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Komplexe Emotionen

Begonnen von Mondfräulein, 31. Dezember 2020, 19:33:18

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Mondfräulein

Ich lese gerade ein Buch, das ganz nett ist, aber bisher auch eben nur ganz nett. Beim Lesen ertappe ich mich jedoch immer wieder dabei, wie ich mir denke "Ich wünschte, die Hauptfigur wäre emotional komplexer" und jetzt frage ich mich selbst, was ich eigentlich damit meine. Was sind komplexe Emotionen denn überhaupt? Ich frage mich das vor allem, weil ich dieses Gefühl schon bei verschiedenen Figuren und Geschichten hatte und jetzt darüber nachdenke, was ich daraus als Autorin ableiten kann, denn wenn mir dieser Gedanke kommt, bin ich meistens sehr schnell genervt von dieser Figur und es hindert mich daran, mich ganz auf die Geschichte einlassen zu können.

Der Begriff ist mir tatsächlich gerade erst in einem wissenschaftlichen Paper begegnet, in dem es darum geht, Narrative einzusetzen, um Wissenschaftskommunikation effektiver zu gestalten. Der Unterschied wird da aber nicht zwischen komplexen und einfachen Emotionen sondern Complex Narrative Emotions und Discrete Narrative Emotions gemacht. Discrete Narrative Emotions können ebenso ambivalent sein, Complex Narrative Emotions entstehen zusätzlich durch die Wechselwirkung der Geschichte und der Erinnerungen und Emotionen der Leser, beinhalten also die Gefühle, die ich als Leser zu den Ereignissen innerhalb der Geschichte habe und nicht nur die Emotionen, die schon in der Geschichte vorhanden sind. Die Emotionen sind nicht komplexer, sondern die Art und Weise, wie sie entstehen.

Das ist aber glaube ich nicht, was ich eigentlich meine. Vielleicht ist es die fehlende Vielschichtigkeit der Emotionen und Motivationen. Das Buch fühlt sich sehr nach einer simpleren Welt an, in der Dinge gut oder schlecht sind. Fast ein wenig kitschig. Fast ein wenig naiv. Und ich glaube, das Problem ist nicht die Figur selbst, sondern wie die Geschichte insgesamt erzählt wird, weil diese Haltung überall mitschwingt. Eine naive Figur muss nicht simpel sein, wenn die Welt in der sie lebt, nicht simpel ist.

Heißt das, eine komplexe, differenzierte und weniger zuckersüße Sicht auf die Dinge ist automatisch besser? Oder habe ich hier eigentlich schon Complex Narrative Emotions, weil meine eigene Weltsicht so anders ist als die des Buches, dass es meine Emotionen gegenüber der Geschichte beeinflusst? Ist es am Ende eine Frage der Weltanschauung und nicht jeder Leser wird sich mit jeder Geschichte gleich verbunden fühlen?

Letztendlich will ich aber Geschichten schreiben, die emotional vielschichtig sind, in denen es keine einfachen Antworten gibt und in denen sich Figuren entwickeln und verändern, jeder Schritt davon aber hart umkämpft ist. Ich will keine einfachen Antworten, weil ich auch möchte, dass Leser etwas von meiner Geschichte mitnehmen können. Einfache Antworten kennen sie schon, aber ich finde die Geschichten interessanter, in denen die Antworten eben nicht einfach und simpel sind. Vielleicht steckt da ja auch ein wenig der Drang drin, etwas zu schaffen, das es so nicht schon hundertfach gab. Das ist heutzutage aber kaum noch möglich und wird nicht einfacher.

Wie sehr ihr das? Macht ihr die Unterscheidung zwischen komplexen und einfachen Emotionen? Versucht ihr, das in eure Geschichten einzubauen? Wenn ja, wie? Was macht diese Vielschichtigkeit aus und wie erreiche ich sie als Autor?



Falls es jemanden interessiert, der Artikel, den ich oben erwähnt habe, ist: Bilandzic, H., Kinnebrock, S., & Klingler, M. (2020). The emotional effects of science narratives: A theoretical framework. Media and Communication, 8(1), 151-163.

Klecks

Für mich gehört zu Komplexität und Vielschichtigkeit, dass eine Figur nicht nur in "schwarz" und "weiß" fühlt und denkt, sondern ein emotionales Hin und Her und Für und Wider erlebt. So ist es meistens ja auch in der Realität. Dass eine Figur nicht immer und sofort in eine klare Richtung denkt, dass eine Figur auch einmal falsche und "dumme" Dinge tut, dass sie Schattenseiten hat, die es ihnen schwer machen, ihre Ziele zu erreichen.

Ich glaube aber auch, dass es Menschen (und dann eben auch Figuren) gibt, die durchaus weniger vielschichtig sind, und dass das nichts Schlechtes ist - es ist einfach etwas anderes, und beide Extreme können Stilmittel oder für die Geschichte wichtig und zielführend sein. Oft gibt es da meinem Eindruck nach auch Genre-Unterschiede und Trends. Früher waren die Protagonistinnen in Liebesgeschichten meiner Meinung nach weniger vielschichtig und komplex als in neueren Veröffentlichungen. In dem Fall ist es gut, dass sich das ändert, denn da schwang in meinem Gefühl immer irgendwie mit, dass Frauen nicht komplex und tiefsinnig sein, sondern den männlichen Love Interest anhimmeln sollen.

