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Starke/schwache Figuren

Begonnen von Melenis, 10. Juli 2013, 12:33:31

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canis lupus niger

#30
Eine der fanzinierendsten weiblichen Romanfiguren war für mich immer Modesty Blaise aus dieser 70er-Jahre Action-Reihe. Keine Ahnung, ob die außer mir noch jemand kennt. Sie war sehr schön, liebenswürdig und gebildet, schlief mit den Männern, die ihr gefielen, aber nicht mit ihrem besten Freund und Arbeitspartner, war eine sehr gute Spionin, Strategin und Nahkämpferin. Nach einer harten (Waisen-)Kindheit im Orient, vermutlich auch mit mehrfachen Vergewaltigungen, baute sie nach und nach ein eigenes kriminelles Netz auf. Später gab sie die Kriminalität aber auf und arbeitete eher als eine Art Privatagentin, z.T. auch für den britischen Geheimdienst. Als Teenager fand ich sie einfach klasse, und als ich neulich ein Buch von ihr auf dem Flohmarkt entdeckt hatte, musste ich direkt zuschlagen. Von dieser Gestalt können sich viele heutige Romanheldinnen, finde ich, eine Scheibe abschneiden.

Und auch ich bin der Meinung: Eine starke Figur muss nicht immer ein tougher Held sein. Der Zauberer Rincewind ist nach allgemeiner Meinung (seine eigene ist davon nicht ausgenommen!) ein Feigling und Versager. Und trotzdem spielt er in vielen Scheibenweltromanen die anderen Charaktere an die Wand. Natürlich ist er trotzdem der Hauptcharakter dieser Geschichten, aber eben kein Siegertyp. Er bekommt nie das, was er will, und er rechnet auch nicht damit.

heroine

Klar Modesty Blaise, wer kennt sie nicht. Ich hab die Bücher verschlungen.

Also zur eigentlichen Frage. Stärke ergibt sich für mich meistens aus Selbstbewusstsein und Selbstwert. Seinen Platz in der Welt gefunden haben und dazu stehen. Das kann genauso die Frau sein, die alle Klischees erfüllt (in ihrer Welt, sei es die Amazone, die ganz ihrer Kultur eben kämpft, sei es die Hausfrau und Mutter, die in einer patriarchalen Gesellschaft lebt) als auch die Frau, die sich bewusst einen Weg gegen ihre Kultur gesucht hat (die Atheistin in einer religiösen Welt oder die Femme Fatale in einer eher moralischen Welt). Wichtig ist ein in sich stimmiges Bild der Persönlichkeit. (Also es geht in die Richtung, die Dämmerungshexe auch schon angesprochen hat.)

Einer Frau eine Waffe in die Hand zu drücken, macht sie nicht automatisch zu einer starken Person, vor allem wenn sie damit nur bemüht ist den Erwartungen von Eltern, Freunden, Ausbildern oder Gesellschaft gerecht zu werden. Wobei hier auch immer eine Balance gefunden werden muss. Nur weil jemand weiß wer er ist und welchen "Platz" er in der Welt hat oder anstrebt, bedeutet das noch lange nicht, dass die Person nicht anderweitige Schwächen und Komplexe hat. Genauso wenig wie jemand der von außen getrieben wird, sich nicht auch über ein paar Eigenheiten sicher sein kann.

Moral, Güte, Mitgefühl und dergleichen machen für mich auch nicht die Stärke eines Charakters aus. Es gibt auch starke Charaktere, die frei davon sind. Die neigen dann natürlich zum Fanatismus und zur Ignoranz, aber das ist nicht weiter schlimm, es gehört zu ihrem Profil.

Anders als Grey kann ich mir aber auch Passivität mit Stärke in Einklang bringen, wenn ich mir z.B. einen buddhistischen Mönch / eine buddhistische Nonne anschaue. Genauso wenig glaube ich, dass starke Personen immer gegen den Strom gehen müssen und Rebellion ihr vorgefertigter Weg ist. Es hängt eben immer davon ab wie ein Charakter sich einfügt oder wie er rebelliert.

Schwäche ist demnach für mich getrieben, manipuliert und im Ungleichgewicht sein. Das getrieben mag sich jetzt möglicherweise mit dem Fanatismus überschneiden, aber genau das ist ja auch der Punkt, dass es keine rein Starke und keine reinen Schwächlinge gibt. Charaktere, die nicht selbst entscheiden, die nicht eigenständig denken oder immer nur protestieren und widersprechen wollen. Schwache Charaktere gehören dazu und ich finde es auch sehr wichtig, das menschliche an ihnen zu vermitteln. Es geht bei ihnen nicht darum einen Deppen zu haben, der immer alles falsch macht, jemanden den der Held beschützen soll und muss oder um irgendwelche Katastrophen von ihm auslösen zu lassen, damit der Plot voran kommt. Schwache Charaktere bringen tiefe in das Zusammenspiel der Persönlichkeiten. Wie reagiert der Starke auf ihn? Verursacht er etwas beim Schwächeren (vielleicht sogar nur zeitweilig)? Das sind beispielsweise sehr interessante Fragen für mich.

