Hallo :winke:
die Idee ist ehrlicher Weise nicht von mir, aber wenn ich es richtig verstanden habe darf ich das Thema eröffnen. Wenn nicht bitte ganz schnell löschen! :versteck: Ich fand den Gedanken wirklich spannend und zu schade um ihn nur im kleinen Kreis zu diskutieren. Nach dem es jetzt ewig auf meiner To Do Liste stand:
Wann ist ein Charakter zu kaputt, zu krass drauf, einfach zu 'over the top'?
Manche/viele Geschichten benötigen Gewalt und Brutalität, körperlicher und emotionaler Art. Sie ist ein Teil dessen was einen Charakter prägt und die Gewalt gehört dazu um die Geschichten zu erzählen. Aber ab welchem Punkt ist ein Charakter zu kaputt?
Ich hatte ein paar Mal den Fall, dass es mir keinen Spaß mehr gemacht hat einen Charakter zu beschreiben, weil es eine zu starke Abwärtsspirale war und ich mir als Autor überlegt habe, wann ich diesem Charakter den Gnandenstoß geben darf. Da habe ich aus Schreiber selbst gemerkt, dass es hier doch deutlich zu viel war. Aber wie ist es aus Sicht eines Lesers? Wo wird die Grenze überschritten? Ist es dann ein Glaubwürdigkeitsproblem oder ein Problem des Mitgefühls? Glaubwürdigkeit in der Hinsicht, dass ein Mensch/Zweg/Elf/Echs das gar nicht aushalten kann ohne auf Dauer daran kaputt zu gehen. Oder auf der anderen Seite: Wann macht es einfach keinen Spaß mehr einen Charakter zu lesen, der einfach kaputt ist?
Wann ist ein Charakter überhaupt kaputt? Erst in dem Moment in dem es wirklich keine Rettung mehr gibt und selbst nach diversen Rettungsversuchen der Charakter nicht auf einen besseren Pfad kommt oder ist er schon dann kaputt, wenn sein Misstrauen oder die Verbitterung ein 'normales Level' radikal übersteigt?
Wie sieht es mit körperlichen, geistigen und seelischen Aspekten aus? Darf ein Charakter in allen dreien stark angeschlagen sein, oder sollte zumindest ein Aspekt noch irgendwie gesund sein? Gibt es Tabus, was man einem ohnehin schon fast zerstörten Charakter nicht mehr antun darf?
Darüber hinaus stellt sich mir die Frage: Wenn man merkt, dass ein Charakter zu krass ist. Wie zieht man die Reißleine? Wie rudert man zurück ohne, dass der Leser sich verarscht fühlt, weil der Charakter einen weiteren heftigen Schicksalsschlag nun doch lockerer wegsteckt oder wie aus heiterem Himmel jemand auftaucht, der die Rettung im Gegensatz zu allen Vorgängern doch durchführen kann? Muss man das Projekt dann wirklich mit dem Charakter zu Grabe tragen, bzw. es so komplett überarbeiten, dass aus dem kaputten Helden ein moderat kaputter Held wird oder gibt es da noch Alternativen?
Da es irgendwie noch mit dem Thema zusammen hängt und ich da auch schon etwas rumgestöbert habe, habe ich gleich mal eine Liste mit naheliegenden Themen zusammengesucht. Sollte jemand was Zusätzliches finden, kann ich sie auch gerne ergänzen:
Eine Figur zu quälen (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,13437.0.html)
Welche Szenen haben eine Daseinsberechtigung (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,14180.0.html)
Blut und Gewalt in Jugendbüchern (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,16015.0.html)
Gewaltsame Tode von Kindern in Romanen - ein Nogo? (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,13528.0.html)
Tote Hunde (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,14798.0.html)
Muss es denn immer eine Rettung geben?
Müssen alle Charaktere und Geschichten positiv enden?
Muss ein Buch denn unbedingt "Spaß" machen?
Ist es nicht spannend mal wirklich den absoluten Absturz zu inszenieren/zu verfolgen?