Nikki

ZitatHeißt das, eine komplexe, differenzierte und weniger zuckersüße Sicht auf die Dinge ist automatisch besser? Oder habe ich hier eigentlich schon Complex Narrative Emotions, weil meine eigene Weltsicht so anders ist als die des Buches, dass es meine Emotionen gegenüber der Geschichte beeinflusst? Ist es am Ende eine Frage der Weltanschauung und nicht jeder Leser wird sich mit jeder Geschichte gleich verbunden fühlen?

Ich lese aus unterschiedlichen Gründen unterschiedliche Bücher, d.h. ich kann einfache Bücher, die nach einfachen Schemata agieren (z.B. Märchen), gleichsam genießen wie hochkomplexe (z.B. der Mann ohne Eigenschaften). Wenn ich mich psychisch auf einem höhen Flug befinde und freie Kapaizitäten habe, um mich auf eine vielschichtige Welt einzulassen, dann sagt mir Mann ohne Eigenschaften eher zu als Rotkäppchen. Wenn ich aber einfach eine Geschichte brauche, von der ich genau weiß, was mich erwartet und die mich einfach nur ablenken soll, ohne dass ich eine großartige denkerische Leistung vollbringen muss, dann wären zB. Märchen perfekt, die durch ihre verklärende Erzählart nochmal eine Pufferzone zur Realität schaffen.

Komplexe Emotionen können meiner Meinung nach nur in einer komplexen Welt entstehen. In einer Welt, in der vorgegaukelt wird, alles wäre schwarzweiß, gibt es nur begrenzte Möglichkeiten. In einer Welt mit Grauzonen schaut es schon anders aus. Wobei ich aber (jetzt, nachdem ich meinen Kommentar fertiggeschrieben habe und ihn nochmal überfliege) komplexe Emotionen lieber durch komplexe Figuren ersetzen wollen würde. Emotionen machen eine Figur komplex, in meinen Augen gibt es keine komplexere Emotion als eine andere.

ZitatIch will keine einfachen Antworten, weil ich auch möchte, dass Leser etwas von meiner Geschichte mitnehmen können.

Leser*innen können auch einfache Antworten "mitnehmen", weil es vielleicht gerade solche sind, die sie im Moment brauchen. Je simpler etwas ist, desto zugänglicher ist es für andere und desto sicherer kann man sich sein, dass es wahrgenommen wird. Ob es akzeptiert wird, ist eine ganz andere Frage. Je komplexer etwas ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass es von der breiten Masse erfasst wird und dementsprechend auch geschätzt wird.

ZitatEinfache Antworten kennen sie schon, aber ich finde die Geschichten interessanter, in denen die Antworten eben nicht einfach und simpel sind.

Einfache Antworten vielleicht, aber nicht jede einzelne Geschichte, die diese liefert. :) Wenn 100 Geschichten dieselbe einfache Antwort liefern, wird womöglich klar, dass die Antwort gar nicht so einfach ist, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hat. Frei nach dem Sprichwort: Alle Wege führen nach Rom. Nicht umsonst haben sich Tropen und Motive bewährt.

ZitatVielleicht steckt da ja auch ein wenig der Drang drin, etwas zu schaffen, das es so nicht schon hundertfach gab. Das ist heutzutage aber kaum noch möglich und wird nicht einfacher.

Milliarden von Menschen haben schon gelebt und dennoch lässt sich ziemlich sicher sagen, dass es jemanden wie dich oder mich noch nicht in dieser Form gegeben hat. ;) Worauf ich hinaus will: Wir sind das Produkt von unterschiedlichen Faktoren, genauso wie Geschichten. Setting, Figuren, Prämisse etc. erschaffen zusammen etwas Neues, wenn du dich als Individuum darauf einlässt, um deine höchstpersönliche Geschichte zu erzählen. In einem Kurs wurde einmal "wahrhaftiges Schreiben" thematisiert, was zum Ziel hat, mit dir selbst in Kontakt zu treten. Das klingt wahrscheinlich gerade sehr abstrakt und für mich, die eigentlich immer bemüht ist, nicht autobiographisch zu schreiben, war dieses Einlassen auf die eigene Person ein ziemliches Umdenken. Aber wahrhaftig ist kein Synonym für autobiographisch. Es meint unverfälschte Inhalte, ohne sie in irgendwelche Stereotype oder Normen zu passen. Da wir alle auf derselben Erde wandeln, ist es nur einleuchtend, dass mehrere Menschen über dasselbe reden bzw. schreiben, weil sie dieselben Dinge beschäftigen und beeinflussen. Aber es ist die Art, wie wir darüber denken, deswegen empfinden und was wir davon versprachlichen.

ZitatMacht ihr die Unterscheidung zwischen komplexen und einfachen Emotionen?

Für mich ist das keine hilfreiche Unterscheidung. Eine Emotion ist eine Emotion. Wut ist Wut. Zuneigung ist Zuneigung. Für sich genommen sind diese Emotionen simpel, doch wenn sie in Kombination miteinander auftreten, werden sie nicht komplex, schaffen aber eine komplexe Figur bzw. eine komplexe Situation, in der eine Figur handeln muss.

ZitatWas macht diese Vielschichtigkeit aus und wie erreiche ich sie als Autor?