Issun

Die Trennlinie zwischen "schwach" und "stark" ist für mich sehr unscharf. Eine Figur mit sehr starkem und selbstbewusstem Auftreten kann ja auch gravierende Schwächen haben, etwa Selbsthass, Ängste, Süchte und vieles mehr. Umgekehrt ruhen manche Figuren, die sehr zurückhaltend wirken, vielleicht mehr in sich selbst als man ihnen zutrauen würde.

Ich habe oft gelesen, und bis zu einem gewissen Grad entspricht es meiner eigenen Überzeugung, dass Protagonisten in den Belangen, die ihnen wichtig sind, selbst aktiv werden müssen, um sich als Protagonisten zu qualifizieren. Diese erhöhte Aktivität trägt für mich auch dazu bei, eine Figur stark wirken zu lassen, weil sie Dinge nicht einfach mit sich geschehen lässt, sondern sich wehrt oder Einfluss auf die Geschehnisse zu gewinnen versucht. Das hängt auch mit Selbstbestimmung zusammen, denn wenn der Protagonist alles vorgeschrieben bekommt, steht es wieder nicht besonders gut um seine Rolle als aktiv handelnder Protagonist.

Stärke liegt für mich auch darin, sich von Fehlern, Misserfolgen und Hindernissen nicht so sehr einschüchtern zu lassen, dass man lieber gar nicht mehr handelt. Auch eine starke Figur kann verzweifeln, während sie auf ein Ziel zuarbeitet, aber das Entscheidende ist, dass sie trotz allem darauf hinarbeitet.

Ich finde es leichter, bei Figuren Stärke zu entdecken als wirkliche Schwäche, weil ich mir gar nicht sicher bin, woran die sich festmachen lässt, und ob eine Figur, die oben genannte Merkmale nicht besitzt, automatisch eine schwache Figur ist. Ich kenne auch Protagonisten, die am Ende aufgeben - deswegen wirken diese Figuren auf mich während des Lesens noch lange nicht schwach. Und selbstbestimmt ist keiner zur Gänze, alle Figuren werden mal gezwungen sein, etwas zu tun, durch äußere Umstände oder andere Figuren. Ein Charakter, der von anderen herumkommandiert wird, kann auch interessant sein. Vielleicht tut er es aus Ehr- oder Pflichtgefühl? Vielleicht muss er sich selbst und andere schützen?

Außerdem sollte man nicht unterschätzen, wie einflussreich Figuren sein können, die auf den ersten Blick schwach wirken. Es wäre doch denkbar, dass eine Figur ihre Schwäche, welcher Art sie auch immer ist, betont, um andere an sich zu binden oder dem eigenen Willen zu unterwerfen? Die Figur besäße dann eine Stärke eigener Art und wäre außerdem in moralischer Hinsicht fragwürdig, was sie zu einem interessanten Element in der Geschichte machen könnte. Aber das ist wieder Geschmackssache.

Bei meinen eigenen Figuren fällt mir die Trennung nicht leicht. Ich habe einen Protagonisten, der stark wirken soll. Deshalb ist er es aber noch lange nicht, zumindest nicht vollkommen. Seine Abhängigkeiten und Ängste bestimmen die Geschichte genauso wie seine Fähigkeiten. Ich finde es ja ziemlich faszinierend, Figuren mit ihren Schwächen kämpfen zu lassen und zu sehen, ob sie am Ende gewinnen oder verlieren. Aber eine eindeutige Zuteilung, ob ein Charakter schwach oder stark ist, ist bei mir selten möglich.

Guddy

Zitat von: Issun am 14. April 2014, 17:13:24


Ich habe oft gelesen, und bis zu einem gewissen Grad entspricht es meiner eigenen Überzeugung, dass Protagonisten in den Belangen, die ihnen wichtig sind, selbst aktiv werden müssen, um sich als Protagonisten zu qualifizieren. Diese erhöhte Aktivität trägt für mich auch dazu bei, eine Figur stark wirken zu lassen, weil sie Dinge nicht einfach mit sich geschehen lässt, sondern sich wehrt oder Einfluss auf die Geschehnisse zu gewinnen versucht. Das hängt auch mit Selbstbestimmung zusammen, denn wenn der Protagonist alles vorgeschrieben bekommt, steht es wieder nicht besonders gut um seine Rolle als aktiv handelnder Protagonist.

