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Wie mache ich den Mistkerl sympathisch?

Begonnen von HauntingWitch, 04. Juni 2014, 17:04:53

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0 Mitglieder und 2 Gäste betrachten dieses Thema.

Judith

Ich finde Rhett Butler absolut furchtbar und weder sympathisch noch charmant.  ;)

Und das wiederum zeigt, dass Sympathie natürlich sehr subjektiv ist. Durch eine Balance aus Stärken und Schwächen sowie durch eine gute Motivation kann man dafür sorgen, dass eine Figur zumindest tendenziell sympathisch ist, wie ja schon viele hier geschrieben haben. Trotzdem gibt es vermutlich Eigenschaften an einer Figur (bzw. "Fehler"), die manche gar nicht mögen, ganz egal, wie sie umgesetzt werden. Dagegen wird man nicht viel machen können - ich glaube, dass es nur sehr selten (wenn überhaupt) Figuren gibt, die alle Leser sympathisch finden.
Oft mag ich auch Figuren, ohne sie sympathisch zu finden; für mich ist Sympathie auch keine Voraussetzung für potenzielle Lieblingsfiguren (ich liebe es, aus Cersei Lannisters Perspektive zu lesen, obwohl ich sie unsympathisch ohne Ende finde). Ich kann mir auch vorstellen, dass Rhett Butler so jemand ist, den viele nicht per se sympathisch, als Romanfigur aber dennoch großartig finden.

Nandriel

Ah, das finde ich sehr spannend! Ich habe zwar nicht alles gelesen (was ich aber gern noch nachholen werde), jedoch musste ich bei diesem Problem sofort an ein Buch denken, das mir eine Freundin empfohlen hat, die Producerin ist:

Blake Snyder: "Save the Cat!: The Last Book on Screenwriting You'll Ever Need". Michael Wiese, 2005.

Zwar geht es hier primär um die Entwicklung von Filmen, allerdings lässt sich da doch auch einiges auf die Roman- und vor allem die Figurenentwicklung anwenden.

Ich habe mir das Buch als eBook gekauft, es ist leider nur in Englisch erhältlich soweit ich weiß, was es nicht ganz einfach macht, alles zu verstehen. In der Buchvorschau von Amazon kann man aber gerade zu dem Problem, wie man einen eigentlich unsympathischen Charakter sympathisch macht, Folgendes nachlesen (Kapitel 6, S. 121ff.):

"To review, Save the Cat is the screenwriting rule that says: 'The hero has to do something when we meet him so that we like him and want him to win.'"

Er erklärt das Ganze dann am Beispiel von Pulp Fiction, wobei die titelgebende Szene wohl aus einem Film stammt, wo ein Gangsterboss zu Beginn eine Katze rettet und man diesen erstmal einfach mögen muss, bevor man ihn als knallharten Verbrecher erlebt - allerdings finde ich gerade die Stelle nicht wieder.

Übertragen aufs Buch hieße das also, dass der Protagonist erstmal was machen muss, was absolut sympathisch rüberkommt, bevor wir auch seine schlechten Seiten kennen lernen - bis dahin mögen wir ihn nämlich bereits.

Im Grunde wurde das so ähnlich aber alles bereits genannt, trotzdem hilft es (mir) aber ungemein, sich mal durchzulesen, wie solche Szenen für Filme strukturiert sein müssen, damit sie funktionieren. Das aber nur als kleine Ergänzung zu den vielen vorherigen Ideen :)

Siara

Zitat von: Nandriel am 21. Juli 2014, 23:09:49
Übertragen aufs Buch hieße das also, dass der Protagonist erstmal was machen muss, was absolut sympathisch rüberkommt, bevor wir auch seine schlechten Seiten kennen lernen - bis dahin mögen wir ihn nämlich bereits.
Das ist sicher eine Möglichkeit, aber in meinen Augen absolut kein "Muss". Einen netten Charakter zu haben und den langsam ein bisschen dunkler zu färben, macht ihn interessanter und vielschichtiger. Du hast vollkommen recht, wenn man seine guten Seiten bereits erlebt hat, sind die schlechten leichter zu verzeihen.

Für mich liegt der größere Reiz aber in der Umkehrung. Eine Figur als richtigen Mistkerl dazustellen, über den man als Leser entweder die Augen verdrehen möchte, oder sich Schutz suchend in eine Ecke flüchtet, und diesem dann etwas Gegenteiliges zu geben - das hat mich schon mehrmals wirklich beeindruckt. Ob es nun eine Schwäche ist, ein "unpassendes" Hobby oder schlicht eine gutherzige Seite, ist natürlich von Charakter zu Charakter unterschiedlich. Aber den Bösen von außen zu sehen und dann die harte Schale durchbrechen zu dürfen, so habe ich schon so manchen Finsterling/Mistkerl lieb gewonnen.
I'm going to stand outside. So if anyone asks, I'm outstanding.