Wie gesagt, ich kann mit dem Begriff "komplexen Emotionen" nichts anfangen. Vielschichtigkeit entsteht durch unterschiedliche Handlungsstränge (am besten, wenn diese einander zuwiderlaufen, z.B. Person A möchte eine Bank ausrauben, Person B möchte den Bankraub verhindern, spontan muss ich da an Breaking Bad denken - wir haben einen braven Lehrer, der sich zu einem kaltblütigen Drogenkoch mausert, mit einem Schwager bei der Polizei), durch unterschiedliche Motivationen einzelner Figuren, die sich sogar widersprechen (siehe Breaking Bad: WW möchte gesund werden und gerät deswegen auf die schiefe Bahn, was er sich bis dahin in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hat) und durch unterschiedliche Figuren, die Werte und Motive der anderen Figuren hinterfragen.

Je mehr Ebenen ein Buch hat, desto mehr Gelegenheit bietest du deinen Figuren zu regieren, so können einzelne Szenen von nur einer Emotion beherrscht sein, doch unterm Strich kann das Buch noch immer durch Vielschichtigkeit bestechen.

Alia

Zitat von: Mondfräulein am 31. Dezember 2020, 19:33:18
Letztendlich will ich aber Geschichten schreiben, die emotional vielschichtig sind, in denen es keine einfachen Antworten gibt und in denen sich Figuren entwickeln und verändern, jeder Schritt davon aber hart umkämpft ist. Ich will keine einfachen Antworten, weil ich auch möchte, dass Leser etwas von meiner Geschichte mitnehmen können.
Kann es sein, dass du innere Konflikte meinst?
Komplexe Emotionen in diesem Sinne wären dann z.B.
"Ich liebe den größten Widersacher meines Vaters und weiß nicht, ob ich zu dem einen oder anderen halten soll, weil ich meinen Vater doch auch liebe."
"Meine beste Freundin heiratet. Ich glaube, dass der Bräutigam fremdgeht. Soll ich ihr das erzählen? Was wäre, wenn ich falsch liege?"
"Entweder fliegt das Gebäude in die Luft und 200 Leute sterben oder ich lasse ein Auto hochgehen. Leider sitzt meine Mutter drin."
Bei all diesen Konstellationen gibt es kein schwarz weiß und keine einfache Antwort. Es ist ein ganzer Blumenstrauß an Gefühlen, die man so leicht nicht sortiert bekommt.

ZitatWie sehr ihr das? Macht ihr die Unterscheidung zwischen komplexen und einfachen Emotionen?
Ich glaube, dass alles, was den Figuren passiert, jede Menge Emotionen hervorruft. Oft sind das zwar einfache Emotionen, aber davon eine bunte Mischung.
Z.B. freut sie sich auf den neuen Job. Hofft, dass sich ihre Lage dadurch bessert, hat aber auch Angst zu versagen. Vielleicht ist sie auch wütend, dass ihr Freund sich abfällig über den Job geäußert hat. Oder stolz, dass sie sich gegen so viele Mitbewerber durchsetzen konnte.

Eine Figur kann zB auch gleichzeitg neidisch sein und sich für die beste Freundin freuen. Gleichzeitig schämt sie sich aber auch dafür, dass sie überhaupt neidisch ist und hält sich für einen schlechten Menschen, weil sie ihr den Erfolg halt nicht von ganzem Herzen gönnt.

ZitatVersucht ihr, das in eure Geschichten einzubauen? Wenn ja, wie?
Wie oben schon gesagt, sind m.E. bei den richtig komplexen Gefühlslagen innere Konflikte am Werk. Richtig spannend wird es doch erst, wenn der Prota sich irgendwann entscheiden muss. Das ist bei dem ganz großen inneren Konflikt und einem positiven Charakterarc dann der Punkt, wo er seine Wahrheit findet und das richtige tut.

ZitatWas macht diese Vielschichtigkeit aus und wie erreiche ich sie als Autor?
Innere Konflikte basteln ;)

Da gibt es unterschiedliche Arten:
Ressourcen: Zeit, Geld, Essen, etc. Etwas ist beschränkt. Man kann x oder y damit machen - aber nicht beides.
Ziel: Man kann Ziel A oder Ziel B erreichen - aber niemals beide.
Rollen: Man kann seine Aufgabe in Rolle X oder Rolle Y erfüllen. Aber nicht beide.
Loyalität: Man muss Farbe bekennen, weil man zwischen zwei Parteien steht und nur zu einer loyal sein kann.
Werte: Man muss sich zwischen zwei oder mehreren Werten entscheiden, weil man egal was man tut mindestens einem nicht gerecht werden kann.

Mondfräulein

Zitat von: Klecks am 01. Januar 2021, 22:36:58
Für mich gehört zu Komplexität und Vielschichtigkeit, dass eine Figur nicht nur in "schwarz" und "weiß" fühlt und denkt, sondern ein emotionales Hin und Her und Für und Wider erlebt. So ist es meistens ja auch in der Realität. Dass eine Figur nicht immer und sofort in eine klare Richtung denkt, dass eine Figur auch einmal falsche und "dumme" Dinge tut, dass sie Schattenseiten hat, die es ihnen schwer machen, ihre Ziele zu erreichen.

Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Ein echter emotionaler Konflikt und nicht sofort klare Antworten, weil die Autorin denkt, dass es zu dieser Frage eine klare Antwort geben muss. Keine Scheindebatten über "Tun wir das Richtige?" sondern eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

Zitat von: Klecks am 01. Januar 2021, 22:36:58
Ich glaube aber auch, dass es Menschen (und dann eben auch Figuren) gibt, die durchaus weniger vielschichtig sind, und dass das nichts Schlechtes ist - es ist einfach etwas anderes, und beide Extreme können Stilmittel oder für die Geschichte wichtig und zielführend sein.

Da ist der Unterschied glaube ich, ob die Geschichte an sich tiefgründig ist oder nicht. Eine weniger vielschichtige Figur kann beim Leser ja trotzdem komplexe Emotionen auslösen, wenn das Buch an sich hier eine Ebene tiefer geht. Einige sehr tiefgründige Geschichten beinhalten Personen, die nicht viele komplexe Emotionen fühlen. Ich glaube, was zählt, ist welche Gefühle ich beim Leser über die Geschichte auslöse.

Zitat von: Klecks am 01. Januar 2021, 22:36:58
Oft gibt es da meinem Eindruck nach auch Genre-Unterschiede und Trends. Früher waren die Protagonistinnen in Liebesgeschichten meiner Meinung nach weniger vielschichtig und komplex als in neueren Veröffentlichungen. In dem Fall ist es gut, dass sich das ändert, denn da schwang in meinem Gefühl immer irgendwie mit, dass Frauen nicht komplex und tiefsinnig sein, sondern den männlichen Love Interest anhimmeln sollen.

Das stimmt. Das Buch das ich gelesen habe kam tatsächlich eher aus der Chick Lit Ecke, aber ich frage mich, warum es mich trotzdem so gestört hat. Ich habe auch nicht erwartet, dass mir das Buch jetzt schwierige Fragen über Gott und die Welt stellt, aber selbst für das Genre hatte die Hauptfigur emotional so viel Tiefe wie eine Pfütze an einem Sommertag.

Zitat von: Nikki am 01. Januar 2021, 23:26:27
Komplexe Emotionen können meiner Meinung nach nur in einer komplexen Welt entstehen. In einer Welt, in der vorgegaukelt wird, alles wäre schwarzweiß, gibt es nur begrenzte Möglichkeiten. In einer Welt mit Grauzonen schaut es schon anders aus. Wobei ich aber (jetzt, nachdem ich meinen Kommentar fertiggeschrieben habe und ihn nochmal überfliege) komplexe Emotionen lieber durch komplexe Figuren ersetzen wollen würde. Emotionen machen eine Figur komplex, in meinen Augen gibt es keine komplexere Emotion als eine andere.

Ich würde schon sagen, dass Emotionen komplex sein können. Einerseits dann, wenn sie von anderen Emotionen begleitet wird. Angst an sich ist noch nicht komplex, aber Angst gemischt mit Vorfreude schon. Da ist ein Konflikt, da ist Spannung. Andererseits kann eine Emotion für den Leser durch den Kontext in dem sie vorkommt komplex sein. Eine Figur empfindet vielleicht Angst, ich als Leser weiß aber mehr als sie und begreife so die Komplexität der Situation (zum Beispiel weil das Monster, vor dem sich mein Protagonist versteckt, seine totgeglaubte Mutter ist). Ich würde das aber trotzdem noch als komplexe Emotion beschreiben, da unterscheiden sich bei uns aber glaube ich nur die Begriffe.

Zitat von: Nikki am 01. Januar 2021, 23:26:27
Je mehr Ebenen ein Buch hat, desto mehr Gelegenheit bietest du deinen Figuren zu regieren, so können einzelne Szenen von nur einer Emotion beherrscht sein, doch unterm Strich kann das Buch noch immer durch Vielschichtigkeit bestechen.

Ja, ich denke, da hast du recht. Vielleicht war ich für das Buch auch schon zu sehr Autorin. Wenn ich ein gutes Buch lese, kann ich vollkommen abschalten, aber wenn ich das Gefühl habe, man könnte aus einer Situation mehr herausholen, als es der Autor gerade tut, dann denke ich darüber nach, was für einen spannenden Konflikt das gerade geben könnte.

Zitat von: Alia am 02. Januar 2021, 00:51:49
Kann es sein, dass du innere Konflikte meinst?
Komplexe Emotionen in diesem Sinne wären dann z.B.
"Ich liebe den größten Widersacher meines Vaters und weiß nicht, ob ich zu dem einen oder anderen halten soll, weil ich meinen Vater doch auch liebe."
"Meine beste Freundin heiratet. Ich glaube, dass der Bräutigam fremdgeht. Soll ich ihr das erzählen? Was wäre, wenn ich falsch liege?"
"Entweder fliegt das Gebäude in die Luft und 200 Leute sterben oder ich lasse ein Auto hochgehen. Leider sitzt meine Mutter drin."
Bei all diesen Konstellationen gibt es kein schwarz weiß und keine einfache Antwort. Es ist ein ganzer Blumenstrauß an Gefühlen, die man so leicht nicht sortiert bekommt.