Natürlich ist es schwer als Autor so mit seinen eigenen "Geschöpfen" umzugehen. Aber manchmal gibt es keinen anderen Weg. Wenn es so sein muss, dann muss es so sein und dem Charakter ein anderes "glücklicheres" Schicksal aufzwingen wäre vielleicht auch das falsche.
Und auch dem Leser darf man ab und an vor den Kopf stoßen. Auf Dauer hat etwas Anregung, emotional und gedanklich nie wirklich geschadet, oder?
Das einzige, wogegen ich mich verwehren würde sind Schicksalsschläge und "Tiefersinken" zum reinen Selbstzweck. Solange es zur Figur und zur Geschichte passt, sie voran (und nach unten) bringt und der Leser auch nachvollziehen kann, wieso das alles, finde ich es vollkommen in Ordnung.
Wenn es um kaputte Charaktere geht, bin ich immer vorn mit dabei. Ich mag einfach Charaktere, die es absolut schwer hatten im Leben (meist sind sie auch noch sehr, sehr jung). Ich mag das vor allem deswegen, weil es erst zeigt, wie kaputt die Welt wirklich ist. Wenn Kinder schon an Selbstmord denken oder sich mit Dingen befassen müssen, für die sie viel zu jung sind, dann ist das nicht mehr normal.
Als kleines Beispiel kann ich hier Kazuko angeben, die hier ja auch ein Vorstellungssgespräch hat. Sie ist seelisch völlig am Ende, hat sich körperlich einige Narben zugefügt, will einfach keine Emotionen mehr haben. Das kommt nicht von ungefähr. Ich habe mich lange mit der Materie "Kleine Mädchen" auseinandergesetzt und herausgefunden, dass es viele Kinder gibt, die wirklich so kaputt sind.
Daher finde ich, man kann kaum übertreiben. Draußen in der Welt gibt es so viel Mist, dass es schon beinahe unmöglich ist, zerstörte Charakter unglaubwürdig darzustellen.
Natürlich steht bei mir immer Vordergrund, dass die beschriebenen Personen nicht einfach nur kaputt sind. Der Leser soll den Absturz bemerken, soll mitfühlen und immer denken: "Hoffentlich passiert mir/meinen Freunden/Verwandten so etwas nicht". Daher vesuche ich, die Charaktere möglichst glaubwürdig zu gestalten. Sie sollen bemitleidet werden, sollen die schwache Hoffnung wecken, irgendwie gerettet zu werden und dann doch zu Grunde gehen.
EDIT: In einer meiner Kurzgeschichten gibt es eine Neunjährige, die Vergewaltiger, Mörder, Kinderschänder usw. tötet und dann ihre Herzen isst. Das sollte, glaube ich, sagen, wie gerne ich mal über die Stränge schlage.
Mir fallen zu diesem Thema gleich eine ganze Gruppe von Figuren aus dem Lied von Eis und Feuer ein. Sie alle sind zwar vielschichtig, aber hassenswert, böse und kaputt. Trotzdem funktionieren sie als Träger einer guten Geschichte - und sei es nur, weil wirklich jeder Leser möchte, dass endlich jemand Geoffrey ein Ende macht!
In dem Buch hat es für mich toll geklappt, aber in modernen Thrillern lege ich manchmal Bücher deshalb weg. Irgendwie muss scheinbar in meiner Lesewelt die Bösartigkeit weit genug weg sein (Fantasy) - wenn in einem Thriller wie bei Svens Papa zugeht, dann bin ich raus. Nicht, weil mich Horror oder Psychothriller abschreckt, sondern weil die Figur für mich zu abartig, zu böse und zu schlecht ist.
In meinem Fall ist es also genreabhängig, aber ich weiß, dass es sehr viele Leser gibt, die genau im Thriller diese Tommis suchen und verschlingen. Spannend ist es ja nämlich schon ziemlich.
Bei körperlichen oder geistigen Gebrechen bin ich anders. Da hatte ich noch nie einen Fall, wo mich diese Eigenschaft einer Figur gestört hat. Sie eröffnet neue Blicke auf die Handlung. Ich las mal ein ausgesprochen spannendes Buch mit einer Blinden, das lebte genau davon, dass sie ausgezeichnet hören konnte und eine durchweg aufregend spannende Figur war und in meinem eigenen Debüt ist der Held beinamputiert. Da habe ich also weder beim Lesen noch beim Schreiben Probleme.
