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Kapitelabhängige Zeitenwechsel

Begonnen von Shin, 24. Mai 2011, 19:29:35

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Shin

Hallo!

Eigentlich wollte ich keinen neuen Thread aufmachen, doch der einzig anderen vom Thema her Passende war schon im Archiv und ich konnte keine Antwort mehr erstellen.

Ich wollte euch mal fragen, ob ihr bei euren Romanen oder Projekten schon mal das Phänomen hattet, mit dem Beginn eines neuen Kapitels die Zeit zu wechseln.
Bei meinem kleinen derzeitigen Projekt läuft eigentich alles in der Vergangenheit ab.

ZitatDunkelheit.
Dieses große schwarze Etwas, das ihn umgab und nicht mehr losließ, ihn vollkommen gefangen nahm. Er mochte sie nicht. Nicht in diesem Ausmaß! Dabei machte ihm nicht einmal die Dunkelheit an sich etwas aus, es war diese völlige Orientierungslosigkeit, das Gefühl, einfach ausgeliefert zu sein. Egal wie hektisch seine Augen umherirrten, egal, in welche Richtung er sich drehte, nichts veränderte sich. Hätte er die Bewegungen seines Körpers nicht gespürt, hätte er nicht einmal gewusst, dass er sich umsah, so vollkommen gleich sah alles aus. Nichts. Auch nichts unter ihm? Ebenfalls Schwarz. Er würde fallen! Stolpern! Doch wenn alles Schwarz war, war er selbst dann nicht auch schwarz? Panisch hob er seine Hände und besah sich erleichtert die blassen Finger. Doch lange hielt dieses Gefühl nicht an, denn schon bildeten sich kleine Flecken, als würde Farbe auf seine Haut tropfen. Langsam wurden die Flecken größer, breiteten sich schneller aus. Und auch ihn! Auch ihn verschluckte das Schwarz!

Am Sonntag vor Ende des 10k-Wochenendbattles hatte ich nur noch wenig Zeit um schnell viele Worte zu tippen. Also hab ich ein Sonderkapitel angefangen. Es erzählt die Vergangenheit eines Nebencharakters, der gerade seinen großen Auftritt hatte. Ich hatte gar nicht viel nachgedacht und mir einfach das Thema '60 Sekunden' genommen und drauf los geschrieben. Irgendwann während des Schreibens fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit in der Gegenwart schreibe!
Zitat
60 Sekunden. Was bedeutet das schon?
60 Sekunden sind eine Minute. 60 Sekunden können quälend lang sein oder auch wahnsinnig schnell vergehen. 60 Sekunden, bevor der Zeiger der Uhr dir endlich das Ende des schier ewigen Schultages verkündet. 60 Sekunden, bevor die Prüfung beginnt, vor der du dich schon seit Wochen fürchtest. 60 Sekunden Herzstillstand während einer Operation. 60 Sekunden auf einer unglaublich schnellen Achterbahn.
60 Sekunden. Erwünscht oder gefürchtet. Positiv wie negativ.
60 Sekunden dauert es mit dem Bus von einer Haltestelle zur nächsten. 60 Sekunden von Deiner zu Meiner.
Auch heute wieder 60 Sekunden. Wie immer stehe ich an der ersten Tür auf dem Platz für Kinderwagen und Rollstuhlfahrer, bin an das Polster gelehnt. Du setzt dich oft nach hinten. Das ärgert mich. Dann kann ich dich gar nicht richtig ansehen. Gar nicht richtig mustern. Das wäre zu auffällig. Doch heute habe ich Glück! Vor dir sind schon viele andere von deiner Schule eingestiegen und haben sich die hinteren Plätze gesichert. Dir bleibt gar nichts anderes übrig, als im Mittelgang zu bleiben. Und jetzt! Du stehst genau vor mir! Meine Hände fangen an zu Zittern. Du bist deutlich größer als ich. Vielleicht bist du ja doch schon ein oder zwei Klassen höher als ich?

Bis zu diesem Moment hatte ich einfach geschrieben und gar nicht auf die Zeit geachtet. Doch sobald mir dieser Unterschied aufgefallen war, hat mein Hirn quasie eine automatische Sperre geschaltet, denn irgendwann bin ich wieder ins Präteritum verfallen, habe dann wieder im Präsens weitergeschrieben und die Verbesserung - aufgrund des Zeitdrucks - dann erst gestern vorgenommen. Und ab da fiel es mir schwer im Präsens weiterzuschreiben, weil mein Kopf nun schon so sehr aufs Präteritum fixiert war.

Habt ihr solche Zeitenwechsel bei euch auch schon einmal verwendet?
Würden sie euch innerhalb eines Romans stören? Ich habe diesen Wechsel auch nur aufgrund des Flashbacks gewählt.
Auf jeden Fall, würde mich eure Meinung interessieren.

lg Shinya
"The universe works in mysterious ways
But I'm starting to think it ain't working for me."