Auf der einen Seite schon, ich denke, Konflikte spielen hier eine große Rolle. Auf der anderen Seite gab es in dem Buch, das ich gelesen habe, durchaus Konflikte. Es wurde nur wirklich schlecht damit umgegangen. Etwas Schlimmes passiert und die Hauptfigur hatte gemischte Emotionen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass zwar theoretisch ein Konflikt vorhanden war, aber nichts damit gemacht wurde. Am Ende sterben sehr viele Leute wegen der Hauptfigur und ich hatte das Gefühl, die Hauptfigur fühlt sich schlecht, weil sie sollte, nicht weil sie sich wirklich schlecht fühlt.

Zitat von: Alia am 02. Januar 2021, 00:51:49
Wie oben schon gesagt, sind m.E. bei den richtig komplexen Gefühlslagen innere Konflikte am Werk. Richtig spannend wird es doch erst, wenn der Prota sich irgendwann entscheiden muss. Das ist bei dem ganz großen inneren Konflikt und einem positiven Charakterarc dann der Punkt, wo er seine Wahrheit findet und das richtige tut.

Ich glaube, hier ist es auch wichtig, dass die Entscheidung eben nicht nur getroffen wird, weil das gerade das Richtige ist, sondern weil sich diese Figur hier so entscheiden würde. Und das kann durchaus sein, weil die Figur hier tun würde, was sie für das Richtige hält, aber ich muss als Leser nachvollziehen können, warum diese Figur hier so handeln würde, woran die Figur glaubt, welchen moralischen Kompass sie hat. Am Ende tut mein Protagonist das Richtige, aber wie ist er da hingekommen? Wann hat er das warum für sich entschieden?

Siara

Interessantes, aber wahnsinnig schwieriges Thema, schon allein, weil die Begriffe so schwammig sind, bzw. sind vermutlich jeder ein bisschen was anderes darunter vorstellt. Dein letzter Post, @Mondfräulein, hat mich aber auf die Idee gebracht, ob es vielleicht schlicht darum geht, glaubwürdige, konsistente Charaktere zu schaffen. Es ist beinahe egal, wie die Handlung aussieht: Wenn eine Figur auf eine bestimmte Weise darauf reagieren soll, um den Plot voranzubringen, braucht sie einen emotionalen Antrieb dafür. Und die Entscheidung, wie genau sie reagiert, hängt stark von diesem Antrieb ab. Für die meisten Reaktionen reichen einschichtige, sehr klare Emotionen nicht aus. Nur trifft eine Figur im Roman ja laufend Entscheidungen, und jede davon muss zu ihrem Charakter und ihrer emotionalen Verfassung passen. Dementsprechend muss dieses Gemisch an Gefühlen die ganze Zeit mehr oder weniger spürbar vorhanden sein.

Beispiel: Person A stellt fest, dass Person B sie hintergangen hat. Der Plot sieht vor, dass Person A Rache nimmt. Aber warum? Wut wäre natürlich verständlich, aber die hat ja wiederum einen Grund. Verletztes Vertrauen, verletzter Stolz, sich selbst wegen des Hereinfallens auf eine Lüge "dumm" zu fühlen, gleichzeitig die Trauer um die vielleicht gewesene Freundschaft/Liebe, ... An so einer "einfachen" Reaktion wie dem Wunsch nach Vergeltung hängt ein ganzer Rattenschwanz von emotionalen Gründen. Trotzdem ist "Wut" für die Reaktion völlig ausreichend und für den Leser vermutlich auch verständlich. Man nimmt es hin und liest weiter. Das Problem ist: Der Plot sieht vor, dass Person A am Ende Person B verzeiht, weil sie inzwischen die Gründe versteht, die Person B hatte. Und wenn man es in der Betrugssituation bei Wut und verletztem Vertrauen belassen hat, wirkt ein Verzeihen am Ende erzwungen - selbst wenn Person A dann "fühlt", dass sie noch etwas für Person B übrighat. Damit die Figur ihre Konsistenz behält und sich in beiden Momenten glaubwürdig verhält, muss der ganze Mischmach von Gefühlen von Anfang an da sein.

Meine Ideen schlagen letztendlich in dieselbe Kerbe wie die Gedanken von @Klecks und @Alia, die innere Konflikte bzw. schwarz-weiß-Denken erwähnt haben. Allerdings glaube ich nicht, dass der innere Konflikt der Figur immer bewusst sein muss, sondern dass er auch hintergründig ablaufen kann. Eine Herausforderung für den Autor sehe ich dabei besonders, weil die meisten personal schreiben. Und Die Figur selbst nimmt in dem Moment, in dem sie reagiert, bewusst vielleicht wirklich nur die stärkste, "simpel" scheinende Emotion wahr. (Im Beispiel: Wut) Dennoch muss der Leser merken, dass da latent noch eine ganze Menge mehr dahintersteckt - und das, ohne dass die darunterliegenden Emotionen überhand nehmen, denn gehandelt werden soll schließlich nach der "simplen" stärksten Emotion.

In so einem Roman stecken dann unzählige Situationen, auf die die Figur reagieren muss. Und damit sie dabei erstens nach Vorgaben des Plots handelt und zweitens in sich konsistent bleibt, braucht es meiner Meinung nach komplexe Emotionen. In Romanen, in denen der Autor das nicht berücksichtigt, kann man vielleicht in jeder einzelnen Szene nachvollziehen, warum die Figur tut, was sie tut. Aber als Ganzes wirkt die Figur dann nicht mehr konsistent oder authentisch.
I'm going to stand outside. So if anyone asks, I'm outstanding.

