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Show, don’t tell – Charaktereigenschaften

Begonnen von Frostschimmer, 13. Oktober 2023, 12:50:56

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Zit

#15
@Manouche

Du hattest geschrieben, es wären dann die Charaktereigenschaften einer Person geschildert – meiner Meinung nach ist das aber ein Trugschluss. Der POV-Träger hält Figur A für faul, aber das heißt nicht, dass Figur A das auch tatsächlich ist. Das ist das, was ich mit unzuverlässig meine: Leser:innen wird eine Wertung/ Einschätzung einer Figur geschildert, aber dies ist bei personenbezogenen POV's vom Bias des POV-Trägers gefärbt, was zu Diskrepanzen zwischen vorgegebener Wertung und erlebter Wertung durch Leser:innen führen kann. Gerade Frostschimmers Beispiele, dass Figuren als intelligent benannt werden, aber dann nicht so handeln, kann so eine Diskrepanz sein.

Wer sagt über Wen Was? Welche Beziehungen bestehen zwischen Wer und Wen? Könnte Wer eine Agenda verfolgen, und wenn ja, beeinflusst diese Agenda den Wahrheitsgehalt von Wens Aussagen?
Aber auch, was Yamuri sagte: Habe ich als Beobachter:in alle Informationen? Kann ich den Informationen vertrauen, die mir als Beobachter:in gegeben wurden? Welchen Bias habe ich als Beobachter:in? Bin ich als Beobachter:in dazu in der Lage, eine Einschätzung zu treffen, ob Wens Aussagen zutreffen?

Das klingt jetzt alles sehr abstrakt, aber gerade bspw. im Krimi-Genre ist es ja essentiell unterscheiden zu können, gerade auch als Leser:in, wann und wieso welche Figuren lügen, die Wahrheit sagen oder die Wahrheit sagen, aber objektiv falsch widergeben.
Beispiel Wahrheit, aber objektiv falsch: Person A beobachtet zwei Passanten auf der Straße, die sich angeregt unterhalten. Person A sagt einem Dritten gegenüber später, die Personen hätten sich gestritten. Aber das haben sie vielleicht gar nicht. "Streit" ist eine subjektive Wertung, die objektive Aussage wäre "haben sich angeregt unterhalten".
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Mondfräulein

Zitat von: Manouche am 19. Oktober 2023, 11:34:14Ich gehen davon aus, dass die Leser:innen dies erkennen und richtig auffassen können.

Ich glaube, genau daran scheitern viele unzuverlässige Erzählstimmen. Ich kann nicht einfach davon ausgehen, dass meine Leser*innen schon darauf kommen werden, dass das gerade nicht stimmt. Ich muss sie da schon aktiv mitnehmen, wenn ich möchte, dass sie mitbekommen, dass eine Erzählstimme unzuverlässig ist oder dass der Perspektivträger gerade nicht objektiv ist und der Eindruck, den er*sie von einer Figur hat, nicht richtig ist.

Konflikte bei Beschreibungen können spannend sein. Zum Beispiel, wenn Figur A einen ganz anderen Eindruck von Figur B hat als Figur C. Dann muss ich aber dafür sorgen, dass die Leser*innen irgendwie dahinter blicken, woher diese unterschiedliche Auffassung kommt und eine Vorstellung davon haben, welcher Eindruck Figur B am Ende bei den Leser*innen machen soll. Wenn ich nur einen Perspektivträger habe, dann muss ich mir überlegen, ob sich der Eindruck, den Figur B auf Figur A macht, im Laufe der Geschichte wandelt. Es sollte irgendwie nachvollziehbar sein, welche Eigenschaften von Figur A dazu führen, dass er*sie Figur B so wahrnimmt (vielleicht erinnert sie an eine andere Person aus der Vergangenheit von Figur A, oder sie drückt ganz bestimmte Knöpfe bei Figur A). Das kann spannend sein, um auch Figur A besser zu charakterisieren. Ich könnte dann zum Beispiel gegensätzliche Hinweise einstreuen und zeigen, warum und wie Figur A diese relativiert oder ignoriert. Aber letztendlich muss ich schon Arbeit investieren, um deutlich zu machen, warum hier gerade ein Konflikt zwischen Wahrheit/Eindruck oder zwischen verschiedenen Eindrücken entsteht.

