auch. Schwein weiß ich jetzt nicht so, Huhn und Rind sind aber generell sichere Optionen und das Gericht darf ruhig rustikal wirken, wie gesagt, die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts isst deftiger als die erste. Generell bist du mit Gratins auf der sicheren Seite, aber auch mit deftigen Rindergerichten und immer schön viel würzige Sauce.

Was die Charlotte ( :wolke:) angeht: Da musste ich jetzt googeln, aber anscheinend war die Charlotte Russe ganz beliebt. Die ist mit "Bayerischer Creme" (hatte ich vorher noch nie gehört) gefüllt und dazu gibt es Löffelbiskuits. Aber ich denke jede Art von Charlotte ist okay und ins Detail gehen müsstest du da denke ich auch nicht. Falls deine Protagonistin wirklich arm ist, wird sie vorher sowieso noch nicht viele Süßspeisen gegessen haben und die Charlotte dürfte so oder so etwas ganz besonderes für sie sein. Ein Tipp noch zum Nachttisch: Mit dem Nachttisch wurde meistens Kaffee serviert (oder als letzter Gang nach dem Nachttisch).

Ein typisches Samstagsessen gibt es nur in dem Sinne, dass sich die Abfolge der Gerichte innerhalb der Familie von Woche zu Woche nicht stark verändert hat. Also, es gab jeden Montag dasselbe, jeden Dienstag etc. und somit auch jeden Samstag. Bei den Lincolnshires gab es vielleicht jeden Samstag ein Hühnergratin, bei den Winterbottoms jeden Samstag Rinderstreifen mit Senfsauce, aber eben jeden Samstag etwas Ähnliches. Ob das jede Familie so gehandhabt hat weiß ich nicht, aber es war wohl sehr verbreitet. Bei den Beilagen wurde dann variert, es war nicht jede Woche genau dasselbe Gericht, bloß immer aus derselben Kategorie.

Ich hoffe, das hilft.  :)