Annie

ZitatKomplexe Emotionen können meiner Meinung nach nur in einer komplexen Welt entstehen. In einer Welt, in der vorgegaukelt wird, alles wäre schwarzweiß, gibt es nur begrenzte Möglichkeiten. In einer Welt mit Grauzonen schaut es schon anders aus. Wobei ich aber (jetzt, nachdem ich meinen Kommentar fertiggeschrieben habe und ihn nochmal überfliege) komplexe Emotionen lieber durch komplexe Figuren ersetzen wollen würde. Emotionen machen eine Figur komplex, in meinen Augen gibt es keine komplexere Emotion als eine andere.
r durch Vielschichtigkeit bestechen.

Dem würde ich widersprechen. Meiner Meinung nach werden Gefühle nicht nur durch äußere Reize getriggert, sondern entstehen auch durch die eigenen Gedanken und die eigene Weltanschauung. In einer einfachen Schwarz/ Weiss Welt kann auch das Gefühl entstehen, dass dort etwas nicht stimmt und der Welt etwas fehlt. Dabei denke ich an Distopien, wo alles als perfekt und normal verkauft wird, ein Charakter sich aber dagegen auflehnt. Das geschieht nicht, weil er sich wohl und gut aufgehoben fühlt. Ich stimme dir aber zu, dass ein Thema auch zu der eigenen emotionalen Lage passen muss, damit man sich darauf einlassen kann :)


Zu deinen Fragen @Mondfräulein

Was ich bisher gelernt habe ist, dass jedes Gefühl seine Berechtigung hat. Häufig bewertet man Gefühle. Man fühlt sich gut, das ist gut. Man fühlt sich schlecht und das ist schlecht. Damit wertet man aber bestimmte Gefühle ab, wodurch ein gewisser Druck entsteht, nur die "guten" Gefühle empfinden zu wollen oder gar zu müssen.  Doch es gibt für jedes Gefühl einen Grund und das Gefühl so hinzunehmen hilft meistens auch, damit umzugehen. Natürlich möchte ich auch manche Gefühle loswerden, aber das hilft nicht. Ganz im Gegenteil. Dementsprechend darf man sich viele Gedanken über alles mögliche machen, es ist aber auch in Ordnung einfach mal "nur" wütend, traurig oder fröhlich zu sein. Und man darf sich auch mal berieseln lassen, wenn es das ist, was man gerade braucht. An einem anderen Tag ist einem dann vielleicht eher nach einem philosophischen Thema zumute.
Gefühle sind für mich aus diesem Grund dahingehend komplex, dass sie sich auch schnell und individuell ändern können und der Umgang mit ihnen manchmal nicht so einfach ist. Gerade innerliche Konflikte würde ich dazu zählen. Ich weiss nicht, ob ich eine einfache Welt als besser empfinden würde, aus dem Grund, dass es keine einfache Welt gibt und mir sowas auch als unrealistisch erschein. Gerade eben, weil die individuellen Empfindungen von Milliarden Menschen in sie einfließen. Und es ist gut, dass jeder seine eigenen Meinungen und Empfindungen hat. Eine einfache Welt wäre vielleicht leichter, aber wäre sie auch wertvoller? Ich rede hier nicht von Terror und Schrecken, der aus manchen schlechten Interessen entsteht, sondern von der Vielschichtigkeit der Gefühle selbst. Ob sie nun in einer Situation "einfach" oder "tiefgründig" sind.
Was die Weltanschauung und das Empfinden der Geschichte gegenüber betrifft würde ich sagen, dass deine Vermutung zutrifft. Jeder hat andere Meinungen und Ansichten. Manche können sich damit identifizieren, andere wie du z.B. aber vielleicht nicht. Das ist ja auch in Ordnung. Andererseits hat dieser Umgang mit den Gefühlen dir einen Denkanstoß gegeben und zu dieser Diskussion geführt. Hätte es dich kalt gelassen, dann hättest du es vermutlich einfach zur Seite gelegt. Letztendlich hat das Buch in dir das Gefühl ausgelöst, dass dir diese Weltansicht nicht reicht und du dem gefühltechnisch anders entgegenstehst :)

Nikki

ZitatDem würde ich widersprechen. Meiner Meinung nach werden Gefühle nicht nur durch äußere Reize getriggert, sondern entstehen auch durch die eigenen Gedanken und die eigene Weltanschauung. In einer einfachen Schwarz/ Weiss Welt kann auch das Gefühl entstehen, dass dort etwas nicht stimmt und der Welt etwas fehlt. Dabei denke ich an Distopien, wo alles als perfekt und normal verkauft wird, ein Charakter sich aber dagegen auflehnt. Das geschieht nicht, weil er sich wohl und gut aufgehoben fühlt.

Da habe ich mich wohl zu kurzgefasst ausgedrückt. Mit Welt meinte ich in meinem ursprünglichen Text den Weltenbau eines Buches oder schlichtweg das Buch selbst. Ich habe das Beispiel der Märchen gebracht, in denen ganz klar ersichtlich ist, welche Elemente gut/böse erfüllen, dementsprechend eindimensional sind dann auch die Figuren, die in dieser Welt agieren. Du hast die Aussage wahrscheinlich auf dich als Person oder genell auf Menschen bezogen, ich habe sie allein in dem Rahmen der Textgattung gedacht. In Märchen ist eine Innenansicht der Figuren bspw. ziemlich selten (und ich meine jetzt nicht Neuinterpretationen, sondern gattungstypische von Grimm, Anderson etc.), d.h. es bleibt nur die schematische Außenansicht der Figuren in einer schematischen Welt.