- AJR
"It's OK, I wouldn't remember me either."        
- Crywank          

Zit

Du hast nicht nur die Erzählzeit geändert, sondern auch den Erzähler. Du bist vom Personalen in den Ich-E. gerutscht. Wie wolltest du denn weiter schreiben: Ich+Präsens oder Er+Präteritum? Vll. ist das Problem nicht der Zeitenwechsel, sondern ebend er Erzählerwechsel. Vom sehr intimen Erzähler (Ich), zum "privaten" Erzähler (pers. Er) sozusagen.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Shin

Ja, das mit dem Erzähler ist mir auch bewusst.
Ich habe oben jeweils den Anfang der Kapitel gepostet. Das erste Beispiel ist gerade eine Traum-Sequenz, danach habe ich dort ebenfalls aus der Ich-Perspektive geschrieben. Also Ich+Präteritum.
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Runaway

Ich finde sowas inzwischen völlig unproblematisch. Früher hätte ich mich das auch nicht unbedingt getraut, aber heute schon. In einem meiner Bücher mache ich es genau wie du und wechsle alles. Eigentlich erzählt mein Ich-Erzähler in der Vergangenheit, aber die Zwischensequenzen einer anderen Person sind aus einer anderen Perspektive und im Präsens gehalten. Das benutze ich in dem Zusammenhang absichtlich als Stilmittel, um deutlich zu machen, wie diese andere Person denkt. Ich habe so etwas auch schon in Büchern gesehen.

Shin

Ja, zur Verdeutlichung des Perspektivenwechsels ist das natürlich auch praktisch.
Was mich selbst aber eher zum Stutzen brachte, ist, dass die Hauptgeschichte und somit eigentlich das aktuelle Geschehen im Präteritum abläuft, während für den Flashback, also das Vergangene, dann Präsens genommen wird.
Das ist schon... ein wenig suspekt. Aber man möchte den Leser ja fordern. *lach*
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Runaway

Nö, find ich gar nicht suspekt. Das Präteritum ist die normale Erzählzeit. Und auch wenn der Flashback eigentlich vergangen ist, bringst du mit dem Präsens eine bestimmte Unmittelbarkeit zum Ausdruck. Ist doch auch ein Stilmittel, oder?  :pompom:

caity

Das Stilmittel nennt sich "Historisches Präsens".

Ich finde das auch überhaupt nicht problematisch, habe es zwar selber noch nie so gemacht, allerdings ein ähnliches Experiment gewagt:
in meiner Trilogie sind Prolog und Epilog aus der Sicht einer Ich-Erzählerin geschrieben, die sonst zwar immer wieder vorkommt, allerdings außer Prolog und Epilog eben keinen eigenen Erzählstrang hat. Der Prolog ist im Präteritum und der Epilog dann in der Gegenwart geschrieben, das rundet das ganze ab und stellt es für mein Empfinden irgendwie so dar, als hätte in Wahrheit sie - diese Ich-Erzählerin - die Erlebnisse nacherzählt, obwohl sie wie gesagt sonst keine eigenen Szenen hat.

Wenn man das bewusst einsetzt, sich über die Wirkung im Klaren ist und vielleicht auch weiß, welches Ziel man damit verfolgt, ist das durchaus legitim ;)

Bye
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Erdbeere

Bevor ich all die Antworten gelesen habe, fiel mir zu dem Thema spontan ein, dass ich eigentlich immer in Präteritum schreibe - ausser beim Plot, der ist in Präsens gehalten, aus welchem Grund auch immer. Und beim Schreiben des Plotes muss ich auch immer aufpassen, dass ich nicht plötzlich ins Präteritum abdrifte. Mein Hirn macht das automatisch, weil es für mich einfach am angenehmsten ist, so zu lesen und zu schreiben.

Historisches Präsens? Ich verstehe das jetzt so, dass ich zwar von einem Ereignis in der Vergangenheit schreibe, die grammatikalische Zeit jedoch Präsens ist - richtig? Hm, manchmal vergesse ich, wie wichtig solche Stilmittel sind. Irgendwie gingen die neben meinem Fanatismus für Grammatik verloren.

Runaway

Zitat von: caity am 25. Mai 2011, 08:14:54
Das Stilmittel nennt sich "Historisches Präsens".
Noch nie gehört. Danke für die Info ;D Wieder ein bißchen schlauer geworden!

Shin

Aha, Historisches Präsens!
So nennt sich mein Murks also, gut zu wissen, vielen Dank!  :)

Bisher kannte ich historisches Präsens oder historischen Infinitiv nur aus dem Lateinischen.
Da stehen die Sätze zwar grammatikalisch im Präteritum, werden dann aber im Präsens übersetzt.
Naja und wie wichtig Stilmittel sind... Ich würde mich jetzt nicht hinsetzen und mir denken:
'Boah, jetzt so ein schönes Polyptoton einbauen!'
'Jetzt mal Onomatopöie, das wär's!'
'Wird mal wieder Zeit für ein asyndetisches Trikolon!'
Achje.  :hmhm?:
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- AJR
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