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Geschichten sinnvoll kürzen

Begonnen von Roede Baer, 21. August 2008, 21:25:19

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Roede Baer

Hallo zusammen :)

Ich beschäftige mich aus aktuellem Anlass gerade mit der Problematik, eine Geschichte zu kürzen, was mir echte Kopfschmerzen bereitet. Man hört ja immer so nette Standardregeln wie "Streich die ersten beiden Sätze Deiner Geschichte, dann hast Du einen guten Anfang", oder "Kürze die fertige Geschichte um ein Viertel ihres Umfangs, dann hast Du eine Geschichte ohne überflüssige Längen und Nebenschauplätze."

Ich kann zwar einerseits den Sinn hinter diesen Ideen verstehen, frage mich aber andererseits, ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss sein soll.

Konkret sitze ich an einer eigentlich fertigen Kurzgeschichte, die einen Umfang von 47 Normseiten hat. Die Story spielt hierbei mit zwei unterschiedlichen Zeitebenen und mit zwei unterschiedlichen Realitäten, die am Ende alle zusammengeführt werden. Dabei ist der Anfang bewusst offen und eher mysteriös gehalten.
Nun bekomme ich von so ziemlich allen Probelesern eine ähnliche Kritik: Der Einstieg ist etwas langatmig (die ersten zehn Seiten etwa), dann zieht der Spannungsbogen jedoch derartig an, dass sie gar nicht mit dem Lesen aufhören mochten.

Dass der Einstieg etwas langatmig ist, ist auch mir klar. Immerhin stelle ich hier drei verschiedene Anfangsszenen dar: Die Vergangenheit, die Gegenwart und den Übergang zwischen der realen und der "Geister"-Welt. Das bedeutet also, auch wenn jede dieser Szenen mit einem spannungsverheißenden Teaser endet, "resette" ich die Geschichte anfangs drei Mal. Das ist von mir als Stilmittel genau so gewollt, bringt aber natürlich nichts, wenn sich meine Leser mit dem Anfang schwer tun.
Also habe ich den Anfang gestrafft, alles Unnötige und eine Nebenhandlung gestrichen und die versteckten Hinweise auf die anderen Erzählebenen anders eingeflochten.

Und was passiert nun? Durch die Bank weg höre ich jetzt von den gleichen Probelesern, dass der Anfang zwar etwas schwierig war, sie rückblickend aber keine einzige Szene missen möchten, weil sie einfach für die Atmosphäre wichtig sind und die Geschichte rund machen. Na klasse.

Mein Dilemma ist nun: Ich möchte diese Kurzgeschichte eigentlich gern einmal veröffentlichen bzw. sie zu einem Wettbewerb einsenden. Nun gehe ich einfach davon aus, dass in einem Verlag niemand meine Geschichte komplett lesen, sondern bereits nach den ersten drei Seiten entscheiden wird, ob sie gut genug ist. Was bei einem "eher schwierigen" Einstieg in die Geschichte sicherlich voll in die Hose gehen wird. Irgendwie muss ich hier also doch Hand anlegen.

Eine andere Sache, die mir zum Thema "Geschichten kürzen" einfällt, ist die Frage, ob das wirklich sinnvoll ist. Immerhin geht es (mir) beim Storyschreiben ja nicht nur darum, eine Geschichte zu erzählen (Beispiel aus dem Schneeflocken-Plotten-Thread: Prinz verliert sein Erbe, besteht viele Abenteuer und Kämpfe, und gewinnt sein Königreich schließlich zurück), sondern man will doch einer Handlung neue Perspektiven abgewinnen, im Kopf des Lesers Bilder erzeugen und noch vieles mehr. Hätten wir die ganzen, eigentlich überflüssigen Nebenstränge nicht, würden vermutlich viele Geschichten ziemlich austauschbar werden. Für mich machen gerade die vielen Nichtigkeiten den Reiz einer Geschichte aus.
Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich mir mal eines meiner Lieblingsbücher als Hörbuch antue. Ken Folletts "Säulen der Erde" beispielsweise. Die Hörbuchfassung ist brachial auf die Hauptstory gekürzt. Es wird also eigentlich wirklich nur die Geschichte an sich erzählt, alles Nebensächliche ist rausgefallen. Ich habe die Geschichte kaum wieder erkannt und fand die Hörbuchfassung völlig banal und jedweden Charmes beraubt.
Ebenso kenne ich Tanja Kinkels Werke bisher ausschließlich als Hörbücher und habe mich daher immer gefragt, was an dieser Frau eigentlich so toll sein soll, dass ihre Werke ganz oben auf den Bestsellerlisten standen. Aber vermutlich liegt auch das daran, dass ich eben nur stark gekürzte Fassungen Ihrer Werke kenne, die vermutlich ihres besonderen Stils beraubt wurden.

Also, wie handhabt Ihr das mit dem Kürzen, und vor allem: Wer hat für mein Dilemma einen guten Tipp parat?