Es gibt keine einfache Antwort, wann etwas für einen Charakter zuviel wird, weil im Buch wie im realen Leben jeder Mensch ausgesprochen individuelle Widerstandskräfte gegen Schlechtes hat.
Der eine begeht Selbstmord wegen einer drei auf dem Zeugnis, der andere übersteht das KZ und kann anschließend noch eine Karriere im "normalen" Leben hinlegen ... einer verzweifelt an sich selbst und an der Menschheit, wenn er schief angesehen wird, ein anderer kommt aus der Gosse und muss sich mit härtestens Bandagen einen Platz zum Überleben erkämpfen, ohne je Anerkennung zu finden ...
Doch, das Thema gab es bereits, ist aber schon eine Weile her. Ich habe die Themen zusammengeführt.
Okay. Schön zu wissen. Wenn man auf ein Thema antwortet, während dies mit einem anderen zusammengeführt wird, ist die die Antwort dann weg.
Vor allem, da es um zwei verschiedene Themen geht. "Krass" ist nicht "Tragik". Wo krieg ich jetzt den Text wieder her, an dem ich eine halbe Stunde gesessen habe?
Danke für die Antworten.
@DämmerungshexeNein eben nicht, ich denke es ist genug Platz für Zerstörung und kaputte Individuen. Aber ich weiß nicht ob es den absoluten Absturz gibt. Wie Fee gesagt hat, es ist eine ziemliche Schattierung bei den Charakteren möglich. Was wäre das Ende? Wirklich der Punkt an dem er Selbstmord begeht oder bereits früher?
@SipresHast du denn auch Tabus? Bzw. irgendwann mal den Punkt gehabt, an dem du dich nicht weiter motivieren konntest an der Geschichte und dem Charakter zu schreiben?
@PiPa
Das finde ich echt einen interessanten Gedanken, über das Genre habe ich mir diesbezüglich noch gar keine Gedanken gemacht. Ich glaube da muss ich selbst erst Mal etwas grübeln.
@Fee
Ich glaube ich suche auch gar nicht so eine leichte Antwort. Eher eine grobe gedankliche Idee. Kann man dem Säufer, der Angst im Dunkeln hat und der grundsätzlich alle beleidigt, darüber hinaus noch a, b, c, d, e, f und g mit auf den Weg geben, oder ist das dann einfach zu viel, weil ein Charakter auch nur bestimmte Kapazitäten hat.
Zitat von: Coppelia am 19. März 2015, 13:55:13
Doch, das Thema gab es bereits, ist aber schon eine Weile her. Ich habe die Themen zusammengeführt.
Persönlich würde ich zwar einen Unterschied zwischen der Tragik sehen, die in Geschichten beschrieben wird und den tatsächlichen Charakteren und ihrem Zustand, aber gut. :-\ Ich finde ein Charakter kann durchaus selbstverschuldet kaputt gehen. Sprich es ist gar nicht tragisch, dass jemand sich aus eigenem Antrieb in einen bemitleidenswerten Zustand katapultiert. Und die Tragik einer Geschichte sagt meiner Meinung nach auch nicht so viel darüber aus, wie angeschlagen der Protagonist sein darf. Oder verstehe ich das Konzept der Tragik jetzt falsch, wenn ich davon ausgehe, dass es hauptsächlich die äußeren Umstände sind, die den Charakter zerstören und gar nicht so sehr er selbst.
@Maja Tut mir leid um deinen Text, sowas ist echt ärgerlich. :(
Für mich ist das ein klarer Unterschied, ob wir über die tragische Vorbelastung eines Protagonisten sprechen oder über Elemente, die in ihrer Extremität den Leser abstoßen könnten. Habe den Thread daher wieder separiert. Vielleicht kann ich meine Antwort ja zumindest rekonstruieren ...
Tabus habe ich eigentlich keine. Ich schreibe, was mir in den Kopf kommt. Ich finde es toll, Menschen mit meinen Ideen zu schockieren und sie denken zu lassen: "Ach du Schei...! Der Typ, der das geschrieben hat, muss total wahnsinnig sein!" Das sind immer die schönsten Feedback-Momente für mich.