Eine Dystopie, die zwar vordergründig nach der Prämisse gut/böse funktioniert, muss nicht so "seicht" sein, wie sie auf den ersten Blick wirkt, wodurch es möglich ist, komplexere Figuren mit einer komplexeren Innenwelt darin zu entwerfen. Meine Leseerfahrung hat mir gezeigt, dass ein komplexes Weltbild von Werten und Moralität (nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem komplexen Weltenbau mit zig Gesellschaftssystemen) komplexe Figuren zulässt, ein schematisches Weltbild aber eher nur Figuren nach Schema F zulässt.

Aber ja, generell, werde ich mit der Fragestellung oder auch der Definition von komplex in Verbindung mit Emotion nicht warm, weil da eine Wertung drinnen ist, die von außen kommt, aber nicht von den Emotionen selbst erwächst, meinem Empfinden nach.

Annie

Ah ok, ja dann habe ich das anders aufgefasst, als du das meintest. Stimmt schon. Im Bereich schreiben ist es häufig so, dass die Charaktere ihrem Kontext entsprechend handeln. Was ja auch Sinn macht. Wobei ich auch der Meinung bin, dass man reale und komplexe (da haben wir das Wort wieder) Aspekte auch in eine "einfachere" Welt einbinden kann. Man muss es dann nur gut erklären und der Charakter muss dementsprechend komplex bzw. vielschichtig sein. Das Gute beim Schreiben ist ja, dass man sich da auch komplett frei ausprobieren kann. Jedenfalls denke ich nicht, dass den Emotionen da Grenzen gesetzt sind. Ich denke Figuren können auch aus dem Schema ausbrechen. Generell finde ich, dass man auch die Art und Weise wie Menschen im echten Leben denken und wie unvorhersehbar sie sein können, gut einbinden kann. Wenn es nicht passt, wird sich das dann beim Schreiben zeigen.  Manchmal merke ich beim schreiben, dass eine gewisse Emotion Reaktion nicht ganz passt und schaue dann, wie ich es besser beschreiben kann, aber das ist dann auch ein Stück weit "try and error", was der Geschichte neben dem Plot Dynamik verleiht. Aber das ist natürlich auch nur meine Empfindung :)

heroine

Persönlich mag ich ein reiches Innenleben von Charakteren und ich finde auch Charaktere spannend, die zwar ein emotionsreiches Innenleben haben, es aber nicht zeigen, was es je nach Perspektive auch schwierig macht.

Was gehört für mich zu komplexen Emotionen: Wie bereits geschrieben, der innere Konflikt. Wenn zwei Gefühle miteinander streiten. Beispielsweise, die Wut/das verletzte Ego über den Vertrauensbruch und gleichzeitig die Zuneigung und das Verständnis. Was allerdings für mich auch dazu gehört: "unpassende" Gefühle. Der Love Interest des Protas macht Schluss. Anstatt traurig, frustriert, wütend zu sein, ist Erleichterung das Hauptgefühl. Ich glaube was für mich Texte zu emotional einfach macht sind gewisse Standardformeln:
Aktion A => Gefühl A
(Beispiel: Jemand bekommt ein Geschenk, er oder sie freut sich).
Aktion B => Gefühl B
(Beispiel: Jemand wird beleidigt, er ärgert sich).
Handlung Stärke 2 => Gefühl Stärke 2
(Beispiel: Ein Freund bekommt eine Ohrfeige: Man ärgert sich leicht).
Handlung Stärke 10 => Gefühl Stärke 10
(Beispiel: Ein Freund wird umgebracht: Man sinnt auf Rache).
Für mich wird es sehr viel interessanter, wenn beispielsweise eine Kleinigkeit ein starkes Gefühl triggert und vielleicht noch gar nicht so klar ist, warum überhaupt. Die Freundin bringt ein Stück Schokoladenkuchen mit und der Protagonist bekommt einen totalen Wutausbruch. Ja ich weiß, meine Beispiele hinken gerade ein bisschen, ich versuche es trotzdem. Was ich ausdrücken möchte ist: Viele Gefühle sind für mich zu logisch, zu sehr nach einem Schema. Es wird zu sehr begründet, warum der Charakter jetzt dies oder jenes fühlt, oder es wird zu sehr analysiert und auf zu wenig Variablen reduziert. Klar, kann man irgendwann dahinterkommen, was nun der eigentliche Grund ist, so dass es nachvollziehbar für den Leser wird. Beispielsweise bei dem Kuchenbeispiel. Der Protagonist, hat einen Hund, mit dem er wegen Schokolade schon mal zum Tierarzt musste und hat seitdem alle Schokolade aus dem Haushalt gehalten. Oder ein Onkel hat gerade Diabetes entwickelt. Oder er selber ist auf einer Diät. Oder er wollte die Freundin gerade selbst mit genau diesem Kuchen überraschen.
Gleichzeitig ist es natürlich eine Gradwanderung, daraus keine total inkonsistenten Charaktere zu machen, welche total willkürlich auf äußere Anreize vollkommen überzogen reagieren. Darum geht es mir auch nicht. Ein Grund sollte da sein und er sollte nachvollziehbar sein. Er muss aber nicht sofort thematisiert werden und es sollte bitte nicht für alle Charaktere immer die gleiche emotionale Reaktion sein. Das ermöglicht dann aber auch deutlich, die Entwicklung eines Charakters darzustellen. Z.B. wenn etwas am Anfang der Geschichte noch Wut auslöst und gegen Ende, dann nur noch ein müdes Lächeln, respektive Resignation.
Darüber hinaus, finde ich es auch ganz interessant, wenn nicht nur von großen Grundgefühlen ausgegangen wird, unter anderen Trauer, Liebe, Wut, Hass und Freude. Ich genieße es auch mal von feineren Abstufungen zu lesen und Gefühle dargestellt zu bekommen, die vielleicht nicht ständig präsent sind: Melancholie, Nostalgie, Fernweh, das Gefühl in einem Moment etwas unbedingt tun zu wollen.
Bei inneren Reflektionen vermisse ich manchmal den Zustand des Nichtwissens. Warum genau habe ich (in dem Fall der Charakter) gerade dieses Gefühl? Warum fühle ich mich so? Wenn, dann wird es sehr oft bei Liebesdingen verwendet, bei der ersten Liebe, wenn Verliebtsein noch nicht vertraut ist. Aber was ist in Momenten, in denen man gerade etwas Tolles erreicht hat? Warum fühlt man sich leer oder traurig? Warum ist man auf einmal so wütend und frustriert obwohl der Tag genau gleich war wie die Tage davor? Warum ist man enttäuscht, wenn alles nach Plan gelaufen ist? Warum fühlt man keine Freude, obwohl der Sieg errungen wurde? Ich will nicht behaupten, dass das bei allen der Fall ist. Es gibt wahrscheinlich Millionen Autoren, die das hervorragend machen und auch die Ambivalenz sehr gut einbauen.
Ich denke, was man selber machen kann ist die eigenen Charaktere mit Hintergrund zu bestücken. Je mehr man über sie weiß, je mehr man über ihre geheimen Freuden und ihre kleinen emotionalen Verletzungen weiß, desto eher kommt das ins Spiel. Als Schreibübung würden sich diesbezüglich wahrscheinlich kleine Episoden eignen. Was hat er gemacht als er vorfreudig war und worauf hat er sich gefreut? Wie war der letzte richtig beschissene Tag, an dem eigentlich nichts Schlimmes passiert ist? Wie hat es jemand anderes geschafft, die Protagonistin aus einem emotionalen Tief (ob klein oder groß) wieder raus zu holen? Was macht die Protagonistin um sich besser zu fühlen?

