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Konflikte und Charakterentwicklung verbessern mit den MBTI-Schattenfunktionen

Begonnen von Jen, 21. August 2024, 13:19:54

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Jen

Den Myer-Briggs-Typenindikator (MBTI) nutze ich schon seit vielen Jahren, um Charaktere kennenzulernen und glaubwürdig umzusetzen. Während dieses Persönlichkeitssystem im echten Leben von Psycholog*innen zu Recht umstritten ist, handelt es sich dennoch um ein sehr praktisches Werkzeug für Schreibende. Nun habe ich einen neuen Anwendungsfall für mich entdeckt, den ich gerne mit euch teilen möchte.

Charaktere brechen Konflikte und Charakterentwicklung verbessern mit den MBTI-Schattenfunktionen

Das Ziel: Hauptfiguren schrittweise, effektiv und auf die Persönlichkeit zugeschnitten das Leben zur Hölle machen
Die Methode: 5-Akt-System/7-Punkte-Struktur um MBTI-Komponente erweitern
Kurzfassung: In diesem Beitrag stelle ich euch die Grundlagen eines Persönlichkeitstests vor und zeige, wie ihr das Testergebnis eurer Figuren nutzen könnt, um Plotelemente (primär Konflikte) und die Charakterentwicklung glaubwürdiger und herausfordernder zu gestalten.
Disclaimer: Diese Methode habe ich selbst bislang nur begrenzt ausprobiert, ich bin darum für eure Eindrücke dankbar. Sagt mir auch gerne, wenn ich etwas unklar erkläre!



MBTI für Anfänger*innen
Der Myer-Briggs-Typenindikator unterscheidet 16 Persönlichkeitstypen aus acht verschiedenen Präferenzen (Introversion (I)/Extraversion (E), Intuition (N)/Sensorik (S), Fühlen (F)/Denken (T), Wahrnehmung (P)/Beurteilung (J)). Meistens ergibt sich aus einem fixen Online-Test eine Buchstabenkombination wie INFP, ESTJ, ISTP, ... so etwas habt ihr bestimmt schon einmal im Netz herumschwirren sehen.

Der oben verlinkte, kostenlose Test kann einen guten ersten Eindruck von einer Romanfigur geben und euch gegebenenfalls dabei helfen, sie von anderen Figuren abzugrenzen. Zum Beispiel könnt ihr für den jeweiligen Typen nachlesen, was ihnen in einer Freundschaft oder Beziehung wichtig ist und entsprechende Konflikte darauf zielen lassen – was besonders nützlich ist, wenn sich die Figur stark von euch selbst und eurem Weltbild unterscheidet (oder ihr dazu neigt, immer wieder eine ähnliche Hauptfigur zu schreiben).
Natürlich gibt es viele andere Wege, einen glaubwürdigen Charakter zu erschaffen; wie gesagt ist der MBTI nur ein Werkzeug.

MBTI für Fortgeschrittene
Richtig interessant wird der MBTI, wenn man sich die sogenannten Kognitiven Funktionen anschaut. Davon gibt es acht Stück, die jeder Mensch allesamt in unterschiedlicher Ausprägung besitzt und anwendet (hier gibt es einen Zusammenhang damit, dass niemand wirklich introvertiert oder extravertiert sein kann bzw. der Begriff von vielen Menschen falsch verstanden wird. Ich verwende die Begriffe hier als nach innen bzw. nach außen gerichtet).

Nach außen gerichtet  Nach innen gerichtet
Extravertierte Sensorik (Se)  Introvertierte Sensorik (Si)
Extravertierte Intuition (Ne)  Introvertierte Intuition (Ni)
Extravertiertes Fühlen (Fe)  Introvertiertes Fühlen (Fi)
Extravertiertes Denken (Te)  Introvertiertes Denken (Ti)