Widersprüchliche Informationen können spannend sein, aber nur dann, wenn ich als Leserin das Gefühl habe, dass das gerade Absicht ist. Ansonsten endet das schnell damit, dass ich frustriert bin, weil sich das Buch in Widersprüchen verstrickt und es wirkt einfach schlecht umgesetzt.

Manouche

@Zit
Ich sehe das "aus einer Perspektive her Beschreiben", als Tell und unbedingt als Ergänzung zur Handlung, zum Show.
Und ja, ich finde es Menschlich und wichtig, dass die Wahrnehmung der Protagonist:innen sich im Laufe der Handlung verändern.
Wie eine Person die andere wahrnimmt kann meiner Meinung nach auch Aufschluss auf ihren eigenen Charakter geben. @Yamuri beschreibt das im Beispiel zur Intelligenz sehr schön.

Was Krimi-Genre angeht bin ich jetzt nicht sehr bewandert, aber ich stelle mir vor, dass genau hier die verschiednen Perspektiven viele Möglichkeiten bieten. Im Krimi dürfen ja Leser:innen zeitweise gerne auf falsche Fährten geführt werden. Aber wie gesagt, damit habe ich wirklich keine Erfahrung.

ZitatIch glaube, genau daran scheitern viele unzuverlässige Erzählstimmen. Ich kann nicht einfach davon ausgehen, dass meine Leser*innen schon darauf kommen werden, dass das gerade nicht stimmt. Ich muss sie da schon aktiv mitnehmen, wenn ich möchte, dass sie mitbekommen, dass eine Erzählstimme unzuverlässig ist oder dass der Perspektivträger gerade nicht objektiv ist und der Eindruck, den er*sie von einer Figur hat, nicht richtig ist.

Auf jeden Fall ist es damit nicht getan. Das sehe ich auch so.


"Das Lied der Krähen" von Leigh Bardugo ist für mich Beispiel und auch Vorbild. Die verschiedenen Protagonist:innen erleben die Handlung aus ihrer eigenen Perspektive. Eine Situation wird dadurch sehr unterschiedlich wahrgenommen, je nach Lebenserfahrung und auch Traumata.




selkie

Zitat von: Manouche am 20. Oktober 2023, 10:54:37@Zit

ZitatIch glaube, genau daran scheitern viele unzuverlässige Erzählstimmen. Ich kann nicht einfach davon ausgehen, dass meine Leser*innen schon darauf kommen werden, dass das gerade nicht stimmt. Ich muss sie da schon aktiv mitnehmen, wenn ich möchte, dass sie mitbekommen, dass eine Erzählstimme unzuverlässig ist oder dass der Perspektivträger gerade nicht objektiv ist und der Eindruck, den er*sie von einer Figur hat, nicht richtig ist.

Auf jeden Fall ist es damit nicht getan. Das sehe ich auch so.


"Das Lied der Krähen" von Leigh Bardugo ist für mich Beispiel und auch Vorbild. Die verschiedenen Protagonist:innen erleben die Handlung aus ihrer eigenen Perspektive. Eine Situation wird dadurch sehr unterschiedlich wahrgenommen, je nach Lebenserfahrung und auch Traumata.



Das sehe ich auch so und ich finde auch, dass es mich aus dem Lesefluss reißt, wenn ich dann mitten im Kapitel anfange, darüber nachzudenken, ob ich der Erzählstimme vertrauen kann. Natürlich kann das auch seinen Reiz haben, aber halt auch voll nach hinten losgehen und das Buch dadurch sperrig werden lassen. Etwas Anderes wäre es, wenn von vornherein klar ist, dass man der*dem Erzählenden eben nicht vertrauen kann.

"Das Lied der Krähen" finde ich auch sehr gelungen, und ich finde, dass die Art, wie sie die Welt wahrnehmen, die Figuren sehr gut charakterisiert. Sie wirken sehr authentisch und ich mag die Geschichte auch einfach sehr.

Ein anderes Buch, was ich hier sehr gelungen finde, wäre "Der Name des Windes" von Patrick Rothfuss, da man Kvothe eben nicht hundertprozentig vertrauen kann und er eben ein Geschichtenerzähler ist, der das Erzählte so ausschmückt, dass man nie weiß, ob es hundertprozentig die Wahrheit ist, und da finde ich das auch sehr gelungen gemacht und es trägt zum Reiz der Geschichte bei  :)
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(E. E. Cummings)