Dabei bin ich eigentlich ganz lieb, von meiner großen Fresse und meiner extremen Fäkalsprache mal abgesehen.
EDIT: Mir ist die eine Frage irgendwie entgangen, heroine. Ich hab ganz oft das Problem, dass ich mit Charaktern und Storys nicht weiterkomme. Aber das ist bei jedem Projekt der Fall und sobald ich dagegen ankämpfe (manchmal auch erst nach einer Weile Abstand) geht es ganz gut weiter.
Ich bin raus, wenn ich merke, dass die menschlichen Abgründe eigentlich bloß schockieren sollen, also ohne Not übertrieben grausam sind. Ich habe nichts dagegen über Folter, Vergewaltigung etc zu lesen, aber doch bitte nicht nur, um der Welt zu zeigen, dass man sich auch traut so etwas zu schreiben. Ich habe letztens eine Serie gesehen, wo die Protagonistin gefühlt jede Folge fast vergewaltigt wurde (aber immer noch von einem Mann gerettet werden konnte ...), das war mir einfach zu übertreiben. Vor allem verlor es durch die Wiederholung die Wirkung, das war dann fast schon langweilig. Am meisten störte mich aber, dass diese versuchten Vergewaltigungen diese Charakterin anscheinend nicht berührten, sie steckte sie weg, als wäre sie nur kurz gestolpert: direkt danach ein paar Tränen, 10 Minuten später hat denkt sich schon wieder über ihr Aussehen nach.
Charaktere dürfen ruhig ordentlich kaputt sein, ich mag es auch lieber dunkelgrau als strahlend weiß. Aber ich will das Motiv dahinter erkennen können, die seelischen Abgründe müssen auch innerhalb der Geschichte Sinn machen. Salopp gesagt macht es für mich keinen Sinn, seitenlang zu beschreiben, wie der Holzfäller sich selbst seinen Arm abschneiden muss, weil ein Bau, drauf gefallen ist und ihn keiner rufen hört, wenn der Protagonist doch eigentlich der Sohn des Schmiedes ist, der versucht Schwertkampf zu lernen. Das ist für mich nur Effekthascherei.
Zu guter Letzt reicht es manchmal auch vollkommen aus, dass der Protagonist seine Eltern bei einem Raubüberfall hat sterben sehen müssen. Das kann ihn seelisch schon hart genug prägen, dafür muss er nicht auch noch ein Stück Mama kosten ;)
Tut mir leid für die voreilige Mod-Aktion!
An die Mods: Mein Post im Tragik-Thread gehört eigentlich hier rein. Kann der hierher verschoben werden oder soll ich das händisch machen?
Darauf ob ein Charakter ganz allgemein zu kaputt sein kann habe ich im Moment keine Antwort. Aber ich finde mit diesem Thema ist noch ein Anderes verknüpft. Nämlich die Fälle, in denen ein Autor einen Charakter erschafft der ernsthafte Schäden/Probleme hat und diesen Problemen dann nicht die Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, die sie verdienen und erfordern. Das kann dann darauf hinauslaufen das der Charakter sich viel zu schnell und einfach von seinen mentalen Wunden/Traumata/ect. erholt oder diese Dinge einfach unter den Tisch fallen.
Ich persönlich glaube, dass so etwas entweder passiert weil der Autor feststellt, dass er mit dem jeweiligen Problem nicht umgehen kann oder weil in einem gefüllten Plot einfach kein Raum mehr dafür bleibt.
Auf jeden Fall bin ich ernsthaft genervt wenn das passiert. Denn zum einen tut die Missachtung der (Haupt-)charaktere keiner Geschichte gut und zum anderen bin ich enttäuscht wenn ich einen kaputten Charakter sehe und dann nicht die Charaktertiefe bekomme, die ich erwartet habe.
Um also auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ich persönlich habe ein bestimmtes Maß an kaputt, das für mich zu viel ist, einfach weil ich dem Charakter ab diesem Punkt nicht mehr gerecht werden kann.