Jeder MBTI-Typ hat eine eigene Reihenfolge dieser Kognitiven Funktionen, heißt: Jeder Typ hat eine eigene Präferenz, wie mit der Welt und dem eigenen Innenleben interagiert wird. Beispiel: Der "cognitive stack" eines INFJ lautet Ni Fe Ti Se.
Die erstgenannte Funktion ist immer die bevorzugte/am stärksten ausgeprägte, bei einem INFJ wäre das Ni.
Dabei kann man sich leicht merken, dass alle primär introvertierten Typen (IXXX) in ihrem Stack mit einer introvertierten kognitiven Funktion (Xi) beginnen und die extravertierten (EXXX) eben mit einer extravertierten (Xe). Die zweite Funktion ("Hilfsfunktion", bei INFJ wäre das Fe) ist immer bei Introvertierten nach außen gerichtet und bei Extravertierten nach innen. Am Beispiel Ni Fe Ti Se (INFJ) sieht man gut, dass sich Extraversion und Introversion immer abwechseln. Mit Schattenfunktion (dazu später!) sieht der volle "cognitive stack" eines INFJ so aus: Ni Fe Ti Se Ne Fi Te Si – hier wird in der Mitte "gespiegelt".

Für die allgemeine Bedeutung der unterschiedlichen Kognitiven Funktionen: Englischsprachige Erklärung / Deutsche Wikipedia.

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Wir wissen jetzt: Aus einem fixen Online-Persönlichkeitstest (ähem, oder jahrelanger Beschäftigung in Form von Büchern und Webseiten, aber das muss sich niemand in dem Umfang antun) erhalten wir eine Buchstabenkombination. Wenn sie zu unserem Bild von einer Figur passt, behalten wir sie erstmal (wenn nicht: Test wiederholen oder händisch nach passendem Typen suchen) und schauen uns die Kognitiven Funktionen an – beim Googlen sucht man besser direkt nach "cognitive stack", die meisten Ergebnisse gibt es nun einmal im Englischen. Mithilfe der Primären Kognitiven Funktionen können wir die bevorzugte Denk- und Handlungsweise der Figur erfahren, sowohl mit dem eigenen Innenleben als auch mit der Außenwelt.

MBTI für Fortgeschrittene (jetzt in fies!)
Zudem gibt es für jeden MBTI-Typen die sogenannten Schattenfunktionen (wie dramatisch!), die ihre Primären Funktionen mit umgekehrter Introversion/Extraversion sind. Aus dem Ni Fe Ti Se eines INFJ wird bei den Schattenfunktionen also ein Ne Fi Te Si. Auch hier ist die jeweils erste Funktion (im Beispiel: Ne) die am stärksten ausgeprägte. Diese Funktion ist hier zwar eine Schwäche, aber kein komplettes Drama. Fi und dann Te sind größere Herausforderungen, und laut Modell benutzt eine Figur mit dem Typen INFJ ihr Si nur am absoluten Deep Shit Point, wenn alles aus den Fugen gerät. Nieeemals freiwillig.

Die vier Schattenfunktionen heißen:
  • The Opposing Role / Die gegensätzliche Rolle
  • The Critical Parent / Das kritische Elternteil
  • The Trickster / Der Betrüger
  • The Demon / Der Dämon

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Wie bei den Primären Funktionen sind auch die Schattenfunktionen für jeden MBTI-Typen in einer einzigartigen Reihenfolge angegeben. Hier gibt es leider kein nettes Kompendium an Links wie weiter oben, ihr müsst also selbst ein wenig im Internet schnüffeln. Ich möchte trotzdem gerne ein Beispiel an einem häufigen Autor*innen-MBTI geben.

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Die Integration in den Plot

Nach so viel Vorerklärung komme ich jetzt endlich zu dem Punkt, an dem wir die Schattenfunktionen in den Plot einweben. Dafür nehme ich bevorzugt die 7-Punkt-Struktur, die sich in fünf Akte gliedern lässt – eine Integration in die Klassische Heldenreise habe ich noch nicht ausprobiert, weil ich da ohnehin weniger ein Fan von bin.
Die folgende Tabelle dient als Übersicht über die Struktur und wurde komplett übernommen von Vickie und das Wort. Wenn ihr den Spoiler öffnet, klickt bitte auch einmal auf den Link für einen verifizierten Seitenbesuch bei der Urheberin!