Viele Grüße
Roede

Churke

Wenn ich das richtig verstehe, ist dein Problem nicht die Länge der Geschichte/das Kürzen, sondern der flaue Einstieg, der dem Leser Geduld abnötigt. Ich kenne die Geschichte natürlich nicht, aber ich würde prüfen, ob sich nicht über einen Cliffhanger direkt in die Handlung einsteigen lässt. Der Anfang würde dann nicht gekürzt, sondern komplett umgeschrieben, auch strukturell.

Ansonsten erreicht eine Story irgendwann einen Punkt, an dem man nicht mehr weiter kürzen kann, wenn man die Geschichte noch erzählhen möchte.

Zu Tanja Kinkel äußere ich mich lieber nicht... wahrscheinlich liegt die Frau einfach nur im Trend.

Tenryu

Eine allgemeingültige Antwort kann ich dir nicht geben. Aber du solltest dir einfach mal überlegen, was du mit deiner Geschichte bezwecken bzw. aussagen willst, und an welches Publikum sie sich richtet.
Langatmige Einstiege und schwerverdauliche Sprache können auch ein Zeichen von Qualität sein (müssen es aber nicht). Den Nobelpreis bekommt man nicht für leichte Unterhaltungsliteratur oder Groschenromane, die man nebenbei in der Frühstückspause lesen kann.

Allgemein kann man aber davon ausgehen, daß wenn mehrere Leser dieselben Dinge bemängeln, da schon etwas dran sein muß, was über den individuellen Geschmack des Einzelnen hinaus geht.

Julia

#3
Wenn es keine Not gibt, die Geschichte zu kürzen, würde ich auf jeden Fall sagen: Lass es!

Natürlich mag der Einstieg etwas langatmig sein, aber wenn er wirklich für die spätere Handlung wichtig ist, dann sollte er auch so bleiben dürfen. Was man allerdings rauskürzen kann (dass durfte ich selber gerade lernen  ;D ) sind unnötige Füllwörter wie aber, doch, noch, etc. (und alle Kombinationen daraus). Die Betonung liegt dabei auf "unnötig" - ganz verzichten kann man auf sie meines Erachtens nicht.

Ein Stück weit kann ein als "langatmig" empfundener Anfang auch schlicht die Lesegewohnkeiten Deiner Testleser wiederspiegeln - wer immer nur Bücher mit "äkschen" liest (oder auch relativ viel fern sieht mit den schnellen, abrupten Szenewechseln), der wird sich auch schnell langweilen - einfach, weil er eine ruhige Minute zum Nachdenken kaum noch gewohnt ist.

Ansonsten bleibt die Frage, ob jeder Abschnitt, jeder Satz wirklich wichtig für die Geschichte ist - und ob jedes Detail erwähnt werden muss. Falls ja: Lassen. Du kannst es nicht jedem Leser recht machen, und nicht jede Geschichte spricht jeden Leser an. Damit muss man leben lernen.

Was das Anbieten an einen Verlag betrifft, sehe ich weniger Probleme. Schließlich kannst Du Dir aussuchen, was an den Verlag geht, und wenn die Geschichte erst in Schwung kommen muss, kannst du auch zehn Seiten aus dem mittleren Teil nehmen. Auch wenn es "nur" eine Kurzgeschichte ist - Zeit für 50 Seiten nimmt sich anfangs sowieso keiner. Also kann es auch ein knackiges Exposé und eine (kurze) Leseprobe sein.

Liebe Grüße,

Julia

P.S.: By the way: "Zehn (?) Seiten" sind für Deine Testleser schon langatmig? Himmel, was sind denn dann die ersten 200 Seiten vom Herrn der Ringe?




Aidan

Hallo Roede!

Die Nebenstränge sind wichtig! Kürzen tue ich nicht, indem ich einfach gnadenlos nach solchen Strategien streiche. Klar überlege ich mir, was wichtig ist und was überflüssig und Geschwafel. Dann kann ich schon mal etwas entfernen.

Ansonsten versuche ich den treffensten Ausdruck zu finden, der gleich ein Bild/Assoziation provoziert. Umso aussagekräftiger die Worte, umso weniger muss man umschreiben, umso mehr Wirkung. Dazu kommen dann noch unauffällige Wirkungsverstärker, wie Satzlänge. Bei einer Verfolgungsjagd sind sie kurz, abgehackt und temporeich mit aktiven Verben und wenig Schnickschnack, bei ruhigen Szenen länger, detailreicher. Dadurch kann man ohne mehr Worte zur Beschreibung zu brauchen, auch einen Effekt erzielen.

Was deinen Anfang angeht - schwierig zu beurteilen, da ich die Geschichte nicht kenne.

Wie Julia schon schrieb, solltest du dir aber überlegen, ob du überhaupt kürzen musst und kannst.
"Wenn du fliegen willst reicht es nicht, die Flügel auszubreiten. Du musst auch die Ketten lösen, die dich am Boden halten!"