Au weia - hier ist Mod-Chaos. :gähn: Was Amber schreibt, finde ich auch noch einen wichtigen Punkt - wie man als Autor damit umgehen kann. Ich selbst hätte so ein fieses ekliges Ding wie den Geoffrey nie schreiben können. Ich hätte gezweifelt, ob er noch glaubwürdig ist, hätte nach Punkten gesucht, die seine Handlungen erklären und ihn ins bessere Licht rücken, ich hätte einfach Scheu davor gehabt ihn komplett durch und durch zu verderben. Das unterscheidet mich augenscheinlich drastisch vom Herrn Martin, der dem Abscheulichen immer noch eins drauf setzt und dafür keine guten Gründe braucht. (vielleicht auch, weil die Aussage des Werks: "Krieg und Politik verderben die Moral und Ethik" das fordert?)
Jedenfalls meine ich: Es müssen ein Autor, der das kann und sich traut und ein Leser, der es genießen kann, aufeinander treffen. Weil das schwierig ist, backe ich im Bezug auf Krassheit kleine Brötchen, sowohl als Leser als auch als Autor.
Zitat von: pink_paulchen am 19. März 2015, 17:10:58
Jedenfalls meine ich: Es müssen ein Autor, der das kann und sich traut und ein Leser, der es genießen kann, aufeinander treffen.
Das ist wirklich ein wichtiger Punkt! Ich zum Beispiel weiß von mir, dass ich sehr viel wegstecken kann - und dass ich auch nicht davor zurückschrecke, selbst krasse Dinge zu fabrizieren. Aber ich akzeptiere das durch und durch, wenn jemand sagt: "Sorry, zu heavy, lass mal!"
Irgendjemand (ich finde den Post gerade nicht mehr - vielleicht ist das auch durch das Mod-Chaos verschwunden?) schrieb vorhin auch etwas, das ich noch einmal aufgreifen möchte: Ich kann es auch nicht leiden, wenn ich das Gefühl habe, da wird extreme Gewalt regelrecht zelebriert und alles, was der Autor will, ist noch einen oben drauf setzen. Schockieren um jeden Preis. Aus diesem Grund bin ich auch kein großer Fan von billigen Splatterfilmen ohne Hirn und Handlung.
Extreme Entwicklungen werden, in meinen Augen, nämlich vor allem durch die psychologische Komponente interessant: Wie wirkt diese Erfahrung auf den/die Prota? Wenn der/die Prota durch 100 Höllen geht und sämtliche menschlichen Abgründe sieht und danach immer noch derselbe Typ ist wie vorher, dann fände ich das seltsam. Wie eine solche Entwicklung aussieht, hängt natürlich immer vom Charakter ab - aber irgendeine Entwicklung erwarte ich!
Ich finde es total spannend, dass du das Thema aufbringst, Heroine, ich hatte mich nämlich auch schon damit auseinandergesetzt. Allerdings fällt es mir schwer, ein abschließendes Urteil zu fällen zur Frage: "Was ist zu viel?" Ich glaube, da kann ich nur mit dem nichtssagenden "Das kommt darauf an" kontern. ;)
Rein vom Gefühl her würde ich ja behaupten, es sei zu viel, wenn man seine/n Prota misshandelt, vergewaltigt, entstellt, verschleppt und noch ein paar seiner/ihrer Liebsten umbringt. Aber dann werfe ich einen Blick in meinen aktuellen Roman und stelle fest: "Genau das hab ich gemacht." ;D Und es kommt mir alles realistisch und passend vor. Zumal jedes dieser Erlebnisse die Prota ein stückweit geformt hat.
Zitat von: DämmerungshexeIst es nicht spannend mal wirklich den absoluten Absturz zu inszenieren/zu verfolgen?
Wenn es gut gemacht ist, dann sicherlich - allerdings würde ich wahrscheinlich eher bei einem Roman "am Ball" bleiben, wenn ein Gegenpol geschaffen wird. Ein Lichtblick. Eine Prise Humor. Skurrilität. Wenn die Sache zu ernst und schwer wird, hätte ich wahrscheinlich Probleme, mich zum Weiterlesen zu animieren.