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Dieses 5-Akt-Modell kann man ziemlich gut mit den Schattenfunktionen kombinieren, indem man den 1. Akt zur Einführung nutzt, im 2. Akt The Opposing Role herausfordert, im 3. Akt The Critical Parent dazuholt, das Ganze im 4. Akt um The Trickster erweitert und entweder dort noch The Demon dazuholt (bei Plot Turn 2) oder das für den 5. Akt aufhebt. Die inneren Konflikte der Figur (evtl. auch die äußeren) beschäftigen sich mit diesen vier Schwachpunkten, die zunehmend drängender werden.
Natürlich kann The Trickster/The Demon auch schon viel früher eingeführt werden, um den Spannungsbogen für die gesamte Geschichte zu eröffnen – das bedrohliche Problem wird aber erst viel später im Plot gelöst. Durch die Überwindung der einzelnen Charakterschwächen ergibt sich eine steile Kurve, in der jede Herausforderung unüberwindbarer scheint als die davor. Hier kann eine Figur wachsen.

Ein Vorteil dabei: Ihr stellt eure Charaktere zwar wie gewohnt dar (show don't tell etc.), aber Leser*innen haben meist keine Ahnung, welchen MBTI jemand hat, geschweige denn, wie die Primären oder Schattenfunktionen aussehen. Wenn der MBTI-Typ überzeugend transferiert wird, wirken die damit verknüpften Herausforderungen passend für die Entwicklung der Figur, aber nicht so spezifisch zugeschnitten wie bei rein äußerlichen Konflikten.

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Ihr seht also: Die eigentliche Idee ist relativ simpel und kann wertvolle Denkanstöße geben, um die Geschichte gerade in den Punkten Konflikte und Charakterentwicklung zu stärken.
Schreibt mir gerne, ob das Modell für euch und eure Figuren funktionieren würde. Ich würde mich freuen, wenn wir keine Grundsatzdiskussion über den MBTI anstoßen, sondern es wirklich als Kreativwerkzeug betrachten und nicht als verifizierte psychologische Methode.
Vielen Dank fürs Lesen!



Nachgeliefert:
Dieser Blog zeigt die Shadows für jeden Typen sehr kompakt an, und zumindest ich erkenne meine eigenen Typschwächen in den genannten wieder.
Guilty feet have got no rhythm.

Valentina

Das ist eine tolle Zusammenfassung!

Ich habe anfangs versucht, mit den MBTI zu arbeiten, das hat mich aber damals schnell überfordert, weil ich einfach viel zu viele Charaktere hatte. Stattdessen habe ich mit dem Eneagramm Typen gearbeitet, deren jeweils ggüberliegende Seite auch diese Schattenfunktion hat und als Anhaltspunkt dafür genommen werden kann, wie sich die Figuren entwickeln.
Das MBTI Modell ist allerdings viel facettenreicher und kann durch zb. Sensorik und Wahrnehmung im Roman jeweils eine eigene Stimmung/Atmosphäre erzeugen.
Ich glaube auch, dass das Modell im Nachhinein anwendbar ist, um bestehende Figuren besser auszuarbeiten. Da werde ich über meine Figuren nochmal drübergehen, danke für den Post!
"Selbst die Dunkelheit muss vergehen. Ein neuer Tag wird kommen. Und wenn die Sonne wieder scheint, wird sie umso heller strahlen." - J.R.R. Tolkien

Jen

Sehr gern, danke dir!
Mit Enneagrammen hab ich mich nur kurzfristig beschäftigt, der MBTI fühlt sich für mich "natürlicher" an in meiner Arbeitsweise. Ich kam damals (2017) drauf, weil eine Figur (ESFJ) eine Scheidung durchmachen sollte und ich weder ESFJ noch geschieden bin – da hab ich dringend Input gebraucht, was für die Figur wichtig sein könnte, und das hat sich tatsächlich doll von dem unterschieden, was ich vermutet hätte.
Guilty feet have got no rhythm.