Ja, das ist etwas, das ich beim Plotten wirklich gemerkt haben. Mein Charakter war zu fremdbestimmt, was so nicht zu der Stärke, die er mEn besitzt und seinem "Status" als Protagonist passt. Es war mir wirklich ein massiver Dorn im Auge. Ich hoffe nur, dass das zur allseitigen Zufriedenheit wieder zurecht geplottet werden kann!

Prinzipiell finde ich schwache Figuren aber nicht schlecht und es gibt auch durchaus Figuren, die trotz starker Momente schwach bleiben. Einer meiner Lieblingsprotas ist ziemlich schwach, ich liebe sie ;D

AlpakaAlex

Das ganze erinnert mich an einen Essay, den ich vor nun über zwei Jahren mal für meinen Weblog geschrieben habe: Starke Frauen bringen uns auch nicht weiter. Der geht ein wenig auf die Problematik mit den starken Frauen ein, die halt immer wieder vorkommt. Es wird halt immer eine Art von weiblichen Charakter, die gerne als stark verkauft wird. Und das sind eben diese übermäßig selbstbewussten Frauen, die komplett unabhängig sind und natürlich ordentlich draufhauen können. Außerdem weibliche Charaktere, die halt sehr viele männliche Eigenschaften zeigen, was ein Problem ist.

Zugegebenermaßen: Ich mag weibliche Charaktere, die badass sind und ordentlich zuhauen können. Ich mag auch muskulöse und kurzhaarige Frauen. Das finde das einfach sehr ansprechend und würde gerne mehr Charaktere der Art sehen. Allerdings heißt das nicht, dass diese Figuren auch all das andere sein müssen.

Das größte Problem mit Starken Frauen™ ist ja auch, dass sie gerne Nicht wie die anderen Frauen sind. Das ist eben ein Problem, weil es zum einen diesen mystischen Monolith der "anderen Frauen" aufbaut, zum anderen, weil eben diese "anderen Frauen" abgewertet werden. Anders gesagt: Weiblichkeit wird damit abgewertet. Und das ist eben problematisch.

In meinen Augen sollten alle starken Charaktere sowohl Eigenschaften haben, die in unserer binären, cisnormativen Gesellschaft als "weiblich" gelesen werden, als auch eben Eigenschaften, die als "männlich" gelesen werden. Das sollte einfach bei Figuren dazu gehören und auch dazu gehören, eine abgerundete Figur zu schaffen.

Übrigens finde ich es auch sehr stark, Schwäche zu zeigen. In meiner Webserie Mosaik ist es letzten Endes die Hauptentwicklung der Protagonistin, dass sie lernt sich Schwäche einzugestehen und Hilfe von anderen anzunehmen. Das ist eben auch ein Aspekt, der zur Stärke gehört, finde ich.
 

Exlibris

Ja! Ich liebe dieses Thema! ;D *räuspert sich*

Zitat von: AlpakaAlex am 30. August 2021, 18:04:01

Übrigens finde ich es auch sehr stark, Schwäche zu zeigen. In meiner Webserie Mosaik ist es letzten Endes die Hauptentwicklung der Protagonistin, dass sie lernt sich Schwäche einzugestehen und Hilfe von anderen anzunehmen. Das ist eben auch ein Aspekt, der zur Stärke gehört, finde ich.

"Stärke" bedingt Schwäche. Wenn eine Hauptfigur in der Exposition "schwach" ist, fühlt es sich für die Rezipienten umso zufriedenstellender an, wenn er/sie am Ende nach der Entwicklung zu wahrer "Stärke" gefunden hat. Ein Charakter muss aber IRGENDWANN in der Geschichte "schwach" sein und das ist am Anfang deutlich besser als am Ende (zumindest, wenn man den Charakter eigentlich als "stark" etabliert haben will).

Das erinnert mich an eine Passage aus den "Bekenntnissen" des Augustinus. Unser Lieblingskirchenvater beklagt darin, dass die Wandlung eines einst sündigen Menschen zu einem vorbildlichen Individuum im Betrachter mehr Zufriedenheit und Bewunderung hervorruft als wenn jemand immer schon vorbildlich war. Kennen wir das nicht auch aus Liebesromanen? Der nette Kindheitsfreund ist in der Regel nie der Interessante, es ist immer der Badboy, der sich im Verlauf der Handlung zu einem romantischen Geliebten entwickelt.

Unterm Strich heißt das: Will man einen Aspekt eines Charakters unterstreichen, muss man diesen Aspekt als etwas hart Erkämpftes darstellen, dass sich erst nach einer Heldenreise entwickelte. Dazu gehört auch "Stärke".

@AlpakaAlex Eine Webserie? Wie, wo, was? :o
"Turning history into avantgarde"
- Krzysztof Penderecki