,,NEVER loose your song! Play it. Sing it. But never stop it, because someone else is listening."

Lomax

Mein Vorschlag zum Kürzen im Allgemeinen wäre der, jede Szene durchzugehen und sich ehrlich die Frage zu stellen: Wie bringt diese Szene die Handlung voran? Was trägt diese Szene zur Entwicklung einer Figur bei? Wenn weder das eine noch das andere der Fall ist, fliegt die Szene raus. Das kann dann auch schöne oder für sich genommen interessante Szenen treffen, die nur leider keinen sinnvollen Beitrag für den Roman leisten - und damit auch genau die Szenen sind, die dafür sorgen, dass ein Buch als zu lang empfunden wird, weil Handlung und Figuren einfach nicht "vorankommen".

Zum Thema Anfang ist mein Lieblingsratschlag immer der, einfach draufloszuschreiben und sich dann die Geschichte noch mal durchzulesen, so lange, bis es richtig spannend wird. Und alles vorher streicht man dann raus ;) Das klappt natürlich nicht immer so schematisch, aber im Prinzip sollte man doch jede Geschichte so anfangen, dass sie mit einem Knaller anfängt, und Erklärungen und Einführungen später irgendwie einbringen.
  Dass eine Geschichte besser werden kann, indem man sie langsam anfängt, kann mir niemand erzählen. Ich habe es jedenfalls noch nie erlebt, dass mir eine Geschichter hinterher schlechter gefallen hat, wenn ich einen Weg gefunden habe, am Anfang mehr Spannung reinzubringen. Klar gibt es viele Geschichten, die langsam anfangen, dann aufdrehen und die am Ende doch noch funktionieren. Trotzdem findet man eigentlich immer einen Weg, all das, was funktioniert, zu erhalten - und zusätzlich noch mehr Spannung an den Anfang zu setzen.
  Damit verlagert man dann die Arbeit vom Leser (der ansonsten erst mal durchhalten muss) auf den Autor (der sich etwas Besseres einfallen lassen muss). Und da der Autor der Profi ist, der etwas verkaufen will, ist ja eigentlich auch klar, von wem man die Arbeit verlangen kann ;D

Na ja, wer auf Nobelpreise hofft, und auf geduldige Leser, der sollte wohl eher was anderes schreiben als Fantasy. Und Ideen, die wirklich nur mit einem verhaltenen Anfang funktionieren, legt man sich am besten zurück, bis man schon mit einigen anders gestrickten Büchern Fans erworben hat, die dem Autor vertrauen - und selbst schon genug "Eingangsspannung" und Erwartung mitbringen, um einen langsamen Einstieg als Versprechen auf umso größere Steigerung zu verstehen.

Roede Baer

Danke für die vielen und gut durchdachten Antworten. Eure Standpunkte haben alle etwas, das ich in meinen Texten unterbringen kann. Jetzt muss ich nur noch sehen, was ich wie und wo umsetze  :hmmm: Auf jeden Fall sehr interessant, mal andere Ansichten zu dem Thema zu lesen.

Eigentlich bin ich ja selbst eher ein Fan konsequenter Redundanzreduktion, aber irgendwie fällt mir das bei meinen eigenen Werken weitaus schwerer als bei fremden.

Und manchmal packt mich eben auch einfach nur der Trotz. Dann sage ich mir "Scheiß drauf, für wen schreibst Du den ganzen Kram hier eigentlich? Bestimmt nicht für den "in der U-Bahn zwischendurch Leser". Aber das ist dann eben wie beim Musik machen: Will man Veröffentlichen, muss man oft Sachen produzieren, die schnell verdaulich und nicht zu kompliziert sind. Will man sein musikalisches Ego mit ausschweifenden und komplexen Kompositionen befriedigen, gibts eben keinen Plattenvertrag.

Ist vermutlich bei allen kreativen Künsten so (außer vielleicht bei den abstrakten Malern ;) ).


Dankbare Grüße
Roede

Blake

Die Sache mit dem Kürzen ist tatsächlich immer ein Problem. Vor allem sollten sich die Anteile der Handlung im richtigen Verhältnis zueinander bewegen. Was bringen weitschweifende Erklärungen, wenn es um einfache Zusammenhänge geht? Bringen die Passagen, die dir selbst zu lang erscheinen, die Geschichte voran?
Und zum Anfang passt immer der schlaue Satz, den ich schon öfter gelesen habe, aber den ich meiner Erinnerung nach Stephen King zuschreibe: Auf den ersten 30 Seiten muss der Leser alle wichtigen Informationen der Story im Kern kennen. Und bei Populärliteratur stimmt das tatsächlich. Lest mal ein paar Romane an, die ihr im Regal zu liegen habt. Fast alle Autoren halten sich an diese Regel (oder es sind die fleissigen Lektoren/innen!)