Sprotte

Ich habe einen Roman mit einem richtig kleinen Kotzbrocken gestartet. Er ist arrogant, ganz besonders von sich und seinen Besonderheiten eingenommen, hält sich für ein Geschenk der Götter an alle Frauen (und "weiß", daß er sie im Bett absolut beglücken wird wie noch kein anderer zuvor ...). Er ist ein Feigling, ein Schnösel und kleiner Widerling. Aber er hat auch eine verletzliche Seite, eine Vorgeschichte, die Stück für Stück ans Licht kommt, und als er sich endlich verliebt, ist er selbstlos, liebevoll und wundervoll überfordert. Er kann sogar bescheiden sein!
Bisherige Testleserinnen schwankten zwischen dem Bedürfnis, ihn an die Wand zu klatschen, und dem innigen Wunsch, ihn beschützend in den Arm zu nehmen.

FeeamPC

Michael Corleone startet als netter junger Mann, der sich von den kriminellen Machenschaften seiner Familie distanzieren will. Hinterher wird er ein knallharter, bösartiger Mafiaboss (DerPate). Was macht ihn trotzdem für den Leser  sympathisch?
Sein Charakterumschwung wird durch die Ermordung seiner jungen Frau induziert.

HauntingWitch

@Sprotte: Ich kenne deinen Charakter jetzt nicht, aber so etwas finde ich immer etwas heikel bzw. schwierig. Ich mag diese Charaktere nicht, die von einem Moment auf den nächsten wirken wie ein umgedrehter Handschuh, nur weil Mr. oder Mrs. Right vorbei kommt. Das würde ich auf jeden Fall vermeiden wollen.

Erstmal finde ich es richtig toll, dass dieser Thread immer noch so aktiv ist und immer wieder neue Inputs kommen. :) Ich habe mittlerweile auch selbst noch ein wenig darüber nachgedacht. Mir ist etwas aufgefallen: Sympathie oder Antiphatie für einen Menschen hängt bei mir von so vielen unzähligen Faktoren ab, teilweise ist es auch recht abstrus. Überwiegt aber die Sympathie, verzeihe ich jemandem negative Eigenschaften eher. Demnach müsste man sich als Autor eigentlich sagen können: Was soll's, entweder mögen sie ihn oder eben nicht. Nur, warum kann ich das nicht?  ;D

Guddy

@Sprotte Bei solchen Charakteren finde ich es wichtig, dass die andere Seite auch beim "vorher" immer wieder durchblitzt. Schließlich sind es Eigenschaften, die nicht plötzlich auftauchen und die bereits in ihm stecken müssen. Wenn sich ein Protagonist so unwahrscheinlich stark verändert, kam es auch bei mir fast nie gut an, es hat was von Metamorphose. Und die halte ich psychologisch nicht für ganz einwandfrei ;)

Mein Protagonist ist allerdings ähnlich - in einer stark abgeschwächten Version.
Meiner meinung nach kann Liebe einen nämlich nicht komplett umändern. Sie verlagert nur Prioritäten und kann einem einen neuen Blick, eine neue Einfärbung schenken. Doch eine komplette Typänderung.. zumindest wird sie dann eher temporär sein.
Aber vielelicht klang es bei deiner kurzen Ausführung gerade auch einfach nur dramatischer, als es tatsächlich ist :) Charakterliche Veränderungen an sich sind ja sehr spannend(und wichtig!), wenn man sie gut begründet und es zu beschreiben weiß!

Sprotte

Es blitzt durch, keine Sorge. Er macht keinen 180-Grad-Schwenk.

Guddy

Juhu! Dann will ich nichts gesagt haben  ;D

Aleya Sihana

Das ist ein spannendes Thema ;) Ich persönlich finde die Bösewichte/Mistkerle ja immer die interessantesten Figuren. Sie sind ja nicht von Grund auf "böse". Jeder hat als unbeschriebenes, weisses Blatt begonnen und die individuellen Erlebnisse formen dann langsam den Charakter. Da gefällt mir auch besonders, wenn der Feind schliesslich zum Freund wird. Die Auslöser für so eine Wandlung können da ja ganz verschieden sein. Ich schreibe im Moment etwas Ähnliches. Der Bösewicht wird von seinen eigenen Leuten gezwungen sich so zu verhalten, wodurch er von sich aus meist aggressiv ist und Stimmungsschwankungen hat. Irgendwann platzt ihm der Kragen und er haut ab. Sobald er wieder er selbst sein kann, erfährt man dann schnell wie er eigentlich wirklich ist.
Ich weiss, es geht jetzt eigentlich nicht um Gut und Böse, sondern um reale Mistkerle. Aber Bösewichte sind ja meistens auch Mistkerle ;D

Norrive

Hey ihr lieben,

ich bemühe mich auch immer, meinen Bösewichtern Tiefe zu verleihen, Motive, und auch manchmal die ganz verborgenen weichen, netten guten Eigenschaften hervorblitzen zu lassen. Aber ich hatte da letztens auch schon mit Korahan diskutiert: Ich habe das Bedürftnis, eine wirklich grausame, sadistische Prota zu erzählen (Im Groben eine Sadistin anstatt einer Opportunistin, die nur böse handelt um Ziele zu verfolgen). 