Zitat von: Lothen am 19. März 2015, 17:25:02Wenn es gut gemacht ist, dann sicherlich - allerdings würde ich wahrscheinlich eher bei einem Roman "am Ball" bleiben, wenn ein Gegenpol geschaffen wird. Ein Lichtblick. Eine Prise Humor. Skurrilität. Wenn die Sache zu ernst und schwer wird, hätte ich wahrscheinlich Probleme, mich zum Weiterlesen zu animieren.
Dafür habe ich gerne meine Nebencharaktere. Sie lockern das ganze auf und lassen den kaputten Prota nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Was ist zu krass? Das ist auch und gerade eine Frage des Zeitgeistes. Was im Moment als 'normal' durchgeht, finde ich häufig unerträglich und wirkt auf mich dazu auch wirklich billig, im Sinn von Effekthascherei mit dem Holzhammer. Bei Thrillern und Krimis ist das zum Teil einfach nur ekelhaft. Noch schlimmer, immer perverser muss es sein. Dabei gibt es Meister wie Minette Walters, die grausamste Dinge geschehen lässt, ohne sie ausführlich zu beschreiben. Der Leser versteht auch so, wie abgründig der Täter tickt, wie sehr das Opfer leidet. Das ist in meinen Augen eben die wahre Kunst.
Zu viel ist, wenn der Charakter nur noch als Schockmoment herhält, ohne durch seine Motivation oder Aktionen die Handlung zu unterstützen. Eine Geschichte führt von A nach B. Sie verändert die Protagonisten und führt sie höher oder tiefer. Zu viel ist, wenn der Charakter in einer Sackgasse steht und nicht mehr fähig ist, innerhalb der Handlung eine Position oder Interaktion durchzuführen, mit der die Geschichte weitergeht.
Neon Genesis Evangelion...Shinji Ikari...ich verstehe, dass es da um Depressionen etc. ging und das ist auch Stoff, der verarbeitet gehört. Aber in einer Welt, die am Abgrund steht, weil biblische Ungetüme das Dasein der Menschheit beenden wollen, ist jemand so dermaßen Handlungsunfähiges manchmal nervtötend für ein Publikum, das sehen will, wie sich die Situation entwickelt. Wenn er da an der Hand zu seiner Eva gezerrt werden muss, während das HQ angegriffen wird und seine Freunde herum draufgehen. Und völlig verschissen hatte er dann, als er sich vor der bewusstlosen Oska einen von der Palme wedelt und dann voller Selbstmitleid in seine Hand schaut. Soll ich wütend auf ihn sein? Angewidert? Entschuldigung, geht es nicht um riesige Monster??! Wieso ist diese Szene hier?!
Es muss in den Kontext passen und im Rahmen der Geschichte Sinn ergeben. Habe ich jemanden, der mit dem Leben abgeschlossen hat, dann kann er am Ende einen heroischen Tod sterben, der bitter schmeckt, weil er eh nicht mehr leben wollte oder etwas finden, eine Motivation, die ihn zwingt, sich mit Leben, Vergangenheit etc zu arrangieren. Ein Happy End ist da immer noch keine Garantie. Hauptsache, der Protagonist kann die Geschichte tragen, statt nur zu schocken oder Mitleid zu erregen. Gerade den Fertigsten wünscht man in einer Story, irgendwie über den Schmerz hinauszuwachsen und in der Geschichte etwas zu erreichen.
Also persönlich habe ich nicht so viel Spaß dabei zu lesen wie ein Charakter unrettbar kaputt gemacht wird ohne jede Aussicht wenigstens halbwegs wieder "okay" zu werden.
Es muss nicht immer alles super gut enden.
Aber eine Geschichte wo ich auf 500 Seiten verfolgen muss wie ein Charakter systematisch zerstört wird, würde ich nicht lesen.
Andererseits würden das sicher viele andere ... also ...?
Also ich beschäftige mich in meinem aktuellen Projekt auch mit einem sehr kaputten Menschen und ich habe auch ehrlich gesagt nichts gegen solche Geschichten, im Gegenteil. Ich finde so etwas oft ziemlich spannend.
