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Wie weit lasst ihr eure Charaktere gehen?

Begonnen von Wildfee, 05. August 2018, 18:35:22

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canis lupus niger

#15
Zitat von: Wildfee am 05. August 2018, 18:35:22
Ich frage mich, was das über unsere Gesellschaft aussagt, wenn wir als Autoren dem Leser unterschwellig vermitteln, dass Erkenntnisgewinn/Charakterentwicklung nur durch Schmerz stattfinden kann.
[...]
Ist es denn wirklich notwenig, die Übertreibung/Überspitzung als Stilmittel zu verwenden, wenn es um das Erleiden von Schmerz und Leid geht?
Meiner Meinung nach ist physischer Schmerz nicht das (einzige?) geeignete Mittel zu Erkenntnisgewinn und Charakterentwicklung.  Tatsächlich sehe ich es aber als ein geeignetes Mittel zur Selbsterkenntnis und Charakterentwicklung an, dass eine Person an ihre psychischen oder moralischen Grenzen geführt wird, um für sich zu entscheiden, bzw. entscheiden zu müssen, was für ein Mensch (oder in der Fantasy: anderes Wesen) sie künftig sein will. Diese Grenzen können aber auf die verschiedensten Weisen infrage gestellt werden.

Ixys

Ich lasse meine Protagonisten gerne weiter gehen als meine Antagonisten, die sind oft mehr dafür da, dass meine Protas zu moralisch fragwürdigen Entscheidungen getrieben werden. In der Geschichte, die ich gerade schreibe, ist mein Protagonist zum Beispiel kurz davor, einen mehr oder minder Unschuldigen zu foltern, weil er unbedingt Informationen braucht, die er anders nicht bekommen kann. Ich scheue mich ein bisschen davor, diese Szene zu schreiben, aber es ist durchaus etwas, was dem Charakter in einer Extremsituation zuzutrauen wäre. Die eigentliche Überlegung dahinter ist, dass ich es spannend finde, was mit Charakteren passiert, wenn sie merken, dass sie zu weit gegangen sind. Nicht nur wie sie mit Leid umgehen, was ihnen von anderen zugefügt wird, sondern wie sie mit Schuld umgehen. Oder mit der Erkenntnis, dass sie vielleicht gar nicht so viel besser sind als der Antagonist, den sie verurteilen.
Allerdings ist das mehr mein persönlicher Geschmack und keine grundlegende Überzeugung. Für mich gilt beim Schreiben: je düsterer, desto besser. Aber ich lese durchaus auch gerne Geschichten, in denen es um innere Konflikte geht, die wenig bis nichts mit seelischen oder sonstigen Grausamkeiten zu tun haben.
Stones taught me to fly
Love taught me to lie
         Damien Rice, "Cannonball"

Philian

Ich habe einmal gelesen, dass man sich überlegen soll, was das Schlimmste wäre, das dem Protagonisten in dieser Situation passieren könnte. Und genau das sollte man dann auch geschehen lassen.
Warum? Weil nichts den Charakter des Protas so deutlich zum Vorschein bringt, wie seine Versuche, sich den Schwierigkeiten zu stellen, in die er geworfen ist.
Außerdem macht genau das ein Buch spannend. "Oh nein, der/die Arme!", ist ein Gedanke, den es sich durchaus lohnt  bei unseren Lesern hervorzurufen. Bringt er ihnen den Protagonisten doch sehr nahe, regt ihn zum Mitleiden und Mithoffen an.

Um diesen Gedanken hervorzurufen benötigt es auch keine Folterkammer, sondern vielleicht eine wetterbedingte Absage der Geburtstagsfeier auf der mein schüchterner Prota seiner Angebeteten endlich seine Gefühle gestehen will, und zwar in einem gut durchdachten Ablauf von Geschehnissen und Sätzen für deren Perfektion er monatelang geübt hat. Oder eine Spinne ausgerechnet über der Tür, durch die der Spinnenphobiker zum Vorstellungsgespräch gehen muss.
Ihr merkt schon, ich liebe es, meine Protas in Verlegenheit zu bringen. Dann lache ich und rufe: 'Die Arme, oh, das war jetzt aber gemein!' Und dann lache ich noch mehr weil ich so fies bin und mir das keiner zugetraut hätte.  ;D

Amanita

ZitatIch habe einmal gelesen, dass man sich überlegen soll, was das Schlimmste wäre, das dem Protagonisten in dieser Situation passieren könnte. Und genau das sollte man dann auch geschehen lassen.
Diesen Tipp habe ich auch gelesen. Ich finde, dass es einer Geschichte durchaus helfen kann so vorzugehen, aber man sollte es in Maßen einsetzen. Wenn der Protagonist ständig nur mit Unglück überschüttet wird, wird die Geschichte irgendwann zu deprimierend oder der Leser stumpft ab.

FeeamPC

Naja, wenn er durch den Flugzeugabsturz fast umkommt, dabei aber die Liebe seines Lebens findet, ist es eben gleichzeitig das Schlimmste und das Beste, was ihm passieren konnte.  ;D

Christian

ZitatIch habe einmal gelesen, dass man sich überlegen soll, was das Schlimmste wäre, das dem Protagonisten in dieser Situation passieren könnte. Und genau das sollte man dann auch geschehen lassen.
Das ist so ein Schreibtipp, der genau so sinnvoll wie sinnlos sein kann. Macht man das mal und zieht das konsequent durch, steht man (oder eben nicht) da mit einem Protagonisten, der keine Beine mehr hat. Und weil das eben so gar nicht geht, fängt man am Ende an, das ganze Ding neu zu schreiben. Tja.

Für mich persönlich gibt es nur eine/n Schreibtipp/-regel oder vielmehr nur eine allgemeingültige Antwort auf alle Schreibfragen: Es kommt drauf an.
Passt dann auch zum Titel des Threads.