Ich möchte zeigen, dass die Frau nah am Wahnsinn dran ist und den Sinn für Mitleid und Empathie verloren hat. Bis ich die Hintergründe erklären kann ( 2000 Jahre lang in einem magischen Sarg bei vollem Bewusstsein eingesperrt....) stehe ich aber eventuell vor dem Problem, den Leser bei der Figur zu halten und sie nicht einfach als arme Irre abzuschreiben. Würden bei solch einer radikal bösen Person immer noch kleinste Durchblicke auf das ehemals Gute ausreichen, bzw. lassen sich die hier genannten Methoden auch noch auf ganz radikale Charaktere anwenden?

HauntingWitch

@Norrive: Ich denke, das sollte funktionieren. Kennst du "Die Schwarzen Juwelen" von Anne Bishop? In deren Band I, "Dunkelheit", gibt es auch einen Protagonisten, der zu Beginn ein richtiges A.... zu sein scheint. Allmählich erfährt man aber, wie er so geworden ist und zwischendurch wird immer wieder einer seiner positiven Aspekte hervorgehoben. Am Ende ist er der anständigste von allen. :rofl: Ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was du meinst, ob der Boshaftigkeitsgrad, sozusagen, vergleichbar ist. Das nur so als Gedanke. Selber ausprobiert habe ich aber noch nichts vom hier im Thread erwähnten, ich fange da auch erst an.

Lothen

@ Norrive: Ich denke, wenn der Leser weiß, dass die Dame einfach nicht unbedingt sympathisch ist, dürfte ihn diese Tatsache ja nicht vom Lesen abhalten. Im Gegenteil: Vielleicht kannst du es ja so gestalten, dass das Interesse an ihrem Werdegang eher noch wächst statt abnimmt?

Man sollte es mit den "guten Aspekten" auch nicht übertreiben. Manche Personen sind einfach nicht nett oder sind vielleicht sogar stereotyp in ihren negativen Eigenschaften - und das ist meiner Ansicht nach auch okay. Gerade Empathie, das Norrive angesprochen hat, ist eine sehr elementare Eigenschaft, die Menschen nur schwer erlernen können, wenn sie sie im Laufe ihrer Entwicklung nicht gelernt haben. Eine sadistische, grausame Person, die plötzlich anfängt, Mitleid mit ihren Mitmenschen zu haben, fände ich inkonsequent.

Norrive

@Witch: Ohja, die Bücher hab ich verschlungen. Daemon  :knuddel: Apropos, Daimon aus vampire diaries macht ja auch so eine Entwicklung durch oder? Sehe die Serie immer nur wenn ich vorm TV einschlafe ;D  Ich wollte meine Prota noch wesentlich dunkler schreiben als besagten Band I Villain. Aber die Motivation der beiden ist vielleicht ähnlicher als ich dachte. Nur den Wandel zum Gutmensch wird sie nicht so schaffen können, dafür ist sie zu kaputt. Aber vielleicht verschaffe ich ihr wenigstens Seelenfrieden am Plotende. Charakter steht, Plot noch nicht  :vibes:

@Lothen Es wäre natürlich genial, wenn ich den Leser durch die Antipathie und nur wenige lichte Momente doch fesseln könnte. Das vage Gefühl, das hinter bösen Protas noch mehr steckt, habe ich auch immer mal wieder und freue mich wie ein Kind, wenn ich Recht hatte ;D Sie hat Empathie ja nur verlernt. Ich glaube, sie ist mental da, wo die Longbottoms sind, nur weniger auf der Gemüseseite als auf der Mörderische-Rache-an-Feinden-Seite, allerdings gleichsam verrückt.

Außerdem will ich es eigentlich schaffen, dem Leser ein ungutes Gefühl des Verständnisses zu geben und vielleicht ein ganz kleines bisschen Grausamkeit zu genießen. Das ginge mit einem zu flachen Charakter nicht, aber zu gut darf sie dann auch nicht sein.

Zitat von: Lothen am 28. Juli 2014, 20:40:53
Man sollte es mit den "guten Aspekten" auch nicht übertreiben. Manche Personen sind einfach nicht nett oder sind vielleicht sogar stereotyp in ihren negativen Eigenschaften - und das ist meiner Ansicht nach auch okay.

Das trifft es ganz gut, glaube ich :)

Lothen

Zitat von: Norrive am 28. Juli 2014, 21:06:29
Außerdem will ich es eigentlich schaffen, dem Leser ein ungutes Gefühl des Verständnisses zu geben und vielleicht ein ganz kleines bisschen Grausamkeit zu genießen. Das ginge mit einem zu flachen Charakter nicht, aber zu gut darf sie dann auch nicht sein. 

Das klingt doch super - mir würde das gefallen :)