Problematisch wird es eher für mich, wenn entweder a) wie Vic sagt, ein Charakter eine ganze Geschichte über einfach nur systematisch zerstört wird, ohne dass wirklich der Sinn dahinter klar wird. Das heißt, selbst wenn es kein Happy End gibt, sollte doch wenigstens ein Sinn aus dem Leiden entstehen, oder?
Oder b) ein Charakter durch ganz ganz viel Leid und Schmerz und Grausamkeiten geht, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich finde es dann einfach unglaubwürdig, wenn die Personen gar nicht berührt werden, wie zum Beispiel Shedzyala es beschreibt.
Also ich finde, dass Protas bis zu einem gewissen Punkt noch funktionieren sollten. Ein total kaputter Prota kann nicht mehr die Geschichte tragen, außer aus Rache.
Ich mag aber auch Charaktere, die durch die Hölle gehen müssen. Keine Ahnung warum, aber ich find das spannend. :darth:
Plotte auch gerade an einer Geschichte, wo meine eine Hauptperson (General, weiblich) von ihrem König immer wieder vergewaltigt wurde, weil er ihren Willen so einfach brechen konnte und etwas gegen sie in der Hand hatte. Dessen Herrschaft beruhte einfach auf solchen Dingen. Keiner der Macht hatte, durfte sich gegen ihn stellen können. Dass sie ein nervliches Wrack ist, ist klar. (Warum noch mal ist man so fies zu seinen Lieblingsfiguren??? :hmmm:)
Diese Folgen sind aber, wie Regentänzerin schon gesagt hat, wichtig. Ein Charakter muss davon gezeichnet werden, sonst ist es unwahrscheinlich. Außerdem sollte die Gewalt einen Platz in der Geschichte haben. Find es immer doof, wenn das noch schnell eingebaut wird, weil es sonst so unblutig ist. Gummistiefel sollten nur mit Sinn und Verstand eingesetzt werden.
Vielleicht noch ein Tipp. Hab mal ein Patienten über mehrere Rückschläge reden hören: Das psychische war viel schlimmer als die körperlichen Symptome. So leicht hat noch nie jemand eine Krebserkrankung genommen. Gegen psychische Probleme kann man einfach schwerer etwas machen. Da bekommt man gerade bei Vergewaltigung, Folter und Co die Hölle ja jeden Abend aufs neue im Schlaf serviert.
Ich grabe diesen thread hier auch mal wieder aus, weil er so schön in mein derzeitiges Gedankenkonstrukt passt. Ich gehe übrigens mit Funkel konform, dass nicht die physischen Schäden die wesentlichen sind. Die Psyche spielt eine sehr große Rolle.
Mehrfach wurde jetzt auch schon die Frage aufgeworfen, warum wir unseren, oft geliebten, Protagonisten ein solches Schicksal geben. Ich selbst kann mich da ja direkt vorne mit einreihen. Mein Hauptcharakter ist am anfang der Geschichte völlig am Ende, seelisch, körperlich steckt sie alles schreckliche, was sie erleben musste erstaunlich gut weg. Ich liebe diesen Charakter und ich will, dass die Leser sie lieben. Warum sie also leiden lassen?
Weil es einfach ist, die Welt zu retten, wenn sie einem noch nichts schlimmes getan hat. Aber als völlig zerstört, gefoltert, vergewatigt, am Ende alles genommen zu bekommen, selbst jene, die man liebt, keine hoffnung darauf zu haben, dass ein tapferer Held einen rettet, erst da, an diesem Punkt kann ein Charakter für mich stark werden, indem er seinen eigenen Wert begreift und sich selbst rettet. Das allerdings glaubhaft und völlig unkitschig zu verpacken ist nicht einfach.
Und ich strauchle immer wieder an der Frage: ist das jetzt zu viel Rumgeheule? kommt der chrakter, der durch all das Elend eigenltich stark wirken soll, jetzt vielleicht doch wie eine Heulsuse rüber ...
Psychisch stark in Mitleidenschaft gezogene charaktere sind eine Herausforderung in vielerlei Hinsicht und ich finde es spannend, das auch ihr so euren Umgang damit sucht.