Annie

Das ist tatsächlich ein interessanter Aspekt! Oft steckt hinter einem Gefühl, das zunächst offensichtlich scheint, auch etwas ganz anderes. Z.B. der Protagonist bekommt einen Wutausbruch fühlt sich aber innerlich verletzlich, verzweifelt oder ähnliches. Oft treten auch zwei Gefühle gleichzeitig und in Abhängigkeit voneinander auf z.B. Wut und Trauer oder Frust und Ehrgeiz. Manchmal wird ein Gefühl auch von einem anderen überdeckt, um das erste zu verdrängen. Beispielsweise auch bei Trauer.

Mondfräulein

@heroine Du bringst sehr genau auf den Punkt, was da passiert ist, ohne dass es mir bewusst war! Zum einen die Variablen. Ich hatte das Gefühl, dass das Buch die Gefühle der Protagonistin auf zu wenige sehr einfache Variablen heruntergebrochen hat. Ein Ereignis führt dazu, dass sie sich so oder so fühlt. Aber wie du schon beschreibst werden Gefühle von viel mehr Dingen beeinflusst. Zum anderen auch die "unpassenden" Gefühle. Ein Ereignis wird bei unterschiedlichen Personen aus unterschiedlichen Gründen unterschiedliche Gefühle auslösen. Das charakterisiert die Figuren.

Zwischen dem Auslöser und dem Gefühl stehen nochmal eine ganze Menge Dinge, die das Gefühl komplex machen. Vorher vorhandene Gefühle. Der Kontext der Gesamtsituation. Erinnerungen. Die Persönlichkeit der Figur. Ihre Erwartungen. Als Leser will ich nicht "A passiert, da fühlt man sich so, also fühlt sich die Protagonistin so" sondern "A passiert, Protagonistin fühlt sich deshalb so und so, es gibt diese spezifischen Gründe, warum sie hier so reagiert". Menschen fühlen manchmal auch viele Dinge gleichzeitig und müssen lernen, mit dem Konflikt umzugehen. Es gibt nicht einen richtigen Weg, auf etwas zu reagieren, so sollte ich das auch nicht darstellen.

Felix Fabulus

Für mich wirken Emotionen flach, wenn sie "erzählt" werden, anstatt sie zu "zeigen". Wenn ich sehe, wie ein*e Protagonist*in auf etwas reagiert, zieht mich das mehr rein und dann kann auch eine oberflächlich einfache Emotion wie Schadenfreude der Figur Tiefe verleihen.

Und Nuancen machen es aus: Es gibt tausend Arten von Freude, und tausend Arten, diese Freude auszudrücken.
Wortwebereien aus der Geschichtenmühle, gespeist vom Ideensee, der Fantasie und dem Bächlein Irrsinn.